# taz.de -- Politiker brauchen Makel: Einmarsch der Roboter
       
       > So nachvollziehbar der Wunsch nach dem Idealzustand des fehlerfreien
       > Politikers ist: Er ist verrückt, wenn man ihn zu Ende denkt.
       
 (IMG) Bild: Alles andere als makellos: Christian Wulff.
       
       Selten bin ich so für einen Satz verprügelt worden wie für diesen:
       Christian Wulff ist einer von uns.
       
       Donnerstag, 22. Dezember 2011, kurz vor 16 Uhr: Wulff, damals noch
       Bundespräsident, reagiert im Schloss Bellevue auf die Vorwürfe in der
       Affäre um einen günstigen Hauskredit, die seit Tagen alle Medien
       beschäftigen. Noch eine Dreiviertelstunde bis Redaktionsschluss. Stress.
       Ich schaue in der Redaktion abwechselnd auf die Liveübertragung von Phoenix
       und in die Agenturen. Als Wulff endet, denke ich nach, ein paar Minuten,
       mehr Zeit ist nicht. Dann tippe ich los.
       
       Am nächsten Tag stand mein Plädoyer für Milde auf der Seite 1 der taz.
       Beeindruckt von der Entschuldigung, die der Präsident öffentlich
       vorgetragen hatte, argumentierte ich, Wulff habe noch eine Chance verdient.
       Gerade seine Verführbarkeit, seine Anfälligkeit für Glamour machten ihn nur
       menschlich. Der Kommentar endete mit den Sätzen: „Man kann auch sagen: Er
       ist einer von uns.“
       
       Politiker machen auch Fehler, wollte ich damit ausdrücken, sie sind keine
       Übermenschen. Über mangelndes Feedback konnte ich mich in den folgenden
       Tagen nicht beklagen. Online hagelte es hämische Kommentare. Leser
       beschimpften mich, mehrere legten mir nahe, mich lieber gleich als
       Wulff-Sprecher zu verdingen. Kollegen lästerten über den Satz, Freunde
       tippten sich an die Stirn.
       
       ## Politiker haben bitteschön unfehlbar zu sein
       
       Wulff, einer von uns? Ob der Vergleich klug gewählt war, sei dahingestellt.
       Aber die Anekdote zeigt, was wir alle von Politikern heutzutage erwarten.
       Viel. Wahrscheinlich zu viel.
       
       Politiker sollen Saubermänner sein. Menschen ohne Makel. Ihr persönliches
       Handeln möge im Einklang stehen mit ihren politischen Zielen, fordert eine
       allzeit kritische und zum Spott bereite Öffentlichkeit. Schließlich gilt
       es, dem Stammtisch, der aus den Kneipen ins Internet gewandert ist, keine
       Vorlagen zu liefern gegen „die da oben“. Politiker haben bitteschön
       unfehlbar zu sein.
       
       Schon über die Gründe für diesen Anspruch kann man sich viele Gedanken
       machen. Warum legt eine Gesellschaft, die libertär sein will, an ihre
       demokratisch gewählten Vertreter einen rigiden Moralismus an? In all der
       Häme, die sich während der Affäre über Wulff ergoss, drücken sich auch
       unschöne Eigenschaften der Kritiker aus. Neid zum Beispiel. Der Wunsch,
       sich über andere zu erheben. Oder einfach der morbide Spaß an der Hetze.
       Der Maßstab ist verrutscht. Die Urteile sind schnell, persönlich und zu
       wenig an der Sache orientiert.
       
       So nachvollziehbar der Wunsch nach dem Idealzustand des fehlerfreien
       Politikers ist: Er ist verrückt, wenn man ihn zu Ende denkt.
       
       ## Jäger
       
       Hannah Arendt vertrat, wie andere Philosophen auch, die Ansicht, Argumente
       ad hominem zerstörten jede Debatte. Argumente also, die nicht auf die
       Thesen oder die inhaltliche Position eines Gegners zielen, sondern auf
       seine Person.
       
       Geht man von Arendts Annahme aus, steht es schlecht um die deutsche
       Mediendemokratie. Jede Woche wird ein neuer, vermeintlicher Skandal
       verhandelt, der sich um die Person eines Politikers dreht.
       
       In den USA durchleuchten Beraterteams die Lebensläufe von
       Präsidentschaftskandidaten, um ins Private zielende Angriffe vorauszuahnen.
       Dort entscheiden pikanter Sex, Drogen oder Steuerhinterziehung mehr über
       den Erfolg eines Kandidaten als seine außenpolitische Linie. Noch sind wir
       in Deutschland nicht so weit, aber wir geben uns die allergrößte Mühe.
       
       Nur ein paar Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: Beim
       SPD-Kanzlerkandidaten diskutierten die Medien wochenlang darüber, dass er
       teuren Weißwein trinkt. Eine angesehene CDU-Bildungsministerin musste
       zurücktreten, weil sie vor 30 Jahren bei ihrer Doktorarbeit schummelte. Ein
       Grünen-Fraktionschef wurde durch die mediale Manege gezerrt, weil er
       vergessen hatte, die Zweitwohnungssteuer zu zahlen. Wohlgemerkt, es ging um
       ein paar hundert Euro im Jahr.
       
