# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 15. August: Die Arbeitslosigkeit der Frauen
       
       > Der Mangel an Arbeitsstellen wird zu einem immer größeren Problem.
       > Besonders Frauen sind betroffen. Dabei gäbe es einige Maßnahmen.
       
 (IMG) Bild: Frauen bei der Arbeit, 1914.
       
       Über die Konferenz im Reichsamt des Innern, die unter dem Vorsitz des
       Staatssekretärs Dr. Delbrück sich mit der Arbeitslosigkeit der Frauen
       beschäftigte, haben wir im gestrigen Abendblatt berichtet. Privatdozent Dr.
       Franz Oppenheimer gehörte zu den Teilnehmern der Konferenz. Die Redaktion
       
       Von allen wirtschaftlichen Problemen, vor die uns dieser schwere Krieg
       stellt, ist eines das im Augenblick dringendste und gefährlichste: die
       kolossale Frauennot durch Arbeitslosigkeit. Sie ist extensiv und intensiv
       ungeheuer. Zahllose weibliche Arbeiter und Angestellte liegen schon jetzt
       auf dem Pflaster, neue, ungeheure Scharen werden nach Ablauf der
       gesetzlichen Kündigungsfristen freigesetzt werden. Die Warenhäuser haben
       große Teile ihres Personals entlassen müssen und werden weitere Teile
       entlassen; die Privatbeamtinnen, Maschinenschreiberinnen, Stenographinnen
       usw. sind vielfach entlassen worden, teils weil ihre Arbeitgeber zur Fahne
       einberufen worden sind, teils weildiese selbst ihre Existenz verloren haben
       (Schriftsteller) oder sich schwer einschränken müssen.
       
       Die Konfektion steht still, und ihre Heimarbeiterinnen sind brotlos; die
       Textilindustrie leidet furchtbar, und ihre meist weiblichen Arbeiter werden
       scharenweise entlassen. Andere Fabriken müssen schließen, weil ihnen die
       Mobilmachung ihre männlichen Arbeiter entzogen hat, und so sind auch die
       weiblichen Mitarbeiterinnen zum Feiern gezwungen. Armeen von Dienstboten
       sind entlassen oder gekündigt; sie bieten sich für Kost und Logis
       händeringend an; das große Heer der Zimmervermieterinnen und
       Pensionsinhaberinnen steht vor dem Ruin, weil die Mehrzahl der jungen
       Männer, Studenten, Offiziere, Kaufleute usw. eingerückt ist, und weil die
       zahllosen Fremden fehlen, die sonst Berlin bevölkern. Not und Verzweiflung
       überall!
       
       Hier muß sofort Hilfe geschaffen werden, soll nicht die Prostitution zu
       Myriaden ihre Opfer fordern. Auch ist hierbei – in so ernsten Zeiten darf
       nichts prüde verschwiegen werden – zu bedenken, daß ein gewaltig großes
       Zwischenreich zwischen der anständigen Frau und der offenen Prostituierten
       besteht, sehr viele Mädchen, die ihren Arbeitsverdienst durch Geschenke von
       Freunden ergänzten: sie, die jetzt beides verlieren, sind vor allem davon
       bedroht, gänzlich zu versinken.
       
       In der großen Sitzung, die am Donnerstag im Reichsamt des Innern stattfand,
       bestand Einigkeit der Anschauungen in fast allen Punkten. Statt den
       Unversorgten mehr als bisher zu helfen, stoßen die Wohlhabenden durch ihr
       kopfloses Verhalten neue ungezählte Frauen ins Elend hinab. Natürlich ist
       in so ernsten Zeiten Sparsamkeit schon aus sittlichen Beweggründen dringend
       geboten, und sehr viele sind auch aus wirtschaftlicher Bedrängnis dazu
       gezwungen. Aber es ist heute falsch, an Menschen, an Personal zu sparen.
       Wer sein bisheriges Hauspersonal nicht weiter voll bezahlen kann, sollte
       nur in äußerster Notlage zu Entlassungen schreiten.
       
