# taz.de -- Debatte sexueller Missbrauch: Zeit, das Licht auszumachen
       
       > Die Odenwaldschule muss geschlossen werden. Sie ist zum Symbol der
       > institutionalisierten sexualisierten Gewalt geworden.
       
 (IMG) Bild: Man muss dem falschen Schein von Heimeligkeit den Strom abdrehen.
       
       Ein Lehrer hat dokumentierte sexualisierte Gewalt, vom Volksmund gerne und
       falsch Kinderpornografie genannt, auf seinem Computer gespeichert. Die
       Polizei kommt, beschlagnahmt das Material, die Schule kündigt dem Lehrer,
       im Nachklapp werden dem Lehrer weitere Grenzüberschreitungen vorgeworfen.
       Die Staatsanwaltschaft prüft nun den Vorfall und den neuen Vorwurf.
       
       Das hätte an jeder anderen Schule in Deutschland auch passieren können. Ist
       es aber nicht. An jeder anderen Schule hätte die Schulleitung ihrer selbst
       und der Institution wegen den Vorfall der übergeordneten Behörde gemeldet,
       hätte die Vorkommnisse diskutiert und sich selbstkritisch mit ihnen
       auseinandergesetzt. Nicht so an der Odenwaldschule.
       
       Stattdessen ließ die Schule das vom Landrat gesetzte Ultimatum, sich bis
       vergangenen Freitag zu erklären, verstreichen und musste zum Krisengespräch
       in der übergeordneten Behörde antreten. Strengere Auflagen sollen nun die
       Schule auf Kurs bringen. Monatlich rapportieren soll sie. Eine Strafarbeit
       also, wie sie eigentlich gar nicht zum Konzept der reformpädagogischen
       Schule passt. Vielleicht ist der nächste Schritt ja nachzusitzen.
       
       Anfang März erschien der Tagungsband „Reformpädagogik nach der
       Odenwaldschule – wie weiter?“ in der Verlagsgruppe Beltz, herausgegeben von
       den Professoren für Pädagogik Jürgen Oelkers und Damian Miller. Eigentlich
       ein gewöhnlicher Vorgang.
       
       ## Grenzüberschreitungen gehören mit dazu
       
       Experten einer Disziplin finden auf einer Tagung zusammen, so wie in diesem
       Fall im Herbst 2012 im schweizerischen Kreuzlingen, und diskutieren über
       die Frage, inwieweit die Reformpädagogik als solche für die massenhafte
       sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule verantwortlich gemacht werden
       kann oder nicht.
       
       Das Ergebnis war niederschmetternd für die Odenwaldschule. Die Gurus dieser
       Ideologie waren Grenzüberschreiter, die Ideologie begünstigt die
       Grenzüberschreitungen, und die Berichte aus der Praxis bestätigen die
       Erfahrung der Grenzüberschreitung. Worüber soll nach dieser Erkenntnisflut
       eigentlich noch diskutiert werden? Und wozu? Und mit wem? Die
       Verantwortlichen der Odenwaldschule leben in ihrer eigenen Realität, und
       die anderen sind sich weitgehend einig.
       
       Das „Familienprinzip“, nach dem eine oder mehrere Lehrerinnen und Lehrer
       mit ihren Schülerinnen und Schülern unter einem Dach in sogenannten
       Heimfamilien leben, begünstigt Grenzüberschreitungen. Darüber sind sich
       alle einig. Außer die Vertreter der Odenwaldschule.
       
       Das Familienprinzip ist nach wie vor tragendes Element der
       Internatspädagogik. Eine Einladung für Pädokriminelle. Die Reformpädagogik
       proklamiert die „Nähe zum Kind“. Näher zum Kind als auf der Odenwaldschule
       geht nun wirklich nicht mehr.
       
       ## Die sicherste Schule Deutschlands
       
       Der Tagungsband erschien Anfang März, doch die Rechtsanwälte der
       Odenwaldschule fanden erst Wochen später, ausgerechnet zum gleichen
       Zeitpunkt, zu dem über die neuesten Vorfälle in den Medien berichtet wurde,
       einen Weg, den Tagungsband aus dem Verkehr ziehen zu lassen. Das Buch ist
       gegenwärtig nicht erhältlich. Zufall?
       
