# taz.de -- Staaten in Afrika: Der Terrorist und der Millionär
       
       > Das boomende „neue Afrika“ wird kein stabileres Afrika. Schuld daran sind
       > die maroden Staatsgebilde. Es profitieren nur wenige Gutvernetzte.
       
 (IMG) Bild: Mega-City Lagos: Afrikas Wirtschaftsboom setzt die maroden Staatsstrukturen unter Druck.
       
       Afrika lebt in den Zeiten des Terrors. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ein
       Selbstmordanschlag oder ein gezielter Angriff durch radikale Islamisten
       Dutzende von Menschen in den Tod reißt. An die sechzig Tote in Kenia allein
       Anfang dieser Woche, über zwanzig in Nigeria am Dienstag – die Abstände
       zwischen den Anschlägen sind weit kürzer als in Europa vor zehn Jahren,
       damals als die Anschläge von Madrid 2004 und London 2005 einen ganzen
       Kontinent in Angst und Schrecken versetzten.
       
       Nigeria zählt dieses Jahr bereits mehrere tausend Tote durch die
       Aktivitäten der radikalislamischen Untergrundarmee Boko Haram, und ganz
       Ostafrika steht im Bann angedrohter oder tatsächlicher Aktivitäten der
       somalischen Shabaab-Miliz.
       
       Der Terror treibt die neue Mittelschicht auf die Straße und in die sozialen
       Netzwerke, ihre Empörung über die Ineffizienz und Amateurhaftigkeit ihrer
       Regierenden geht tief. „Bring Back Our Girls“ lautet die Losung aus
       Nigeria, in Erinnerung an die über 200 Schülerinnen, die in der Nacht zum
       15. April von Boko Haram aus dem Ort Chibok verschleppt wurden und seitdem
       unauffindbar sind. Jeden Tag versammeln sich in der Hauptstadt Abuja
       Menschen und fordern, die Regierung solle die Mädchen endlich retten.
       
       In Kenia lautet die Parole „Rise Above Tribe“. Aktivisten machen gegen den
       Versuch der Regierung mobil, die jüngsten Terrorangriffe als lokale,
       ethnisch motivierte Gewaltakte darzustellen. Die Antwort der Polizei ist
       brutal: In der Küstenmetropole Mombasa löste sie diese Woche mit
       Gummigeschossen eine Demonstration gegen die Unsicherheit auf – beim
       Shabaab-Überfall auf den Ort Mpeketoni kurz davor war sie nicht
       eingeschritten.
       
       Die Nigerianer und Kenianer demonstrieren weniger gegen Boko Haram und
       Shabaab, denn in der Ablehnung dieser Gruppen sind sich ohnehin alle einig.
       Sie protestieren gegen die Unfähigkeit ihrer Machthaber. Sie sprechen aus,
       was viele denken: dass Akteure der Sicherheitsapparate Komplizen des
       Terrors sein könnten und bei jedem Anschlag einfache Menschen ihr Leben
       lassen, weil die Elite nur sich selbst schützt. Der Terror stärkt den
       autoritären Staat – der Protest stellt seine Legitimität infrage. Daher ist
       den Regierenden der zivilgesellschaftliche Protest offensichtlich
       unangenehmer als der Terror.
       
       ## Ist die Erzählung des aufstrebenden Kontinets Propaganda?
       
       Dass nun weltweit vom Terror in Afrika die Rede ist, beißt sich mit einer
       anderen, zuletzt dominanten Erzählung: Dass es endlich aufwärts geht mit
       dem Kontinent. Afrika gilt mittlerweile als attraktivste „frontier“ für
       risikofreudige Investoren, es hat die jüngste Bevölkerung der Welt, die
       Metropolen boomen, eine neue Mittelschicht wächst heran. Entlarvt die
       Ausbreitung des Terrors diese Erzählung vom aufstrebenden Afrika also als
       Propaganda?
       
       Keineswegs. Der afrikanische Terrorist und der afrikanische Millionär sind
       zwei Seiten einer Medaille – und beide sind den afrikanischen Regierungen
       um entscheidende Schritte voraus. Sie sind flexibel und innovativ und
       nehmen die Chancen wahr, die sich bieten, egal ob es ihnen jemand erlaubt.
       Zum Staat und zu Rechtsnormen haben sie ein eher gebrochenes Verhältnis.
       Letzteres verbindet sie mit der Mehrheit der Bevölkerungen.
       
       Auch die politische Klasse ist korrupt und wenig gesetzestreu, gerade in
       den Ländern Nigeria und Kenia, die am meisten von islamistischen
       Terrorangriffen betroffenen sind. Politiker nutzen ihre Ämter zum eigenen
       Vorteil, sie bereichern sich zuweilen schamlos, sie gehen die kurzen Wege
       zum persönlichen Erfolg. Im Unterschied zu den Akteuren der privatisierten
       Gewalt oder auch der privatisierten Wirtschaft ziehen sie daraus in der
       öffentlichen Wahrnehmung aber keinen Profit – im Gegenteil.
       
