# taz.de -- Ausstellung im ZKM Karlsruhe: Die absolute Gegenwart
       
       > Lynn Hershman Leesons erste deutsche Retrospektive zeigt eine bedeutende
       > Pionierin der Medienkunst. Und eine kluge Feministin.
       
 (IMG) Bild: Lynn Hershman Leeson, Hand Syringe after Michaelangelo, 2014. Digitaldruck.
       
       Ein tragischer Unfall? Die Nase für immer verloren? Kein Problem:
       Bioprinttechnologien zaubern das gewünschte Modell aus dem 3-D-Drucker. Ein
       Beispiel einer aus Biomaterial rekonstruierten Nase schimmert wie die
       Kronjuwelen im Spotlight. „The Infinity Engine“, die
       Unendlichkeitsmaschine, heißt eines der neuesten Werke der Medienkünstlerin
       Lynn Hershman Leeson.
       
       Zu der begehbaren Installation gehören außerdem genmanipulierte,
       phosphoreszierende Fische, die es in den USA in jeder Tierhandlung zu
       kaufen gibt. Wer da wieder raus ist, fragt sich, ob das die Zukunft war.
       Aber nein, es ist die Gegenwart.
       
       „The Infinity Engine“ ist das Herzstück der weltweit ersten Retrospektive
       von Lynn Hershman Leeson im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM)
       Karlsruhe. Sie packt uns an einer wunden Stelle. Auf die Frage, was nach
       dem Hype der Social Media und dem Ausverkauf unserer Daten komme, nennt sie
       die Gentechnologie. Diese Dinge würden wirklich unser Leben verändern.
       
       Die amerikanische Künstlerin reagiert seit fünfzig Jahren wie ein
       Seismograf auf die Abgründe der technisierten Gesellschaft. Eine Frau, noch
       dazu eine Feministin, die sich mit Neuen Technologien befasst! Dabei sind
       alle ihre Werke durchdrungen von einer existenziellen Energie, die im
       Hintergrund immer einen verletzlichen Menschen erahnen lässt.
       
       ## In der Gegenwart leben
       
       Ihr Fazit: „Ich versuche in der Gegenwart zu leben, weil die meisten Leute
       in der Vergangenheit leben. Wenn du in der Gegenwart lebst, denken die
       Leute, du lebst in der Zukunft, weil sie nicht wissen, was in ihrer Zeit
       passiert.“
       
       Lynn Hershman Lesson, 73, ist die wohl einflussreichste Pionierin der
       Medienkunst, außerdem Filmemacherin und Professorin, preisgekrönt, sie lebt
       in San Francisco und New York. In ihren interaktiven Arbeiten verwendete
       sie erstmals Laserdisc, Touchscreen, später dann Rechner oder das Internet.
       Sie schuf Cyborgs, die in der Lage sind, mit Menschen in Kommunikation zu
       treten. „Hello, who are you?“, begrüßt uns Agent Ruby jenseits der
       Monitorscheibe.
       
       Die neuen Technologien hätten keine Geschichte gehabt, begründet sie ihre
       außergewöhnliche Materialwahl. In der Kunstwelt stehe man immer im
       Wettbewerb mit alten Dingen. Kurze, aber klare Aussage. Selbst Peter
       Weibel, Chef des ZKM, wirft sich ihr verbal zu Füßen: „Ich verdanke dir
       wichtige Impulse meiner eigenen Karriere“, bekennt er. Beide sitzen während
       des Interviews in großer Eintracht auf einem Sofa, als gehörten sie zum
       Inventar der Ausstellung.
       
       Lynn Hershman Leeson trägt noch immer die dunklen Locken, die in den 1970er
       Jahren zu ihrem Markenzeichen wurden. Das Haar verschattet mitunter ihr
       Gesicht wie in den vielen Selbstporträts, die in der Ausstellung zu sehen
       sind. Etwa auf einer Schwarzweißfotografie in Form eines riesigen iPhones.
       Das Glas ist zersprungen, unter den Rissen ist ihr Antlitz zu erkennen.
       
