# taz.de -- Zum Tod des Politologen Iring Fetscher: Marx, Brandt und die Wichtelmänner
       
       > Er holte Karl Marx aus den ideologischen Schützengräben, beriet die SPD
       > und interessierte sich früh für Ökologie. Nun ist Iring Fetscher
       > gestorben.
       
 (IMG) Bild: Rettete das Emanzipatorische der Marx’schen Theorie: Iring Fetscher in seinem Arbeitszimmer in Frankfurt am Main, 2002.
       
       Vor einigen Jahren sagte der damals 90-jährige Politikwissenschaftler
       [1][Iring Fetscher] am Rande der Beerdigung eines 81-jährigen Kollegen:
       „Die jungen Leute sterben uns weg.“ Das war ein typischer Satz für
       Fetschers Humor und seinen Optimismus: Mit 81 ist man jung und mit 90 nicht
       alt – auf jeden Fall nicht so alt, dass man nicht mehr selber Auto fahren
       könnte. Fetscher verabschiedete sich, stieg ein und fuhr weg.
       
       Iring Fetscher wurde am 4. März 1922 in Marbach am Neckar geboren und wuchs
       seit seinem zweiten Lebensjahr in Dresden auf, wo sein Vater bis zu seiner
       Entlassung durch die Nazis am Hygienischen Institut arbeitete. In seiner
       Autobiografie von 1995 („Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu
       verstehen“) beschrieb er sich in seinen Kinderjahren als „ängstlicher
       Außenseiter“ und schlechter Schüler. Als Heranwachsender begeisterte er
       sich zeitgemäß für Schopenhauer, Nietzsche und Oswald Spengler.
       
       Als 18-Jähriger meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht mit dem festen
       Wunsch, Offizier zu werden. Rund zwei Fünftel seines autobiografischen
       „Versuchs, sich selbst zu verstehen“ sind der militärischen Ausbildung und
       dem Krieg gewidmet, in dem er es bis zum Oberleutnant der Artillerie
       brachte. Er erlebte den Krieg im Osten, im Westen und im Norden und geriet
       bei Kriegsende für kurze Zeit in britische Gefangenschaft.
       
       Im Herbst 1945 kam Fetscher nach Dresden zurück, wo er erfuhr, dass sein
       Vater „am letzten Kriegstag, als die ’bedingungslose Kapitulation‘ bereits
       vereinbart war, von einer in den Trümmern Dresdens herumirrenden SS-Streife
       erschossen worden war“. Der Schock verstärkte Fetschers „schon während der
       letzten Kriegsjahre erwachte Religiosität“. Die Sinnsuche und Sinnkrise
       endete mit der Konversion zum Katholizismus.
       
       Trotzdem studierte er beim aufgeklärten Kulturprotestanten Eduard Spranger
       in Tübingen. Entscheidend für sein Dissertationsthema („Hegels Lehre vom
       Menschen“, 1950) wurde seine Begegnung mit dem legendären Hegel-Interpreten
       Alexandre Kojève während eines Auslandssemesters 1948 in Paris. Nach der
       Promotion arbeitete Fetscher als wissenschaftlicher Assistent und
       Lehrbeauftragter an den Universitäten Tübingen (bis 1956) und Stuttgart
       (1957–59).
       
       1959 habilitierte er sich mit seiner Arbeit über „Rousseaus politische
       Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs“. Das Buch
       erlebte zahlreiche Auflagen und ist bis heute ein Standardwerk der
       Rousseau-Literatur geblieben. Fetscher interpretierte Rousseau nicht als
       Theoretiker der modernen Demokratie, sondern als Kritiker der alten
       feudalen Gesellschaft und der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der
       mit der kapitalistischen Dynamik das ethische Fundament und das politische
       Augenmaß abhandengekommen sei.
       
       1963 wurde Fetscher als Politikwissenschaftler auf einen Lehrstuhl in
       Frankfurt berufen, den er bis zur Emeritierung 1988 behielt, obwohl ihn
       zahlreiche Rufe anderer Universitäten erreichten.
       
       ## Unverstellter Blick auf Marx' Theorie
       
       Gegen konservativ-staatsfromme Strömungen in der bundesdeutschen
       Politikwissenschaft zogen Fetscher und zahlreiche seiner Schüler, die
       Professor wurden (Walter Euchner, Eike Hennig, Dieter Senghaas, Gert
       Schäfer, Rainer Eisfeld und andere), dem Fach solide
       demokratisch-emanzipatorische Fundamente und Verstrebungen ein.
       
