# taz.de -- Rupert Neudecks Buch „Radikal leben“: Lust an der List
       
       > Die Erkenntnis, dass alles zu ändern ist, steht im Zentrum von Rupert
       > Neudecks Denken. Der Gründer von Cap Anamur erklärt, was „Radikal leben“
       > bedeutet.
       
 (IMG) Bild: Rupert Neudeck auf der Cap Anamur
       
       „Erwachsen sein heißt vernünftig sein, gesittet, ordentlich, klug auf seine
       Gesundheit und sein Sparkonto achten, taktisch und strategisch in Form sein
       und bleiben. Aber doch nicht direkt sagen, was man denkt, meint oder
       fühlt.“ Mit diesen Worten führt Rupert Neudeck in sein zum 75. Geburtstag
       erschienenes Buch „Radikal leben“ ein. Der Bucheinband erklärt im
       Bucheinbandjargon: „Radikalität ist für Rupert Neudeck Lebensthema und
       Lebenswerk zugleich.“
       
       Neudeck erzählt in „Radikal leben“ auf 157 Seiten von seinem Dasein als
       Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Mit dem Komitee
       Cap Anamur rettete er 11.340 vietnamesische Boatpeople im Südchinesischen
       Meer. Mit den Grünhelmen engagiert er sich für den Bau von Schulen in
       Afghanistan oder Syrien. Von Anfang an ist seine Frau Christel – die
       Neudeck rührend „die Heldin dieses radikalen Lebens“ nennt und der er ein
       ganzes Kapitel widmet – als treue Gefährtin an seiner Seite.
       
       In den vielen einzelnen Kapiteln, die sehr knapp gehalten sind, reißt
       Neudeck prägende Momente und Situationen an, angefangen bei den
       Minenräumungen in Somalia, bei denen Waffen zu Anti-Waffen umfunktioniert
       wurden, bis hin zu bürokratischen Hindernissen, die in der Person des
       „Zuständigen“ Gestalt annehmen, der tatsächlich zwischen unanständigen und
       anständigen Flüchtlingen unterscheidet. Anständige Flüchtlinge gehen über
       eine ordentliche Grenze, damit sie ordnungsgemäß vom UNHCR geprüft,
       registriert und befragt werden können.
       
       Neudeck kann aus solchen Erfahrungen seine Erkenntnis ziehen: „Wer auf
       dieser Welt, aus welchen Motiven auch immer, etwas für die Menschen,
       vielleicht sogar etwas Großes tun will, der darf sich nicht von Zuständigen
       abhalten lassen.“ Im persönlichen Gespräch ergänzt er: „Wenn ich
       Kultusminister wäre, würde ich in der Schule ein Fach einführen ’Lust an
       der List‘. Man muss listig sein, das ist ein schönes deutsches Wort, das
       viele nicht kennen oder gar für verboten halten, aber nein, listig ist ganz
       wichtig. Man muss ja nicht gleich Gesetze verletzen, aber man kann an ihnen
       vorbeigehen.“
       
       ## Seelische Krüppel
       
       Neudeck, der sich als radikalen Menschenfreund sieht – und die Bezeichnung
       dabei positiv prägen möchte – betont, dass humanitäre Arbeit mit Mut
       verbunden ist, sie aber nicht mit Tollkühnheit gleichzusetzen ist.
       Besonders an junge Menschen appelliert er immer wieder zwischen den
       einzelnen Kapiteln und verwendet dabei Ausdrücke, die bei einer
       Selbstbesinnung die Schamesröte ins Antlitz treibt: „Vollkasko-Mentalität“,
       „Seelische Krüppel“ oder „Vorsorge- und Rückversicherungsinstinkt“.
       
       Immer wieder macht Neudeck deutlich, was zu einem radikalen Leben gehört
       und wie wichtig ein radikales Leben ist: mit der Einsicht, dass alles zu
       ändern ist, wenn wir uns ändern, dass Mut gefragt ist, wir alle
       aufgefordert sind, nicht mehr feige zu sein. Und nicht zuletzt: „Radikal zu
       leben bedeutet, in der Freude auf etwas anderes zu leben.“ Dass das bei
       seinen Nachkommen von Haus aus gegeben zu sein scheint, konkretisiert
       Neudeck im ersten Kapitel „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“.
       
       Darin schreibt seine sechsjährige Enkelin Nola einen Brief an
       Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Bitte um eine neue Präsidentin, einen
       neuen Präsidenten für Simbabwe. Mugabe sei ein böser Mensch, Merkel solle
       mit ihr besprechen, wie „er wegkommt“. 1991, als Neudecks Tochter Milena
       die Gespräche ihrer Eltern bezüglich des Embargos für Waffen (die Waffen,
       die zu Anti-Waffen wurden) in Somalia mitbekommt, schreibt auch sie einen
       Brief – an den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Darin empört
       sie sich über seine Verweigerung der Herausgabe von Minenräumpanzern.
       
