# taz.de -- Özdemir über Kreuzberger Flüchtlinge: „Das kapieren nicht alle“
       
       > Der Grünen-Vorsitzende über bayerische Verhältnisse in Kreuzberg, die
       > Forderung nach Bleiberecht und Kapuzenträger in seinem Kiez.
       
 (IMG) Bild: Beim Thema Bleiberecht für die Flüchtlinger der Ohlauer Straße nicht vollends einig: Grünen-Parteichefs Cem Özdemir und Simone Peter
       
       sonntaz: Herr Özdemir, mit Kreuzberg ist die Illusion verbunden, dass
       andere Dinge möglich sind als anderswo. Und weil die Grünen regieren: Dass
       es mit Flüchtlingen anders läuft als etwa in Bayern. In dieser Woche
       umzingelten hunderte Polizisten eine Schule, auf deren Dach Flüchtlinge
       drohten, bei einer Räumung zu springen. Das wirkt fast bayerisch. 
       
       Cem Özdemir: Wenn Grüne regieren, gibt es immer die Erwartung, dass sie
       alle Probleme dieser Welt lösen. Daran sind wir auch selbst nicht ganz
       unschuldig. Aber: Wir haben 50 Millionen Flüchtlinge weltweit, Europa macht
       die Schotten dicht, das deutsche Asylrecht wird immer weiter ausgehöhlt.
       
       Das heißt? 
       
       Das wird der Bezirk Kreuzberg alleine nicht gestemmt bekommen. Da stehen
       das Land und der Bund als Gesetzgeber in der Verantwortung. Wie geht man um
       mit dem Bleiberecht, dem Asylbewerberleistungsgesetz, mit der
       Residenzpflicht, der angemessenen Unterbringung? Nur ein Bruchteil davon
       fällt in die Zuständigkeit der Bezirksbürgermeisterin und des Baustadtrats.
       Das kapieren nicht alle, die sich mit den Flüchtlingen solidarisieren, und
       der eine oder andere will es wohl auch gar nicht. Vielleicht auch, weil
       einige Spaß daran haben, die Grünen vorzuführen.
       
       Die Kreuzberger Grünen haben recht hohe Erwartungen geweckt. 
       
       Wir tun alles, was wir können, aber wir sind nicht allein auf der Welt, und
       wir sind auch nicht allein in Kreuzberg. Da stoßen wir an Grenzen, und
       müssen da auch ehrlich mit uns selbst sein. Sicherlich müssen wir das als
       Grüne aufarbeiten. Wo ist der Eindruck entstanden, dass man Dinge
       verspricht, die man nicht halten kann? Selbst wenn wir in Kreuzberg die
       absolute Mehrheit hätten, wenn wir in Berlin regieren sollten und 2017 im
       Bund, sage ich schon mal vorsorglich, werden wir auch nicht das Paradies
       auf Erden ausrufen können.
       
       Es gab trotzdem die Hoffnung, dass man das in Kreuzberg anders lösen kann.
       War das naiv? 
       
       Als Baden-Württemberger Realo bin ich nicht im Verdacht mit den Kreuzberger
       Grünen immer einer Meinung zu sein. Aber zur Ehrenrettung der Kreuzberger
       muss ich mal sagen: Man kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie nicht mit
       Engelsgeduld versucht hätten, eine solidarische und menschliche Lösung zu
       finden. Man hat ja nicht nur eine Verantwortung für die Flüchtlinge,
       sondern auch für die Anwohner. Für den Gesamtbezirk. Das blenden einige aus
       der selbsternannten Soli-Szene komplett aus.
       
       Welche Verantwortung meinen Sie? 
       
       Der politische Protest ist wichtig und braucht seinen Raum. Die Gefahr ist
       aber da, dass das Signal gesetzt wird, wenn du Dächer besetzt und mit
       Selbstmord drohst, dann erreichst du mehr. Das kann nicht die Botschaft
       sein. Zumal für eine Partei, die ja immer noch ihre Wurzeln auf gewaltfreie
       Konfliktlösung zurückführt. Erpressung, Einsatz von Gewalt sind
       inakzeptabel. Es gibt ein staatliches Gewaltmonopol, das kann nicht durch
       Kapuzenträger ersetzt werden.
       
       Ihre Co-Vorsitzende hat gerade ein Bleiberecht für die Flüchtlinge in der
       Schule in der Ohlauer Straße in Kreuzberg gefordert. Widerspricht sich das
       nicht? 
       
       Es wäre ungerecht und das falsche Signal, jetzt eine Gruppe aufgrund der
       aktuellen Situation besonders zu behandeln. Realistisch und notwendig ist,
       dass jeder Einzelfall geprüft wird. Und dass man mit den Bundesländern, aus
       denen die Flüchtlinge kommen, versucht, Lösungen zu finden. Die wenigsten
       sind ja aus Berlin. Da ist Innensenator Henkel gefragt. Er trägt dafür die
       Verantwortung. Ich habe große Sympathien für die Forderung nach einem
       Bleiberecht. Ich wage nur zu sagen, dass ich nicht sehe, dass Berlins
       Innensenator Henkel und der Bundesinnenminister sie in absehbarer Zeit
       erfüllen wird.
       