       Lieber den Lohn herabsetzen, unter Umständen, wenn es gar nicht anders
       geht, auf Kost und Logis ohne Lohn abschließen, bis bessere Zeiten
       wiederkommen! Friseusen, Näherinnen, Wirtschafterinnen und ähnliches
       Hilfspersonal nicht abschaffen, sondern lieber weniger bezahlen, wenn es
       durchaus nicht anders geht, und womöglich mehr einstellen! Wer heute Wäsche
       oder Kleider bestellt, kauft billig und tut ein gutes soziales Werk.
       
       Aber mehr noch! Nicht genug, daß die Frauen der oberen Klassen
       Arbeitsplätze einziehen, sie drücken durch ihre kopflose Konkurrenz andere
       Zehntausende von Bedürftigen aus ihren Arbeitsplätzen heraus! Wir begreifen
       völlig die große, schöne Sehnsucht nach Betätigung im Dienste des
       Vaterlandes, die unsere Frauenwelt ergriffen hat; auch wir empfinden sie ja
       im tiefsten und schauen sehnsüchtig nach einem Werke des allgemeinen
       Nutzens aus. Aber das muß mit Verstand und sozialpatriotischer Einsicht
       geschehen. Die versorgten Frauen dürfen grundsätzlich nur solche Arbeit
       annehmen, die nur ehrenamtlich geleistet wird und geleistet werden kann:
       Recherchen, Rat, Organisation neuer Vereine und dergleichen. Statt dessen
       drängen sie sich überall zu solcher Arbeit, die im regelmäßigen Verlauf der
       Dinge bezahlt wird und bezahlt werden muß! Wie der schöne Übereifer der
       wohlhabenden Jugend, der Wandervögel usw. gebremst werden mußte, um die
       Arbeitsstellen erwachsenen Arbeitslosen zu sichern, so muß das auch mit dem
       ebenso verständlichen und an sich sittlich schönen Übereifer der versorgten
       Frauen geschehen.
       
       Das schlimmste aber ist, daß Behörden und große Organisationen unverständig
       genug sind, solche unbezahlte Hilfe nicht nur anzunehmen, sondern zu
       suchen. Noch heute beschäftigt die Postbehörde zahlreiche Knaben der oberen
       Stände als Hilfsbriefträger und Depeschenboten, statt Arbeitslose - und
       warum nicht arbeitslose Frauen? - einzustellen. Noch heute, trotz aller
       Mahnungen der Presse, arbeiten Gymnasiasten und Studenten auf Steuerbureaus
       und Einquartierungsämtern usw. umsonst, während arbeitswillige Erwachsene
       vor dem Nichts stehen! In einem der Briefe, die ich erhielt, klagte ein
       brotlos gewordener Maschinenschreiber, daß ein nationaler Verein ihn nur
       ohne jedes Gehalt anstellen wollte, weil freiwillige Hilfskräfte im Übermaß
       vorhanden seien.
       
       Beim Roten Kreuz - und das beklagte in der Sitzung der Vertreter dieser
       segensreichen Organisation, Dr. Kühne, selbst - werden, wie man berichtet,
       nur solche Frauen eingestellt, die nicht nur auf jede Vergütung verzichten,
       sindern sich sogar zu Selbstverpflegung verpflichten. Es scheint, als wenn
       man auf diese Weise sogar die doch jeder frisch angelernten Kraft weit
       überlegeneren berufsmäßigen Krankenpflegerinnen größtenteils und gewiß
       nicht zum Nutzen unserer Verwundeten ausgeschlossen wären.Hier und bei
       ähnlichen Vereinen dürfte der Staat nicht knausern. Mag immerhin die freie
       Liebestätigkeit in der eigentlichen Krankenpflege breiten Raum behalten:
       für alle niedere Arbeit aber, Reinigung, Küche, Näharbeit usw. müssen
       bezahlte Kräfte in möglichst großer Zahl eingestellt werden, und zwar aus
       Mitteln des Reiches, da die Vereine ihre Mittel für ihre eigentlichen
       Zwecke dringend brauchen.
       