       Über derlei Vergehen mag man denken, was man will. Es geht hier nicht
       darum, persönliche Fehler zu entschuldigen. Sondern darum, dass sie nichts,
       wirklich nichts mit der Politik der genannten Personen zu tun haben.
       
       ## Gejagte
       
       Peer Steinbrücks Pinot-Grigio-Konsum sagt nichts über die Ziele der SPD
       aus. Annette Schavan war trotz der Plagiate während ihres
       Studienabschlusses in der Lage, ein Ministerium professionell zu führen.
       Und Anton Hofreiters Vergesslichkeit liefert keine Hinweis darauf, ob die
       Steuerpolitik der Grünen vernünftig ist. Wer solche „Skandale“ skandalös
       findet, sollte sich fragen, ob er die eigene Steuererklärung in Gänze
       versteht.
       
       Eine Gesellschaft beschäftigt sich hier mit Scheinproblemen. Das innere
       Selbstgespräch der Demokratie, das – immer noch – von Medien orchestriert
       wird, geht zu oft am Wichtigen vorbei. Im Bundestagswahlkampf gab es große
       Unterschiede zwischen den Politikangeboten der Parteien. Warum wurden
       trotzdem vor allem Steinbrücks Unzulänglichkeiten diskutiert?
       
       Politiker heißen Volksvertreter, weil sie uns repräsentieren sollen. Es
       gehört zur Natur der Sache, dass sie Fehler machen. Der Wunsch nach dem
       politischen Mr Perfect ist realitätsfremd, weil niemand ohne Makel ist.
       Keiner von uns. Dieser Anspruch ist unmenschlich.
       
       Christian Wulff hat in der vergangenen Woche eine nicht unwichtige
       Konsequenz in eine Frage gekleidet: „Wenn es so viele Jäger gibt, wer hat
       dann überhaupt noch Lust, das gejagte Wild zu werden?“ Nun, es finden sich
       schon noch ein paar, die ehrgeizig genug sind. Aber sind das diejenigen,
       die wir als Politiker haben wollen? Es gibt sie tatsächlich, die
       Talentierten in der zweiten Reihe, die nicht mehr ganz nach vorne ins
       Scheinwerferlicht streben. Auch deshalb, weil sie sich nicht dem medialen
       Dauerfeuer aussetzen wollen. Hannelore Kraft, die das Zeug hätte, für die
       SPD Angela Merkel herauszufordern, bleibt lieber im gemütlichen
       Nordrhein-Westfalen. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried
       Kretschmann, der zu gefährlicher Nachdenklichkeit neigt, wird Stuttgart nie
       für Berlin verlassen. Was sehr, sehr schade ist.
       
       ## Etwas mehr Zweifel, etwas weniger Selbstgewissheit
       
       Medien und Gesellschaft schaffen eine Stimmung, die nachdenkliche Köpfe
       abschreckt – beklagen aber gern die Verdummung in der Politik. Das Ergebnis
       sind Politikroboter, die Mimik und Gestik genau kontrollieren, die jeden
       Satz durch ihre Pressestelle so glatt schleifen lassen, dass kein
       Reibungspunkt bleibt. Weil sie wissen, dass Journalisten ihre Zitate aus
       dem Zusammenhang reißen und interpretieren. Die Kanzlerin ist auch deshalb
       so erfolgreich, weil sie diese Gesetze so verinnerlicht hat wie kaum ein
       anderer. „Die Welt wird komplexer, aber die Verständigung über die Welt
       schrumpft auf Halbsätze“, beschreibt der Grüne Kretschmann diesen Effekt.
       
       Claudia Roth hat neulich in einem Stern-Interview gestanden, dass sie in
       ihrer Zeit als Parteichefin der Grünen auch Angst hatte. Angst vor Fehlern,
       vor Auftritten, vor dem allgegenwärtigen Druck. Sie hat beschrieben, wie
       ein Mann sie stehenließ, wie sie betrunken mit Reportern sprach. Natürlich
       gab es wieder Spaßvögel, die sich über diese Schwächen lustig machten. Aber
       wollen wir wirklich, dass solch ehrliche Momente aus der Politik
       verschwinden? Wollen wir die Invasion der Roboter?
       
       Wir sollten deshalb über den Maßstab nachdenken, den wir an Politiker
       anlegen. Etwas mehr Demut, etwas mehr Zweifel, etwas weniger
       Selbstgewissheit.
       
       Über Christian Wulff habe ich im Laufe der Affäre übrigens meine Meinung
       geändert. Am Ende fand auch ich, dass er gehen muss. Weil er bei einem
       Chefredakteur anrief, um ihn zu disziplinieren, weil er im Parlament in
       Niedersachsen gelogen hat und einigen prominenten Reichen einfach zu nahe
       stand.
       
       Im Moment frage ich mich wieder, ob ich damals richtig lag.
       
       15 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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       Abschuss freigegeben zu haben. Wulffs Buch liefert erhellende Einblicke in
       den Medienbetrieb.