       Sie können das gut verstehen? 
       
       Ich kann verstehen, dass das schwierig ist. Niemand hat ein Interesse
       daran, dass sofort jedes Asylbewerberheim besetzt wird. Aber sich
       zurückzulehnen und die Verantwortung in den Bezirk abzuschieben, ist keine
       Lösung. Man muss sich überlegen: Sind wir der Meinung, wie Navid Kermani
       gesagt hat, dass unser Artikel 16 zum Asylrecht ein hohes Gut ist und dass
       es eine Schande war, dass ihn der Bundestag 1993 halb zum Steinbruch
       gemacht hat. Da sage ich Ja! Deshalb müssen wir die individuelle Prüfung
       von Asylanträgen verteidigen und legale Zugangswege für Flüchtlinge
       schaffen.
       
       Sie wohnen in Kreuzberg am Kottbusser Tor, nicht weit von der Ohlauer
       Straße. Haben Sie von den Geschehnissen in der Schule etwas mitbekommen? 
       
       Natürlich bekommt man das mit, wenn man im Bezirk wohnt. Wir waren durchweg
       im Gespräch mit unseren Leuten aus dem Bezirk, Landesvorstand,
       Abgeordnetenhaus und Bundestagsfraktion. Sie haben pausenlos verhandelt.
       Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Versetzen sie sich mal in die Lage des
       Baustadtrats Panhoff: Die Polizei sagt, sie zieht ab und es ist völlig
       klar: Es kann keine Lösung geben, wenn noch mehr Leute ins Haus kommen und
       es wieder besetzen.
       
       Die Grünen haben also alles richtig gemacht? 
       
       Nein, aber was wäre richtig? Einfach gemacht hat es sich dort niemand. Ist
       es notwendig, dass die Polizei aus allen Teilen Deutschlands kommt wie
       früher am 1. Mai? Meines Erachtens nein. Ist es notwendig, dass man den
       ganzen Kiez lahmlegt? Meines Erachtens nein. Ist es aber notwendig, dass
       die Polizei den Eingang zur Schule sichert? Eindeutig ja. Sonst würde das
       passieren, was auch schon am Oranienplatz passiert ist. Dass leider ein
       Teil der Verhandlungspartner nicht absprachetreu ist. Das blendet die
       Unterstützerszene geflissentlich aus. Die Polizei gehört zu einer
       Demokratie dazu. Die muss an der Schule dafür sorgen, dass kein
       rechtsfreier Raum entsteht.
       
       Manche Soziologen würden sagen: Es wird zwar viel von Toleranz geredet, in
       Kreuzberg etwa, darunter schwelen aber trotzdem Ressentiments. 
       
       Es gibt schon ein hohes Maß an Sensibilisierung in Kreuzberg. Trotz aller
       Solidarität ist für die Anwohner die Situation eine riesige
       Herausforderung. Auch Berlin kann nicht mit einem Fingerschnips
       Massenunterkünfte für tausende Flüchtlinge zur Verfügung stellen und die
       Verantwortung anderer Bundesländer mit übernehmen. Darüber müssen wir offen
       reden.
       
       Wie denn? 
       
       Man darf nicht vergessen, dass alles, was wir tun, im Gegensatz zu dem, was
       andere Länder tun, auf Schwäbisch würde man sagen ‚a Nasenwässerle‘ ist.
       Ein Rinnsal. In der Türkei, in Jordanien oder im Libanon gibt es Millionen
       Flüchtlinge. Diesen Ländern muss man ein riesiges Kompliment machen. Ich
       wüsste nicht, welche Debatten das bei uns auslösen würde. Bei uns hätte man
       wahrscheinlich das Gefühl, die Demokratie käme ins Wanken.
       
       Akzeptieren die Kreuzberger die Polizei heute mehr als noch vor 20, 30
       Jahren? 
       
       Die Demonstranten der 70er-Jahre hatten andere Anliegen, und die Polizei
       ist anders vorgegangen. Die Veränderung macht auch vor Kreuzberg nicht
       halt. Im Guten wie im Schlechten. Beim dem ein oder anderen Jugendlichen,
       auch aus der Unterstützerszene der Flüchtlinge, habe ich das Gefühl, die
       haben ein bisschen zu viel „Durchs wilde Kurdistan“ von Karl May gelesen
       und kamen zu spät für eine Weltrevolution. Manche Schlachten sind halt
       einfach schon von Älteren geschlagen. Aber diese jungen Leute suchen sich
       jetzt trotzdem ein Betätigunsgsfeld. Dafür sollte man die Flüchtlinge nicht
       missbrauchen. Dazu ist die Sache zu ernst.
       
       4 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johannes Gernert
       
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