# taz.de -- Liebling der Kunstszene New Yorks: Kleine Mädchen auf der Weide
       
       > Paul Chan spielt mit den Mythen des Abendlands wie mit Produkten der
       > Unterhaltungsindustrie. Seine Werke sind im Schaulager Basel zu sehen.
       
 (IMG) Bild: Fette Bürger geben sich dem Hedonismus hin: Paul Chan, Sade for Sade's sake, 2009, digitale 3-Kanal-Videoprojektion.
       
       Gäbe es im Kunstbereich das Thrillergenre, so gehörte der Kosmos von Paul
       Chan dazu. Diesen Eindruck gewinnt, wer die aktuelle Ausstellung des
       Amerikaners im Schaulager Basel durchstreift. Doch entpuppen sich die
       Horrorgeschichten als Fantasy für ein intellektuelles Kunstpublikum.
       
       Der Anschlag vom 11. September 2001 auf die Türme des World-Trade-Centers
       hat die New Yorker Kulturszene aufgeschreckt. Chan beantwortet das Desaster
       damit, den Imperialismus der Bush-Regierung ins Visier zu nehmen und die
       Frage zu stellen: „Wie sollen wir leben?“
       
       Aufsehen erregte der Künstler erstmals, als er 2002 mit einer
       Antikriegsorganisation in den Irak reiste, um gegen die kurz bevorstehende
       Invasion der USA zu protestieren. Sonst weiß man wenig über den 1973 in
       Hongkong geborenen, aber in Nebraska aufgewachsenen Amerikaner. In einem
       Interview erwähnte Chan ein Studium, experimenteller Film und Video, eine
       seiner Reden hielt er als Absolvent der School of the Art Institute
       Chicago.
       
       Lieber noch als ein politischer Aktivist tritt er als Intellektueller auf.
       Seine Werke basieren auf ungezählten Anspielungen aus Philosophie und
       Literatur. Die Mythen des Abendlands dienen ihm wie die Produkte der
       Unterhaltungsindustrie als Zitatenschatz. Von der Bibel über die Odyssee
       bis zu Super Mario, alles wird genutzt und umgewertet, um zu zeigen, dass
       nichts mehr unkommentiert Bestand hat.
       
       ## Tote Kreisläufe, die nichts mehr zeigen
       
       ## 
       
       Diese Totalkritik ist schwer auszuhalten. In seinen neuesten
       Objektinstallationen, den „Non-Projections“, verbindet Chan Beamer mit
       Stromkabeln und Steckdosen. Es wird aber gar nichts projiziert, und woher
       der Strom kommt, ist auch fraglich. Tote Kreisläufe, die nichts mehr
       zeigen.
       
       Ja, wir stecken fest in der westlich tradierten Sicht der Dinge. Unsere
       Gedanken sind nichts anderes als die Projektionen auf jener Höhlenwand, von
       der Platon Sokrates sprechen ließ, und gemeinerweise hat einer auf der
       Erde, im Reich der geistigen Erleuchtung, nun auch noch das Licht
       ausgeknipst. „Play Doh“ (Platon) heißt eines dieser Werke, ein anderes
       „Sock N Tease“ (Sokrates).
       
       Die Idee, Netzwerke oder Gesellschaften anhand von Kabeln und Steckdosen
       darzustellen, geht auf die Werkgruppe der „Arguments“ zurück. Gebrauchte
       Schuhe von Frauen, Männern und Kindern stehen für Individuen, die durch
       Kabel miteinander verbunden sind. Eine ungeheure Ödnis geht von diesem
       Kabelsalat aus. Im Zweifel ist dies so gewollt.
       
       ## Ein Wolf, der den Mond anheult
       
       Chan provoziert gern. Der Künstler, der sich vor einigen Jahren noch mit
       Brille im Kord-Jackett präsentierte, absolvierte im Schaulager Basel das
       Künstlergespräch mit Hipster-Frisur in einem ärmellosen T-Shirt, das er an
       diesem Tag sicher nicht zufällig aus dem Koffer gezogen hat: Das Motiv auf
       der Brust zeigte Wölfe, die den Mond anheulen.
       