       Gerade in Nigeria und Kenia wird die politische Klasse verachtet. Nigerias
       Präsident Goodluck Jonathan gilt als schwach, seine Ehefrau als öffentliche
       Witzfigur. Kenias Politiker sind spätestens seit 2008, als sie ihr Land
       wegen eines Streits über Wahlergebnisse in den Bürgerkrieg trieben,
       kollektiv diskreditiert; Staatschef Uhuru Kenyatta kann froh sein, wenn er
       nicht doch noch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Rede
       und Antwort stehen muss.
       
       ## Aus obskuren Geschäften wird Volkswirtschaft
       
       Zugleich zählen die Metropolen Lagos und Nairobi zu den dynamischsten
       Geschäftszentren Afrikas: hier, zwischen Glitzerfassaden und brodelnden
       Slums, erwächst aus obskuren Geschäften eine boomende Volkswirtschaft.
       Dieser Wirtschaftsboom ist in vielen Ländern jedoch eine Angelegenheit
       einer festgefügten, familiär und finanziell engstens verbandelten Elite,
       die sich von der breiten Bevölkerung zunehmend abschirmt und den jeweiligen
       Präsidenten eher als Fassade nach außen vor sich her trägt. Von Algier bis
       Luanda, von Kinshasa bis Addis Abeba mag die breite Bevölkerung diese
       Eliten nicht, hat ihnen aber auch nichts entgegenzusetzen, denn sie
       kontrollieren alle Zugänge zur politischen und wirtschaftlichen Macht. Das
       erzeugt gute Wirtschaftsdaten, streut aber weder Wohlstand noch fördert es
       die Entwicklung.
       
       Gemessen an diesem staatlichen Stillstand ist jedes nichtstaatliche
       afrikanische Großunternehmen ein Leuchtturm des Fortschritts: Es bietet
       sichere Arbeitsplätze, regelmäßig gezahlte Gehälter, im besten Falle auch
       noch soziale Sicherheit für die Familie, Bildung für die Kinder, Zugang zu
       Krediten und Auslandsreisen und sozialen Aufstieg – Dinge, die ansonsten
       Günstlingen des Staats vorbehalten sind. Aus Sicht der aufstrebenden
       afrikanischen Unternehmer sind die Regierungen und politischen
       Institutionen – mit wenigen Ausnahmen – keinerlei Hilfe. Das wichtigste
       Fundament des wirtschaftlichen Aufschwungs, nämlich Eigentums- und
       Rechtssicherheit, ist in sehr vielen Ländern Afrikas nicht staatlich
       gesichert. Genauso wenig wie das Überleben breiter Teile der Bevölkerung.
       
       Just dieses Staatsversagen treibt junge Männer quer durch Afrika in die
       Hände islamischer oder auch christlicher Fundamentalisten, die sich als
       Hüter einer angeblich reinen und überlegenen Moral darstellen. Dazu kommt,
       dass weite Teile Afrikas vom Aufschwung nichts abbekommen und als
       Reservoire für perspektivlose Krieger benutzt werden, aus denen sich jeder
       bedienen kann, von Kongo über Zentralafrika bis Sudan.
       
       Die Auslöschung der muslimischen Minderheiten in weiten Teilen der
       Zentralafrikanischen Republik dieses Jahr hat sich als besonders wichtiger
       Mobilisierungsfaktor des Islamismus quer durch die Sahelzone erwiesen. Als
       die somalische Shabaab vor wenigen Wochen ein Selbstmordattentat in
       Dschibuti verübte, begründete sie das mit dem „Genozid“ in der
       Zentralafrikanischen Republik. Manche der dortigen versprengten
       muslimischen Séléka-Milizen wiederum bewundern Boko Haram im nahen Nigeria.
       
       ## Selbstbedienungsladen weniger Gutvernetzter
       
       All diese Kämpfer vertreten zwar nirgends eine gesellschaftliche Mehrheit –
       aber die Milizen bieten Orte, um sich als junger Mann einmal außerhalb der
       Mehrheit zu stellen, die sie marginalisiert, und aggressiv aufzutreten. Die
       Zivilgesellschaft wird dann Opfer dieser Aggression, wie tagtäglich vor
       allem im Nordosten Nigerias zu beobachten. Und von Mali bis Somalia sind
       die Regierungen meist nicht in der Lage, die Bevölkerung vor Unheil zu
       schützen.
       