       ## Der Drang, sich zu engagieren
       
       Die kindlichen, von naiven Gedanken geprägten Briefe bringen keinen
       Diktator zum Umsturz, doch wird anhand dieser Beispiele deutlich, worauf
       Neudeck hinweisen möchte: dass die meisten Erwachsenen den Mut für einen
       solchen Ausbruch verloren haben. Er ist sich sicher, dass immer wieder
       junge Generationen aufbegehren und den Drang verspüren werden, sich zu
       engagieren. Sich aufgerufen fühlen, etwas Radikales zu machen. Ein
       legitimes Bedürfnis junger Menschen, die in der durchbürokratisierten
       Gesellschaft oftmals keine Anknüpfungspunkte finden. Und genau darin sieht
       Neudeck die Gefahr, dass diese sich den radikalen, salafistischen Gruppen
       anschließen und in den heiligen Krieg ziehen.
       
       Deutsche Dschihadisten vermutet Neudeck auch erst einmal hinter der
       Entführung der drei Grünhelme Bernd Blechschmidt, Simon Sauer und Ziad
       Nouri, die im Mai 2013 bei einem Einsatz im syrischen Harim aus dem
       Grünhelme-Haus nachts herausgezerrt worden sind. Tags zuvor wurde
       Blechschmidt von deutschen Dschihadisten in einem Krankenhaus in Azaz
       bedrängt und dazu aufgefordert, das Land zu verlassen, denn westliche
       Organisationen und Christen hätten dort nichts zu suchen. Das zeigte den
       Grünhelmen deutlich, „dass sich die Lage drastisch verschlechtert und die
       Gefährdung eine neue Qualität bekommen hat“, doch Blechschmidt sagt klar
       Nein zum Rückzug.
       
       Die 110 Tage, bis sich die drei selbst befreien konnten, durchlebt Neudeck
       „hilflos und niedergeschlagen“, wie er in seinem syrischen Tagebuch, das im
       vergangenen Jahr erschien, erzählt. Die Verzweiflung während der Entführung
       zeigt, dass trotz ausreichender Vorbereitung die Gefahr nicht immer
       einzukalkulieren ist. So schreibt Neudeck: „Wenn wir nur geahnt hätten,
       dass wir unbedingt schon vorgestern auf den Abzug hätten drängen müssen!“
       Und: „Wenn die Entführung nicht gut ausgeht, werden wir beide, Christel und
       ich, nie mehr glücklich sein können.“
       
       ## Der Glaube an das Gute
       
       Dass aber tatsächlich Dschihadisten hinter der Entführung stecken könnten,
       revidiert er später. Im arabisch-islamischen Raum wird einer kriminell
       motivierten Entführung oft ein religiöses Mäntelchen umgehangen. So benennt
       Neudeck die Täter fortan als Extremisten oder schlicht als das, was sie in
       ihrem Kern sind: Verbrecher und Kriminelle. Die Ohnmacht, die er in allen
       Gliedern spürte, lässt ihn nicht den Glauben an das Gute verlieren, er
       bleibt optimistisch und macht den Römerspruch 12,21 zu seinem Motto: „Lass
       dich vom Bösen nicht überwinden, sondern überwinde das Böse durch das
       Gute.“
       
       Ohne seinen geistigen Mentor Albert Camus käme Neudeck auch in dem Buch
       „Radikal leben“ nicht aus, ihm widmet er das längste Kapitel „Das Vorbild
       meiner humanitären Arbeitsenergie“. Darin bezieht er sich auf „Die Pest“.
       Camus, der die Revolte mit Leitsätzen wie „Je me révolte, donc nous sommes“
       („Ich revoltiere, also sind wir“) prägte und über den Neudeck seine
       Doktorarbeit in Philosophie schrieb, verfasste einen Fundamentalsatz für
       die humanitäre Arbeit: „Es sei besser, gegen das menschliche Elend zu
       kämpfen, als die Hände zu einem Gott zu erheben, der schweigt.“
       
       Das dünne Büchlein ist kein direkter Aufruf zur Radikalität, es reißt eher
       Situationen aus Neudecks Leben an. Seine psalmenartige Sprechweise kommt
       hin und wieder etwas gutmenschlich daher, aber im Fokus des Buches steht
       ein Imperativ: „Wenn Menschen gefoltert, geschlagen, diskriminiert werden,
       und ich kann unmittelbar oder mittelbar dagegen etwas tun, dann muss ich zu
       mehr bereit sein, als unsere ordentliche bürgerliche Ordnung bereit ist
       zuzulassen.“ Am Anfang steht die radikale Überlegung: „Das radikale Leben
       beginnt mit der Einsicht, dass alles zu ändern ist, wenn wir uns ändern.“
       Und ohne seine eigenen „Leitsätze“ zu befolgen, hätte Neudeck sicherlich
       nicht über 35 Jahre so optimistisch humanitäre Arbeit leisten können.
       
       2 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Du Pham
       
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