# taz.de -- Dr. Motte zum Loveparade-Jubiläum: „Wir wollten diese Beglückung“
       
       > Vor 25 Jahren zog die erste Loveparade über den Ku’damm. Ihr Gründer Dr.
       > Motte über Politik, Mainstream und spirituelle Momente.
       
 (IMG) Bild: „Wenn ich auflege, kommen immer wieder Leute zu mir und sagen: „Du bist mein Hero.““: Dr. Motte, die Techno-Legende.
       
       taz: Dr. Motte, das Motto der ersten Loveparade 1989 lautete „Friede,
       Freude, Eierkuchen“. Mögen Sie eigentlich Eierkuchen? 
       
       Dr. Motte: Ja, wenn sie aus selbst eingesammelten Eiern von frei laufenden
       glücklichen Hühnern gemacht sind. Früher hatten wir das ja in Berlin: In
       den Hinterhöfen standen die Schweine-, Kuh- und Hühnerställe. Meine Mutter
       kannte das noch.
       
       Klingt ja auch gut. 
       
       Eben. Ist auch ein Sprichwort. Mir fiel das damals ein, weil wir für
       Abrüstung auf allen Ebenen demonstrieren wollten.
       
       Ach, darum ging’s? 
       
       Unsere neue Musik sollte ein Medium der Kultur und der Verständigung sein.
       Und wir wollten eine gerechte Nahrungsmittelverteilung.
       
       Was haben denn Eierkuchen damit zu tun? 
       
       Das war eine Metapher. Friede für den Weltfrieden, Freude für die Musik und
       Eierkuchen für die gerechte Nahrungsmittelverteilung. Wenn etwa der
       Saatguthersteller Monsanto behauptet, mit Gentechnik den Welthunger
       beseitigen zu können, dann wollen die natürlich nur ein Monopol auf
       Grundnahrungsmittel schaffen. Man muss dagegen vorgehen, dass Nahrung
       privatisiert wird und Konzerne bestimmen, wer dazu Zugang hat.
       
       Die Gentechnik ist eine neuere Entwicklung. Wie ernst war Ihnen die Politik
       am Ende der 80er Jahre? 
       
       Sehr ernst. Ich war schon als Junge bei Vietnam-Demos, zusammen mit meinen
       Brüdern. Es gibt da ein Bild vom letzten Gebäude in Hiroshima, das stehen
       geblieben ist. Das hat mich sehr geprägt. Ich habe nicht verstanden, wie
       Menschen so mit Menschen umgehen können. Und ich verstehe es immer noch
       nicht.
       
       Es geht ums Überleben des Stärkeren, oder? 
       
       Wir sind doch die Familie der Menschen auf diesem Planeten! Und so müssten
       wir doch eigentlich miteinander umgehen. Das ist bis heute mein Anspruch:
       Ich kenne Sie beide nicht. Aber ich gehe mit allen so um, als wären wir
       Bruder, Schwester, Tanten, Onkel. Wenn ich mich als Außerirdischer der Erde
       nähern würde, dächte ich mir erst mal: Hübscher Planet, alles blau. Aber je
       näher ich käme, sähe ich: Das ist eine Lebensform, die sich gegenseitig
       umbringt. Das ist doch Wahnsinn!
       
       Warum glauben Sie so fest, dass Musik die Menschen einander näherbringt? 
       
       Meine Mutter sang in einem Chor, bei uns zu Hause lief viel klassische
       Musik. Und ich dirigierte schon als Vierjähriger mit einem Kochlöffel das
       Orchester. Im Rückblick weiß ich: Die Musik und ich, das war eins, schon
       damals. Musik schafft das, sie schafft das Zusammenwachsen der
       Hirnhemisphären. Eine unglaubliche Kraft.
       
       Bevor Sie Techno machten, waren Sie Punkrocker. 
       
       Elektronische Musik habe ich schon 1974 durch meinen Bruder kennengelernt,
       das war elektrischer Jazz. Vier Jahre hörte ich nur Jazz und ging
       überallhin, wo er gespielt wurde: ins Quasimodo, ins Quartier Latin, zu den
       Jazztagen. Damit war ich der elektronischen Musik schon ganz nah. Dank des
       britischen Radio-DJs John Peel, der neue deutsche Bands wie X-mal
       Deutschland oder Pyrolator vorstellte, entdeckte ich Punkrock, Postpunk und
       auch Elektronisches aus dem Düsseldorfer Raum. Das war neu, das
       elektrisierte mich – im wörtlichen Sinne.
       