       Die Odenwaldschule ist zum Symbol der institutionalisierten sexualisierten
       Gewalt geworden. Wer schickt eigentlich noch seine Kinder dorthin? Und
       wozu? Um das Stigma der „Missbrauchsschule“ mit sich herumzutragen? Die
       „sicherste Schule Deutschlands“ sollte sie nun sein, die Odenwaldschule.
       
       Und nun? Die Fortsetzung des Schulbetriebs wäre nicht nur ein Schlag in die
       Gesichter der aus früheren Zeiten Betroffenen, sondern auch die
       fortgesetzte Gefährdung der Schülerinnen und Schülern der Gegenwart.
       Zunächst hieß es, es habe keine Übergriffe auf Schülerinnen oder Schüler
       gegeben. Als wäre damit alles gut.
       
       Wie fühlt es sich denn wohl als Kind oder Jugendlicher an, wenn man aus den
       Osterferien kommt und das „Familienoberhaupt“ aus seiner Wohnung ausgezogen
       ist? Weil ihm gekündigt wurde. Und alle sind wieder aufgeregt, weil „so
       etwas“ doch nie wieder vorkommen sollte. Offensichtlich ist der betreffende
       Lehrer vollständig unter dem Radar der Präventionsarbeit der Odenwaldschule
       hindurchgeflogen.
       
       Man muss Kinder vielleicht nicht unbedingt hassen, um sie auf die
       Odenwaldschule zu schicken, aber diese Entscheidung lässt sich natürlich
       viel leichter treffen, wenn sie einem ziemlich egal sind.
       
       ## Fortbestand als Zumutung
       
       Die Odenwaldschule zu schließen wäre nicht nur ein verantwortungsvoller
       Schritt gegenüber den gegenwärtigen Schülerinnen und Schülern, es wäre auch
       ein Zeichen an alle Beteiligten, dass in Deutschland zwar vieles möglich
       ist, aber eben auch nicht alles. Dass es eben doch noch Grenzen gibt dafür,
       was sich eine pädagogische Einrichtung alles erlauben kann.
       
       Vielleicht könnten die Betroffenen, die auf der Odenwaldschule
       sexualisierte Gewalt erlebt haben, dann endlich aufatmen. Der Fortbestand
       der Schule bedeutet für sie, dass die Wunden der Vergangenheit immer wieder
       neu aufgerissen werden. Eine Zumutung. Eine Fortsetzung der Beschädigungen.
       Eine Tragödie in endlosen Akten. Vielleicht flüchtet sich die Schule wieder
       in die Einzeltäterlüge.
       
       Vielleicht auch in die Lüge, dass das alles nicht so schlimm sei. Die
       Vergewaltigungen von Schülern durch das Personal unter der Dusche sind ja
       zum Glück in den 1980ern verortet. Vielleicht verspricht die Schule aber
       auch einfach, dass in Zukunft alles besser werden soll. Ab morgen. So wie
       der Trinker verspricht, ab morgen mit dem Trinken aufzuhören.
       
       Wie oft soll die Welle der medialen Empörung noch über das Land schwappen?
       Bis zum nächsten Vorfall? Und dann? Dann können wir wieder das Entsetzen,
       die Fassungslosigkeit, den Zorn der Betroffenen und die Beschwichtigungen
       der Verantwortlichen der Odenwaldschule in der immer mehr oder weniger
       gleichen Choreografie betrachten. Während diejenigen den Preis dafür
       zahlen, dass Erwachsene verantwortungslos gegenüber denjenigen handeln,
       denen gegenüber sie verantwortlich sind: die schutzbefohlenen Kinder. So
       war es in 100 Jahren Odenwaldschule. So ist es heute.
       
       Das Licht zieht die Motten an. So wie die Odenwaldschule die
       Pädokriminellen. Es ist Zeit, dort das Licht auszumachen.
       
       4 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Norbert Denef
 (DIR) Andreas Huckele
       
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