       Ebensowenig sollte man kopflos alle möglichen Anstalten, die für ältere
       Wohlfahrtszwecke nach wie vor dringend gebraucht werden, evakuieren und der
       Verwundetenpflege einräumen. Und private wie öffentliche Ämter sollten
       alles vermeiden, was die unversorgte Arbeitslosigkeit vermehren kann.
       [1][Warum stellt die Berliner Straßenbahn grundsätzlich nur Frauen der
       eingerückten Schaffner ein?] Die sind ohnehin ausreichend versorgt. Aber
       man sagt, es koste die Gesellschaft eben infolgedessen kaum einen Zuschuß.
       
       Alle diese Dinge müssen sofort aufhören, und schon das wird einige Hilfe
       bringen. Aber es wird nur bestenfalls dazu dienen, die noch vorhandenen
       Arbeitsplätze den Unversorgten zu sichern und wiederzugeben, aber nicht,
       die verloren gegangenen Arbeitsplätze neu zu eröffnen. Darum muß der
       negativen Aktion der Enthaltung von der Konkurrenz die positive der
       Arbeitsbeschaffung zur Seite treten.
       
       Alle, Private wie Behörden, sollten ihre Betriebe so weit wie möglich im
       alten Umfang und möglichst mit Frauenarbeit aufrecht erhalten oder ihn
       wieder erweitern, wo er schon eingeschränkt war. Das gilt für die Post- und
       Telegraphenverwaltung, für die Eisenbahnen und Straßenbahnen und andere.
       Warum sollten Frauen nicht Briefträger, Depeschenboten, Bahnsteigschaffner
       und vielleicht sogar Schalterbeamte sein können? (Die männlichen
       Arbeitslosen dürfen darüber nicht vergessen werden! Die Red.) Wo die
       sozialpolitischen Gesetze im Wege stehen, soll man sie ruhig bis auf
       bessere Zeiten suspendieren. Sie sind für, nicht gegen die Frauen
       geschaffen worden: heute kann die Wohltat vielfach zur Plage werden.
       Besser, eine Frau arbeitet einige Wochen im Bergwerk unter Tage, als sie
       verfällt dem Hunger und der Schande.
       
       Ferner sollten die Reichs- und Staatsbehörden den Frauen Arbeit schaffen!
       Im größten Maßstabe, gleichgültig, welche Mittel dafür erforderlich sind,
       und woher sie genommen werden. Die Militärverwaltung hat sich bereits zu
       weitgehenden Zugeständnissen in dieser Richtung bereit erklärt; sie will
       die bestehenden Veträge mit Großfirmen lösen und die Arbeit an kleine Leute
       vergeben, wenn eine verhandlungsfähige Organisation geschaffen werden kann.
       Sie scheint auch bereit zu sein, schon jetzt für den Bedarf des kommenden
       Friedens auf Lager arbeiten zu lassen. Das letztere wäre eine ungeheure
       Hilfe! Aber alle anderen Behörden sollten das gleiche tun: auch Eisenbahn-,
       Post-, Gefängnisverwaltung usw. brauchen große Posten von Kleidung,
       Uniformen, Wäsche. Heraus mit den Aufträgen.
       
       Zu dem Zwecke sollten die Arbeiterinnen sich sofort in einer Art von loser
       Genossenschaft zusammenschließen, denen man öffentliche Gebäude als
       Arbeitsstätten und nach Möglichkeit Arbeitsbehelf, Nähmaschinen usw. zur
       Verfügung stellen müßte. Sie sollten die Arbeiten im Gruppenakkord
       übernehmen. Gerade in diesem Zweige, der Militärschneiderei und -näherei,
       haben sich 1848 die berühmten Ateliers nationaux, im übrigen bekanntlich
       ein voller Mißerfolg, durchaus bewährt. Und uns stehen in den
       Gewerkschaftsbeamten organisatorische Kräfte ausreichend zur Verfügung.
       