       So schließt sich der Kreis: Das Staatsversagen fördert den Aufschwung der
       Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft und bremst ihn zugleich, weil er
       keine Sicherheit bietet, wenn die Opfer sozialer Marginalisierung oder die
       Verlierer von Wirtschaftsdeals und politischen Machtkämpfen zu Gewalt
       greifen. Wo bewaffnete Banden straflos agieren und die staatlichen
       Sicherheitskräfte über dem Gesetz stehen, ist das schon längst ein Problem.
       Wenn jetzt allerdings Boko Haram in Nigerias Hauptstadt Pendler in die Luft
       jagt oder Shabaab in Kenias Hauptstadt eines der größten Einkaufszentren
       besetzt, trifft dies das „neue Afrika“ ins Herz.
       
       Sowohl der radikale Islamismus als auch das aufstrebende Unternehmertum
       enthüllen den postkolonialen afrikanischen Staat als das, was er ist: ein
       Selbstbedienungsladen weniger Gutvernetzter, der seine Kernfunktionen nicht
       erfüllt. Die neuen Mittelschichten trifft das besonders. Mal sorgen sie
       sich um den Schutz der eigenen Kinder, mal empören sie sich einfach über
       die marode Stromversorgung. Immer geht es um die Grundlagen eines
       zumutbaren Lebens.
       
       Das boomende „neue Afrika“ wird kein stabileres Afrika. Im Gegenteil: Die
       dysfunktionalen Institutionen, die sich teils nur mit großer Mühe aus der
       Zeit der Entkolonialisierung in die Gegenwart hinübergerettet haben,
       geraten jetzt unter Druck wie nie zuvor. Aber letztendlich ist das gut so.
       Es ist der Preis für ein Afrika, das endlich aus dem Schatten seines
       düsteren 20. Jahrhunderts tritt.
       
       22 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Afrika
 (DIR) Ökonomie
 (DIR) Boko Haram
 (DIR) Somalia
 (DIR) Kenia
 (DIR) Somalia
 (DIR) Afrika
 (DIR) Nigeria
 (DIR) Sudan
 (DIR) Platinminen
 (DIR) Nigeria
 (DIR) Südafrika
 (DIR) Nigeria
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Terrorismus in Somalia: Tote bei Doppelanschlag
       
       Bei der Explosion zweier Autobomben im somalischen Mogadischu starben
       mindestens sieben Menschen. Die Terrormiliz al-Schabaab bekannte sich.
       
 (DIR) Nachruf auf Ali Mazrui: Theoretiker des verlorenen Paradieses
       
       Der Kenianer Ali Mazrui, führender Verfechter der geistigen
       Entkolonisierung Afrikas, ist tot. Sein Gedankengut lebt weiter.
       
 (DIR) Shabaab-Miliz hat neuen Anführer: Anschläge geplant
       
       Die islamistische Shabaab-Miliz ernennt einen Nachfolger für den getöteten
       Godane. Der somalische Präsident bietet den Extremisten eine Amnestie an.
       
 (DIR) Sicherheit vor Boko Haram in Nigeria: „Bleib nicht vor dem Tor stehen“
       
       Straßensperren oder zusätzliche Schulwächter – es gibt viele neue
       Maßnahmen, um sich vor Boko Haram zu schützen. Aber sie stoßen auf Skepsis.
       
 (DIR) Offenbar neue Entführung in Nigeria: Unter den Geiseln sollen Babys sein
       
       Im Nordosten des Landes wurde eine weitere Entführung von über 90 Menschen
       gemeldet. Mehr als 18 Personen wurden bei dem Angriff getötet.
       
 (DIR) Christin im Sudan: Meriam darf weiterleben
       
       Die wegen Apostasie zum Tode verurteilte Christin im Sudan ist wieder frei.
       Ein Gericht in Khartum hatte das Urteil am Montag annulliert .
       
 (DIR) Bergarbeiterstreik in Südafrika: Hunger, Angst und Empörung
       
       Ein Deal zur Beendigung des Bergarbeiterstreiks im Platingürtel um Marikana
       ist geplatzt. Das nützt vor allem der neuen linken Opposition.
       
 (DIR) Nach dem Anschlag in Nigeria: Tödliche Fußballleidenschaft
       
       Mindestens 21 Menschen starben in Nigeria beim Anschlag auf ein Public
       Viewing des Spiels Brasilien gegen Mexiko. Das schürt Angst im Land.
       
 (DIR) Rede zur Lage der Nation in Südafrika: Neue Impulse nicht in Sicht
       
       Dem wiedergewählten Präsidenten Zuma scheint nichts einzufallen, um die
       wirtschaftliche Lage zu verbessern. Seine Rede stößt auf Kritik.
       
 (DIR) Terror in Nigeria: Anschlag auf Fußballfans
       
       Im Norden Nigerias ist Public Viewing lebensgefährlich. Ein Sprengsatz
       tötete nun viele Menschen, die sich Brasilien gegen Mexiko ansahen.