       Die sich entwickelnde Technoszene stieß auf scharfe Abneigung, besonders
       unter den Punks. Hat es Sie geschmerzt, ein Feindbild geworden zu sein? 
       
       Ich gehe da als Künstler ran: Ein Künstler macht ein Angebot, wirft es den
       Leuten zum Fraß vor, und die sollen dann sehen, was sie damit anfangen.
       Joseph Beuys machte das zum Beispiel so. Er konnte aber auch ganz plausibel
       erklären, warum seine Kreidetafeln oder Fettecken so aussahen, wie sie
       aussahen. Beuys ist eines meiner Vorbilder.
       
       Beuys hat gern provoziert. Sie auch: Die gut 150 tanzenden Freaks 1989
       mitten auf dem Ku’damm mussten von den einkaufenden Berlinern doch als
       Provokation gesehen werden. 
       
       Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben: Ich war schon immer
       anders, ein bunter Hund. Man darf sich von der öffentlichen Meinung nicht
       einschränken lassen und muss auch mal ein paar Sachen ausprobieren. In
       Westberlin hatten wir das Glück, recht behütet zu sein mit der ganzen
       Berlinförderung. Ein tolles Leben war das, voller Freiheit und
       Entspanntheit. Trotz der Ummauerung. Und billig: 30 Quadratmeter für 120
       Mark.
       
       Dann fiel die Mauer. Manche behaupten ja, die Loveparade hätte ein bisschen
       dazu beigetragen. 
       
       Quatsch. Sagen Sie das mal den Leuten, die regelmäßig auf den Montagsdemos
       waren: Die hatten von der Loveparade nichts gehört. Und für uns
       Acid-House-Liebhaber hat die DDR überhaupt keine Rolle gespielt. Uns ging
       es um das Aufbrechen musikalischer Strukturen: Popmusik, das war immer
       Strophe, Refrain, Zwischenteil, Strophe, Refrain, fertig. Drei Minuten
       dreißig. Das haben wir durch Acid House aufgelöst. Es gab plötzlich einen
       Beat, eine Sequenz, Stroboskop und Nebel. Das hat Zeit und Raum verändert.
       Und das wollten wir. Wir wollten diese Beglückung, die Sehnsucht der
       Erfüllung. Und das haben wir auch gekriegt.
       
       Die Parade wurde in den 90ern immer größer und kommerzieller, ab 1998 zog
       sie etwa eine Million Menschen an. Wie kamen Sie klar mit dieser
       Entwicklung? 
       
       Von Anfang an war mir bewusst: Wenn man die Parade wiederholt, wird sie
       andere inspirieren, das Gleiche zu tun. Bereits 1992 gab es die Street
       Parade in Zürich. Das war beabsichtigt, es ging uns ja nicht um Erfolg. Die
       Vision war, dass irgendwann in allen Ländern zur gleichen Zeit die Menschen
       auf der Straße tanzen und entdecken, dass wir viel gemeinsam haben. Wenn
       alle Menschen Freunde werden und sich wie eine Familie fühlen, dann gibt es
       keinen Grund mehr, Kriege zu führen. Unsere Musik sollte eine neue Form der
       Kommunikation sein, eine Therapie zur Heilung der Menschen und des
       Planeten.
       
       Stichwort „Weltrevolution“. 
       
       Ja, unsere Slogans wie „Peace on Earth“ oder „We Are One Family“ waren uns
       schon wichtig. Ich habe zwischenzeitlich die Meditation entdeckt, auch
       Bücher des Dalai Lama gelesen. Alles Gute, das aus der Loveparade
       entstanden ist, habe ich der Menschheit gewidmet: dass alle durch diese
       positive Energie mit ewigem Glück behaftet sind. Das war meine Motivation.
       
       Der DJ oben auf dem Truck, die Menschen, die unten tanzen: das hat ja auch
       was Religiöses. 
       
       Nein. Höchstens etwas Spirituelles. Aber ich wollte immer vor allem etwas
       Gutes, Menschliches etablieren. Etwas Soziales.
       
       Trotzdem: Die jubelnden Massen und der DJ, der den Regler hochfährt, das
       hat schon was von Gottesdienst, oder? 
       
