# taz.de -- Debatte Referendum in Schottland: Ein verunsichertes Königreich
       
       > Weil das englische Establishment geschlafen hat, könnte nun eine
       > Abspaltung Schottlands folgen. Aber sie wäre schlecht für alle.
       
 (IMG) Bild: Alles klar in Edinburgh? Freitagfrüh weiß man mehr.
       
       Für die meisten Engländer ist Schottland irgendwie Ausland. Das nördliche
       Drittel der britischen Insel mit seiner jahrhundertealten Geschichte hat
       seit jeher seine eigene Flagge, ein separat entwickeltes Bildungs- und
       Rechtssystem, eine eigene Fußball-Nationalmannschaft und eine eigene
       Fußballliga. Auf Englands Autobahnwegweisern endet der Horizont mit dem
       „Norden“, womit der Norden Englands gemeint ist, nicht Schottland. Im
       englischen Erdkundeunterricht lernte man, als man solche Dinge noch lernte,
       die englischen und walisischen Grafschaften, nicht aber die schottischen.
       Es gibt sogar schottische Geldscheine, obwohl diese selten geworden sind.
       
       Sollte Schottland am Donnerstag bei seiner historischen Volksabstimmung die
       Unabhängigkeit wählen, wäre das für die meisten Engländer daher weniger ein
       Schlag aus heiterem Himmel als der Vollzug eines bedauerlichen Prozesses.
       Schließlich gibt es schon längst eine schottische Autonomieregierung, und
       sie wird seit einigen Jahren von der SNP (Schottische Nationalpartei)
       geführt, die aus ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit nie ein Hehl gemacht hat.
       Auf Ablehnung stieße in England wohl nicht so sehr die Sezession
       Schottlands, sondern die Teilung Großbritanniens, dessen Verlust ein
       Verlust an eigener Identität wäre.
       
       Es gehört zum guten Ton der sich für aufgeklärt haltenden Linken in Europa,
       Großbritannien für ein imperiales Relikt zu halten, dessen Fortbestand ein
       Anachronismus ist. Diese Haltung ist nur möglich durch Unkenntnis dessen,
       was britische Werte eigentlich ausmacht: nämlich die Anerkennung mehrerer
       Identitäten und Horizonte als Grundlage und Bestandteile eines größeren
       Ganzen, dessen Funktionieren auf gegenseitigem Respekt beruht.
       
       Doch dieses plurale Selbstverständnis hat in jüngster Zeit nicht nur in
       Schottland, sondern auch in England gewaltig gelitten, und es ist
       keineswegs sicher, dass es eine Spaltung des Staatswesens überleben würde.
       Im Streben, den Zug der Globalisierung nicht zu verpassen, haben britische
       Regierungen aller Couleur in den letzten Jahrzehnten die eigene
       Gesellschaft vernachlässigt. Aus gegenseitigem Respekt zwischen den
       Landesteilen ist gegenseitige Ignoranz geworden, die Pflege von
       Verfassungserbe und Kultur wird kaum noch vermittelt. Nach Jahren der
       Wirtschaftskrise erscheint Großbritannien heute verunsicherter denn je. Die
       junge Generation ist ärmer als die ihrer Eltern. Die Öffentlichkeit ist in
       sich gekehrt, mit materiellen Sorgen beschäftigt. England ist tief
       gespalten zwischen einem wohlhabenden konservativen Süden und einem
       kriselnden Labour-wählenden Norden.
       
       ## Salmond agiert, nicht Cameron
       
       In Großbritannien heute ist es der schottische Premierminister Alex
       Salmond, der agiert, und der britische Premier David Cameron, der reagiert.
       Cameron und seine Konservativen gestanden zwar den schottischen
       Quälgeistern in einem Anflug von Herablassung ihr blödes kleines
       Unabhängigkeitsreferendum zu, aber haben es eben genauso idiotisch
       behandelt: als Befriedungspolitik statt als Herausforderung. Sie haben es
       nicht genutzt, um eine breite gesellschaftliche Zukunftsdebatte zu führen,
       obwohl genau dies die logische Folge ihres an Labour gerichteten Vorwurfs
       einer „zerbrochenen Gesellschaft“ bei ihrem Wahlsieg 2010 gewesen wäre.
       
       Eine positive Vision für Großbritannien würde die Bereitschaft zur
       institutionellen Neuordnung im ganzen Land, nicht nur in Schottland
       bedeuten; eine klare Gewaltenteilung nicht nur innerhalb des Zentralstaats,
       sondern auch zwischen der lokalen, regionalen und zentralen Ebene. Eine
       positive Vision für den britischen Staat könne den Schotten Salmond als das
       entlarven, was er eigentlich ist: ein autoritärer Demagoge, der die größten
       sozialen Ungleichheiten in ganz Großbritannien verantwortet, im eigenen
       Land Zentralisierung und Vetternwirtschaft praktiziert und Kritik als
       Landesverrat brandmarkt.
       
       Stattdessen erschöpft sich der Wahlkampf der schottischen
       Unabhängigkeitsgegner in Warnungen, Schottland würde bei einer Abspaltung
       pleitegehen. Sie haben vermutlich recht, aber sie geben sich damit
       ängstlich und überlassen es der Gegenseite, als mutig und risikobereit
       aufzutreten und damit in die Fußstapfen der größten britischen Wahlsieger
       der jüngeren Geschichte zu treten: Margaret Thatcher und Tony Blair. Es ist
       aufschlussreich, dass Salmond gerade diese zu Erzfeinden erkoren hat und
       sich damit unmerklich an ihnen misst. Blair steht in der Salmond-Weltsicht
       für illegale kriegerische Abenteuer, Thatcher für Sozialabbau; Salmond für
       soziale Wohltaten ohne Ende, finanziert durch ewig sprudelndes Öl.
       
       ## Die Stunde der Populisten
       
       Man gewinnt zuweilen den Eindruck, als ginge es Salmond weniger um einen
       wirklich unabhängigen Staat als um eine Konkurrenzregierung innerhalb des
       Vereinigten Königreichs. Sein Wahlkampf ist mindestens genauso
       parteipolitisch wie nationalistisch. Er fordert die Wähler zur Wahl
       zwischen konservativer Politik aus London und seiner eigenen auf. Er
       predigt „Freiheit“ von den Briten, aber zugleich erklärt er das britische
       Pfund zum gemeinsamen Eigentum, will die Queen behalten, die BBC, das
       staatliche Gesundheitswesen NHS und die Sonderbedingungen der britischen
       EU-Mitgliedschaft.
       
       Wenn er damit durchkommt, wird in England die Frage nach einem eigenem
       englischen Nationalstolz, dem schottischen vergleichbar, auf die politische
       Tagesordnung rücken – mit der reaktionären Ukip (United Kingdom
       Independence Party) unter Nigel Farage als möglichem Anführer. Die
       britischen Konservativen würden das vermutlich nicht überleben, zumindest
       nicht mit Cameron als Premierminister. Auch Labour müsste bangen, denn in
       England allein, ohne die starke schottischen Kohorte, ist die britische
       Arbeiterpartei nicht mehrheitsfähig.
       
       Die Sieger eines schottischen „Ja“ würden Alex Salmond und Nigel Farage
       heißen – zwei begnadete, zutiefst unangenehme Demagogen. Sie würden
       gemeinsam und gegeneinander triumphierend über den Untergang des alten,
       schlaffen britischen Establishments lästern. Ob dann noch viele Linke
       jubeln?
       
       17 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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