       Dunkel ist es auf dem Planeten, die Aufklärung, das Licht, hat ausgedient.
       Fette Bürger geben sich dem Hedonismus, der geistlosen Lustbefriedigung
       hin, symbolisiert durch ein pornografisches Scherenschnitttheater. „Sade
       for Sade’s Sake“ heißt die Videoanimation, die 2009 auf der Biennale von
       Venedig zu sehen war.
       
       Schon in seiner Arbeit „Happiness“, die er vor seiner Irakreise begonnen
       hatte, diente Sex Chan als Bild für eine Vorstellung allgemeiner
       Glückseligkeit. Die hatte Ende des 18. Jahrhunderts der Franzose Charles
       Fourier vertreten. Chan schloss dessen libertinäre Sozialutopie mit den
       bildnerischen Visionen des „Outsider-Artists“ Henry Drager kurz. Kleine
       Mädchen, mal mit weiblichen, mal männlich Geschlechtsteilen ausgestattet,
       weiden in seiner Animation im frühen Computerspiellook wie Kühe auf Wiesen,
       kopulieren und defäkieren und werden am Ende von Soldaten und Anzugträgern
       erbarmungslos niedergemetzelt.
       
       ## Der Künstler als Autor
       
       Sympathisch wird Chan erst, wenn man seine Texte liest. Eine Auswahl hat
       das Schaulager aus Anlass der Ausstellung publiziert. Darin spricht der
       Künstler von eigenen Erlebnissen, die er zwar wie gewohnt mit seinen
       Lektüren verschränkt, doch bleibt er bei einem authentischen Ton, der den
       Leser – trotz ausufernder Analysen zur wirtschaftlichen Lage der USA – bei
       der Stange hält.
       
       Chan scheint nicht unterscheiden zu wollen zwischen dem Autor und dem
       Künstler. Für ihn ist alles eins: Zeichnungen benutzt er als Fußnoten,
       Texte werden zu Kunst.
       
       Zu seinen besten Werken gehören die „fonts“, das sind konzeptuelle
       Arbeiten, Schriften, die er aus der Umcodierung des Alphabets gewinnt. In
       „Oh Monica“ steht „yes“ für das a, „like this“ für das b, keine Frage, es
       geht um Monica Lewinsky, die von Präsident Clinton missbrauchte
       Praktikantin. In „Politics to come“ ist jeder Buchstabe mit „blah“
       gleichgesetzt, spätestens jetzt wird klar: Politik ist – wie Wirtschaft,
       Dichtung, Naturwissenschaft – nur ein weiterer Bereich, den Chan in seinem
       nahezu grenzenlosen Werk verarbeitet.
       
       Ohne Sprache, aber auch ohne Buch kann Chan nicht sein. Seine Hassliebe zu
       den Kompendien des Wissens drückt sich plakativ in dem monumentalen Werk
       „Volumes“ aus. Über zwei riesige Wände zieht sich die Installation von
       1.005 Bucheinbänden, die er auf Holzplatten geklebt und mit Malereien in
       Grautönen beklebt hat.
       
       ## Den Inhalt weggeworfen
       
       Die Seiten, den Inhalt, hat er weggeworfen. Die oftmals noch lesbaren Titel
       auf den Buchrücken ergeben eine schrille Collage unserer Kultur: „A Boy
       named Giotto“ hängt neben „History of Russia“ und „Organisation Development
       in Schools“.
       
       Das Buch ist Chans eigentliche Bühne. Mit Freunden gründete er 2010 den
       E-Book-Verlag [1][badlands], in dem er – neben vielen eigenen Bänden –
       Texte von Saddam Hussein über Demokratie veröffentlichte, Gedichte der
       Tanzkünstlerin Yvonne Rainer oder die Duchamp-Interviews von Calvin
       Tomkins. Der Verlag publiziert im „expanded field“, also in einem
       erweiterten Kontext.
       
       Schaut man sich das Programm genauer an, wirkt die XXL-Ausstellung in Basel
       mit ihren provozierenden Animationen wie Episoden in Paul Chans
       Gutenberg-Galaxis. Aber sie hat klargemacht, dass hinter der
       Universalbegabung ein Autor steckt, und zwar ein ziemlich guter.
       
       26 May 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://badlandsunlimited.org
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carmela Thiele
       
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