       Die Massen, das kam später. Eigentlich wollten wir erst mal gar nichts
       außer uns selbst und die Freude an der Musik erfahren. Wir waren ja erst
       mal elitär unterwegs, wollten die bestehenden Strukturen aufbrechen. Der DJ
       war – ob in den Clubs Studio 54 in New York oder im Warehouse in Chicago –
       dabei erst mal nur der Katalysator des Augenblicks. Er schuf den Freiraum
       für die Tanzenden, die in der Frequenz aufgingen. Es ging nie darum,
       jemanden anzubeten. Allerdings wurde schnell aus der kleinen Bewegung eine
       Jugendkultur.
       
       Und dann kamen die Massen und damit der Mainstream. 
       
       Schon 1992 kam „Schlumpftechno“ auf und stieg in die Charts ein. Damit
       hatte ich nix zu tun, das war mir zuwider. Auch bei „Somewhere over the
       Rainbow“ von Marusha fröstelt es mich. Das war vielleicht Pop, aber kein
       Techno.
       
       War das auch der Grund, warum sich 2006 die Loveparade Berlin GmbH, deren
       Mitgesellschafter Sie waren, auflöste und die Markenrechte an die Firma des
       Fitnessstudiobetreibers Rainer Schaller verkaufte? 
       
       Nein. Alles fing damit an, dass es in Berlin zu viele Hasser der Loveparade
       gab. Spießer und Gelangweilte, die glaubten, dass 1,5 Millionen Menschen
       den Tiergarten zerstörten. Unabhängige Untersuchungen zeigten, dass der
       Tiergarten einen Monat nach der Loveparade genauso aussah wie zwei Wochen
       vorher. Es gab keine Schäden. Im Jahr 2001 schnappten uns diese Leute
       unseren Termin weg und meldeten selbst für das zweite Juliwochenende eine
       Demo an.
       
       Wie haben Sie reagiert? 
       
       Wir haben leider eine falsche Entscheidung getroffen und dagegen geklagt.
       Wir verloren in drei Instanzen viel Geld und unseren Status als politische
       Demonstration. Weil wir keine Termin- und Ortssicherheit mehr bieten
       konnten, sprangen Sponsoren ab, wir verbrauchten unsere Rücklagen. Im Jahr
       2004 hatten wir kein Geld mehr. 2006 wurde Rainer Schaller den
       Mitgesellschaftern als Retter präsentiert. Ich war total gegen den Verkauf,
       denn die Kulturmarke Loveparade gehörte eigentlich allen, die beteiligt
       waren. So etwas kann man nicht privatisieren. Das ist im Grunde politisch.
       
       Trotzdem hatte Techno als Jugendbewegung den Ruf des Unpolitischen,
       Hedonistischen. 
       
       Wenn man sich die Reaktion der Leute anschaut, die unsere Musik nicht
       mögen, dann sind wir eine Revolution so wie Rock ’n’ Roll, der damals auch
       schon die Spießer schockte. Statt Lärmschutz bräuchten wir einen
       Musikschutz. Und in Berlin wird die Club- und Feierkultur, die wir durch
       die Loveparade international bekannt gemacht haben, immer mehr zum
       Spielball wirtschaftlicher und politischer Interessen.
       
       Sie haben sich gegen die Mediaspree-Bebauung und für den Erhalt des
       Tacheles engagiert. Ist das nicht ein krampfhaftes Festhalten? Dinge und
       Orte verändern sich eben. 
       
       Berlin hatte, historisch bedingt, einen Sonderstatus. Die vielen Freiräume,
       die es gab, waren ein Glücksfall: Nach dem Fall der Mauer herrschte
       plötzlich Wildwest. Fast 25 Jahre später sehe ich, dass nach und nach alles
       privatisiert wird. Trotz Bürgerentscheids darf ein Investor an der East
       Side Gallery bauen. Es gibt keine Regeln, die Stadt wird immer hässlicher.
       Mit Berlin als Stadt der Clubkultur wird es dann bald vorbei sein. Dabei
       war dieser Imagewandel – weg vom bösen Deutschen und hin zur coolen
       Feierstadt – ein internationaler Durchbruch, den wir mit der Loveparade
       mitbegründet haben.
       
       Ein historisches Verdienst. 
       