       Schon mitten im Kalten Krieg – seit Mitte der 50er-Jahre – beschäftigte
       sich Fetscher mit Marx und dem Marxismus und trug damit dazu bei, die
       Diskussion über die Marx’sche Theorie, die bis dahin nur aus ideologischen
       Schützengräben und antikommunistischen Festungen heraus geführt worden war,
       auf ein wissenschaftliches Niveau zu heben.
       
       Fetscher gehörte zu den Herausgebern und Autoren der seit 1954
       erscheinenden „Marxismusstudien“. In seinem mehrfach wiederaufgelegten
       Sammelband „Karl Marx und der Marxismus“ präsentierte er seine Aufsätze aus
       den „Marxismusstudien“.
       
       Viele dieser Aufsätze sind auch in andere Sprachen übersetzt worden, weil
       sie einen vom Marxismus-Leninismus-Konstrukt unverstellten Blick auf Marx’
       Theorie ermöglichten und den fundamentalen Widerspruch zwischen
       „marxistischer Theorie und sowjetischer Praxis“ ins Zentrum stellten.
       
       Bereits Fetschers Antrittsvorlesung in Tübingen widmete sich dem Thema
       „Marxismus und Bürokratie“ (1959). Er zeigte darin, dass „Marx und Engels
       leidenschaftliche Gegner der Bürokratie“ waren und dass die bürokratische
       Inszenierung unter den Etiketten „real existierender Sozialismus“ oder
       „Marxismus-Leninismus“ vor allem dazu diente, „die Parteidemokratie
       lahmzulegen“ und einer autoritär herrschenden Oligarchie den Weg zu ebnen.
       
       Die sowjetische Praxis widersprach der – zumindest zeitweise – selbst von
       Lenin vertretenen Auffassung: „Besonders wichtige Fragen […] müssen, will
       man wirklich demokratisch handeln, nicht durch Entsendung von Vertretern,
       sondern durch die Befragung aller Parteimitglieder entschieden werden.“
       (Lenin 1907)
       
       Fetscher erkannte den akademischen und politischen Knechten Stalins in
       Moskau und Pankow rundweg den Anspruch ab, als Marx’ Erbschaftsverwalter
       aufzutreten, und rettete die emanzipatorischen Züge der Marx’schen Theorie
       für eine kritische Gesellschaftstheorie.
       
       Fetschers Buch „Von Marx zur Sowjetideologie“ (1956) erlebte bis heute über
       zwanzig Auflagen und wurde ebenso zum Klassiker wie die dreibändige
       Anthologie „Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten“ (1963–68), die
       abgelegene Texte sozialistischer Theoretiker und Politiker wieder
       zugänglich machte. 1966 gab Fetscher eine preisgünstige vierbändige
       Marx-Studienausgabe heraus, um den Studenten die Scheu vor den 42 blauen
       Bänden der Werkausgabe zu nehmen.
       
       ## Berater von Willy Brandt
       
       Neben wissenschaftlichen Arbeiten verfasste Fetscher auch launige Bücher
       wie „Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Das Märchenverwirrbuch“ (1974) und
       „Der Nulltarif der Wichtelmänner“ (1982) – eine sprach- und
       ideologiekritische Universitätssatire. Beide wurden Bestseller.
       
       Fetscher war in erster Linie Forscher und Lehrer. Er beriet jedoch auch
       Politiker wie Willy Brandt und Helmut Schmidt und gehörte der
       SPD-Grundwertekommission an – SPD-Mitglied war er seit 1946, gelegentlich
       mit argen Bauchschmerzen.
       
       Ausgestattet mit einem Sensorium für politische Stimmungen und
       Wechsellagen, erkannte Fetscher früh die Bedeutung von ökologischen Fragen.
       Er sammelte seine Arbeiten dazu unter anderem in dem Band
       „Überlebensbedingungen der Menschheit“ (1980) und beanspruchte damit nicht,
       „definitive Antworten“ zu liefern, sondern lediglich, „das
       Krisenbewusstsein“ zu vertiefen und die damals noch fast ungebrochen
       hergebetete kapitalistische Fortschritts- und Wachstumsideologie
       theoretisch und politisch zu entzaubern.
       
       Für sein wissenschaftliches Wirken wie für sein politisches Engagement als
       Citoyen wurde Fetscher mehrfach geehrt: unter anderem mit der
       Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt (1992), mit dem Bundesverdienstkreuz 1.
       Klasse (1993) und mit dem Hessischen Verdienstorden (2003). Der Aufklärer
       und demokratische Sozialist Iring Fetscher hat die BRD mitgeprägt wie
       wenige andere Intellektuelle. Er starb am Samstag im Alter von 92 Jahren.
       
       21 Jul 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.iring-fetscher.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolph Walther
       
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