       ## Die Darstellering Tilda Swinton
       
       Ein anderes Gesicht, das wie die Wiederkehr des ewig Gleichen aus den
       dunklen Kammern der Ausstellung auftaucht, gehört Tilda Swinton. Der
       Filmstar ist die bevorzugte Darstellerin Hershman Leesons. In vierfacher
       Ausführung spielte sie 2002 in dem Kinofilm „Technolust“, einer Satire über
       eine Wissenschaftlerin und ihre geklonten Alter Egos mit den Namen „Ruby“,
       „Olive“ und „Marine“.
       
       Ihr Hauptproblem ist es, an ihr Hauptnahrungsmittel zu kommen: männliches
       Sperma. Der feministische Unterton ist unüberhörbar. Auch auf diesem Gebiet
       hat Lynn Hershman Leeson Bahnbrechendes geleistet. 2010 setzte sie mit dem
       Dokumentarfilm „Woman Art Revolution“ der feministischen Kunst der
       vergangenen vierzig Jahre ein Denkmal.
       
       Die Bandbreite ihres ein halbes Jahrhundert umfassenden Werks sprengt bis
       heute den herrschenden Kunstbegriff. „Für mich ist es Kunst, aber ich
       benutze immer hybride Formen“, sagt sie mit Blick auf ihr Genlabor, das sie
       mit Wissenschaftlern zusammen erarbeitet hat, „nichts, was ich tue, ist
       gradlinig.“
       
       Die Retrospektive selbst funktioniert wie eine Zeitmaschine. Aus dem
       Schwarz der Wände leuchten die eleganten Fotomontagen, die „Phantom Limbs“,
       aus den 1960er Jahren auf. Models, deren Extremitäten durch elektronische
       Apparate ersetzt sind. Wie in einem verspiegelten Labyrinth tauchen
       parallel die Ikonen ihres Werks auf. Ein rot-oranges Outfit etwa erinnert
       an Roberta Breitmore, eine Kunstfigur, die Hershman Leeson mit Pass und
       Girokonto ausstattete und in deren Haut sie über fünf Jahre lang schlüpfte.
       
       ## Das Spiel mit den Identatitäten
       
       Roberta sei eine virtuelle Person gewesen, eine Vorläuferin ihrer
       virtuellen Figuren im Internet, sagt sie und weist auf ihr Spiel mit
       Identitäten hin. „Haben Sie die Puppen mit der Kamera im Auge gesehen: Eine
       ist wie Roberta gekleidet, trägt eine Brille wie sie. She is always behind
       me.“
       
       Fotos, Einladungskarten und Presseartikel erzählen von ihren zahlreichen
       Performances und Projekten der 1960er und 1970er Jahre. Rekonstruiert ist
       die Dinnerperformance für den Kunsthistoriker und Duchamp-Sammler Arturo
       Schwarz, bei der Goldfische in den Weingläsern schwammen und das Geschirr
       sich in surreale Skulpturen verwandelt hatte.
       
       „Einen Großteil meiner Arbeiten hatte ich schon vergessen“, bekennt Lynn
       Hershman Leeson ungerührt. Peter Weibel diagnostiziert anhand ihres Werks
       ein „phobokratisches Zeitalter“, das geprägt sei vom Geschlechterkonflikt
       und dem Verlust über die Kontrolle der eigenen Daten, siehe NSA.
       
       Keine Frage, mit dieser Ausstellung verwandelt das ZKM einen technisch
       aufwendigen Gerätepark in eine einzigartige Bilderlandschaft. Ein Eldorado
       für uns Voyeure, das uns in die absolute Gegenwart katapultiert. Etwa
       mittels der netzwerkbasierten Installation „Present Tense“, die aktuelle
       Daten über den Grad der Wasserverschmutzung in Karlsruhe anzeigt und uns
       gleichzeitig mit Unterwasseraufnahmen von schwimmenden Kindern unterhält.
       
       31 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Carmela Thiele
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Medienkunst
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Basel
 (DIR) Adam Szymczyk
       
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