       Das wird verspielt. Da wird ein Stadtschloss gebaut, obwohl die meisten
       Berliner dagegen sind. Und dann die Olympia-Anmeldung! Es wurde ja schon
       einmal – in den 90ern – durch Proteste verhindert, dass Berlin Olympiastadt
       wird. Dass jetzt überhaupt darüber nachgedacht wird … Es müssten eigentlich
       viel mehr Berliner auf die Straße gehen gegen die Olympiapläne. Denn
       Olympiastadt hieße, dass Berlin noch teuer, noch unmenschlicher wird. Man
       schaue sich nur mal an, was die Fußball-WM in Brasilien anrichtet!
       
       Sie haben lange in der Kastanienallee in Prenzlauer Berg gewohnt und sich
       dort in einer Bürgerinitiative gegen den Umbau – Parkbuchten für Autos,
       ebene Bürgersteige – engagiert. Vor wenigen Monaten sind Sie in den Wedding
       gezogen. 
       
       Ich bin 2007 – nach 25 Jahren in Kreuzberg – nach Prenzlauer Berg gezogen
       und im vergangenen Dezember wieder weg. Denn ich bin dort nie wirklich
       angekommen, habe keine Beziehung zu der Gegend entwickelt. Pankow war zu
       DDR-Zeiten der Bezirk der Künstler, jetzt ist es der Bezirk der
       Privatinteressen. Wohnraum wird dort unbezahlbar, selbst die
       Wohnungsbaugesellschaften sind von neoliberalen Menschen infiltriert. Nach
       22 Uhr herrscht dort eine eigenartige Ruhe. Weil die Leute, die dort
       Wohnungen gekauft haben, darin oft selbst nicht wohnen, das sind nur
       Renditeobjekte.
       
       Sie sind jetzt fast 54 Jahre alt. Finden Sie es nicht schön, wenn nach 22
       Uhr mal Ruhe ist? 
       
       Nö.
       
       Anders gefragt: Sie legen noch immer in Clubs auf, betreiben das Label
       Praxxis, buchen Künstler. Wie fühlt es sich an, in Ihrem Alter noch Teil
       einer Jugendbewegung zu sein? 
       
       Wenn ich auflege oder bei Veranstaltungen unterwegs bin, kommen immer
       wieder Leute zu mir und sagen: „Du bist mein Hero.“ Sie verehren mich, weil
       ich diese Musikkultur mit etabliert habe. Und ich mache immer noch die
       selbe Musik, weil ich sie liebe. Mit Jazz und Punk habe ich gebrochen. Aber
       mit der elektronischen Musik habe ich einen Freiraum gefunden, den ich
       ausfüllen kann. Von sphärischen Klängen bis 1.000 Beats per Minute kann ich
       alles machen. Das Einzige, was mich einschränkt, ist mein Geist.
       Technologisch aber ist alles möglich.
       
       Wie nennen Sie eigentlich Ihre Musik? 
       
       Techno. Oder einfach Dr.-Motte-Sound. Die Magazin Faze schrieb über mein
       Label: „Praxxis rettet das Gefühl von damals mit den Sounds der Moderne in
       die Zukunft.“ Schön, oder?
       
       Aber gibt es den Spirit noch? Mit Massenraves ist es seit der
       Loveparade-Katastrophe von Duisburg 2010 vorbei. 
       
       Die Veranstaltung in Duisburg hatte mit dem Spirit von Techno nichts mehr
       zu tun. Trotzdem war diese Katastrophe schrecklich, wie alle Katastrophen.
       Die in Duisburg war noch dazu vermeidbar, sie entstand aus Missmanagement
       und Unkenntnis. Das Ruhrgebiet hatte einfach keine Erfahrung mit
       Veranstaltungen dieser Größenordnung. Unter den Überlebenden gibt es
       Menschen, bei denen das Trauma jetzt erst durchbricht. Von dieser Erfahrung
       müssen wir alle lernen. Aber wenn eine Stadt solche Massenevents stemmen
       kann, dann Berlin. Sehen Sie nur mal die Fußballfanmeile an: Dafür haben
       wir mit der Loveparade den Grundstein gelegt.
       
       Klaus Wowereit sollte Ihnen dankbar sein. 
       
       Er kann gerne mal hier in meinem Büro vorbeischauen. Dann könnten wir über
       das Loveparade-Jubiläum reden.
       
       Dieses Interview ist Teil des aktuellen Themenschwerpunkts in der
       Wochenendausgabe der taz.berlin. In Ihrem Briefkasten und am Kioks.
       
       28 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
 (DIR) Bert Schulz
       
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