       Schließlich ein bewährtes Mittel aus der Praxis der Gewerkschaften:
       Wanderunterstützung, natürlichen Verhältnissen angepaßt, zur Entlastung des
       Marktes der weiblichen Arbeit. Man sollte allen Frauen und Mädchen, die die
       Großstadt verlassen und zu Verwandten oder Freunden aufs Land oder in die
       Kleinstädte ziehen können und wollen, freie Bahnfahrt, im Notfall ein
       Zehrgeld und einen kleinen Monatszuschuß gewähren, 15 bis 20 Mark. Das wäre
       eine sehr große Ersparnis, denn in der Großstadt kostet die Person das
       Doppelte bis Dreifache - und unterhalten muß man sie ja doch!
       
       Nach meinem Vorschlage aber spart man die Kosten für die Wohnung ganz und
       starke Teile der Nahrungskosten: Kartoffeln kosten in normaler Zeit auf dem
       Lande etwa eine Mark, in Berlin aber drei Mark pro Zentner. Und wir wissen
       aus Erfahrungen mit unseren ALters- und Invaliditätsrentnern, daß in
       ländlichen Familien Personen selbst mit kleinem Geldeinkommen sehr
       willkommen sind, wenn sie es nur verstehen, sich einigermaßen nützlich zu
       machen. Wenn unsere arbeitslosen Mädchen 15 bis 20 Mark monatlich zahlen
       und dabei etwas Hausarbeit und vielleicht leichte Gartenarbeit übernehmen,
       so werden sie hochwillkommen sein, besonders in dieser Zeit, wo so viele
       Männer im Felde stehen und die Landfrau mit der Außenwirtschaft alle Hände
       voll zu tun hat.
       
       Die Mittel für diese Wanderunterstützung werden für alle organisierten
       weiblichen Arbeiter und Angestellten ihre Gewerkschaften gerne aufbringen
       und längere Zeit aufbringen können. Sie hätten, bleiben die Mitglieder in
       der Großstadt, viel mehr zu zahlen, das Doppelte und darüber. Auf diese
       Weise könnten sie beträchtliche Summen sparen oder doch ihre Beiträge für
       längere Zeit gewähren. Der bedeutende "Kaufmännische Verband für weibliche
       Angestellte" hat auf meine Anregung bereits beschlossen, in diesem Sinn
       vorzugehen, wenn von anderer Seite für die Nichtorganisierten das gleiche
       geschieht.
       
       Für diese hätten der Staat und Kommunen gemeinsam die Mittel
       bereitzustellen. Es wird da für beide eine doppelte Ersparnis bedeuten,
       unmittelbar, weil die Unterhaltung in der Großstadt viel teurer ist, und
       mittelbar, weil die starke Entlastung des Arbeitsmarktes Beschäftigungsgrad
       und Lohn der Bleibenden heben und die Fürsorge entlasten muß.
       
       Man kann, um auch solchen fortzuhelfen, die auf dem Lande seine Verwandte
       oder Freunde haben, daran denken, durch Vermittlung der
       landwirtschaftlichen Behörden und der Kreispresse Landwirte aufzufordern,
       sich um Zuweisung von arbeitslosen Frauen gegen geringe Entschädigung zu
       bewerben. Hier müßte natürlich mit äußerster Vorsicht gesiebt werden, um
       Unzuträglichkeiten zu vermeiden.
       
       Aber: schnell, sehr schnell muß daß alles geschehen! Die Not ist sehr groß,
       unschätzbare Werte nicht nur an Geld, sondern vor allem an Volkskraft und
       Volkssittlichkeit stehen auf dem Spiele! Bis dat, qui cito dat! (deutsch:
       "Zwei mal gibt, wer schnell gibt.")
       
       Quelle: Berliner Tageblatt
       
       15 Aug 2014
       
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