# taz.de -- Wolfgang Herrndorfs neuer Roman: Verrückt, aber nicht bescheuert
       
       > Posthum ist Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“ erschienen –
       > ein Roadmovie in Romanform über Isa, die aus der Klapse entschlüpft.
       
 (IMG) Bild: Nicht denken und lieber selbst Wolke werden. Wer kennt das nicht?
       
       Isa ist verrückt, aber nicht bescheuert. Gleich auf der zweiten Seite
       findet Wolfgang Herrndorf in seinem nachgelassenen Roman „Bilder deiner
       großen Liebe“ eine schöne Beschreibung dafür, wenn Isas Daumennagel „genau
       den Rand der Sonne berührt, damit sie nicht mehr weiterwandert. Und da
       wandert die Sonne nicht mehr weiter, und die Zeit steht still. Das ist
       leicht. Und auch das ist leicht: Mit sanftem Druck des Fingernagels schiebe
       ich die Sonne Millimeter für Millimeter zurück, und da weiß ich: Am Anfang
       war die Kraft. Isabel, Herrscherin über das Universum, die Planeten und
       alles.“
       
       Erinnern Sie sich? Als Sie so dreizehn, vierzehn waren, im Gras lagen und
       zu den Wolken aufschauten und sich fragten, ob das überhaupt möglich ist,
       nicht zu denken und lieber selbst Wolke zu werden, als Sie nicht so genau
       wussten, ob Sie allmächtig sind oder nur ein Grashalm – aber was heißt hier
       „nur“, ist es nicht eigentlich dasselbe?
       
       So eine ist Isa. Begabt, verrückt, intelligent, empfindlich und, zur
       Sicherheit, mit einem großen Vorrat an schmutzigen Wörtern ausgestattet,
       entschlüpft sie der Anstalt, der „Klapse“, und macht sich auf die Reise,
       das Tagebuch in der Hosentasche, hinten links. Vorne rechts ist der Zettel
       mit der Adresse ihrer Halbschwester in Prag, wenn es denn ihre
       Halbschwester ist; ganz trauen können wir Isas Erzählungen nicht.
       
       Auf so einer Reise trifft man naturgemäß allerhand Leute, nette (so war das
       meistens in „Tschick“) und weniger nette (so ist das zumeist hier). Die
       erste Person, die sie im Auto mitnimmt, ist zwar eine Grüne und
       Robert-Walser-Leserin, aber trotzdem legt sie Isa unaufgefordert die Hand
       zwischen die Beine; der Fernfahrer holt sich vor ihren Augen einen runter.
       
       Das ist wichtig und muss erwähnt werden, weil Isa offenbar sehr attraktiv
       ist und nicht ansteht, dies auch zu nutzen; ihr Häutchen, übrigens, hat sie
       vor dem ersten Mal selbst weggemacht, mit einer Nagelschere; sogar der
       Binnenschiffer, dessen Kahn sie entert, ein wirklich sympathischer Gefährte
       auf ihrer Reise, hat ziemlich Mühe, ihren fortgesetzten Avancen
       standzuhalten.
       
       ## Ein Roadmovie mit vielen Bekanntschaften
       
       Und noch viele andere trifft Isa, denn es ist ja ein Roadmovie: das
       taubstumme Kind Olaf, den rasenmähenden Schriftsteller, den toten Förster
       und schließlich und endlich auch Maik und seinen russischen Freund, die wir
       aus „Tschick“ schon kennen, das muss ich deshalb nicht noch einmal alles
       erzählen.
       
       Oft sind Roadmovies oder -novels – vornehm gesagt: Aventiuren – durch ihre
       Struktur des Und-dann-und-dann etwas langweilig; das ist hier nicht der
       Fall, dazu ist dieser „Unvollendete Roman“, so der Untertitel, zu kurz, die
       Heldin zu interessant (und attraktiv) und Wolfgang Herrndorf ein zu guter
       Schriftsteller.
       
       Kurze Sätze, die man in ihrem schönen, federnden Sound gerade noch einem
       jungen Mädchen in den Mund legen kann; wenn man innehielte und darüber
       nachdächte, wie prägnant und fast vollendet Isa im Präsens auch noch (es
       ist wirklich schwierig, das literarisch überzeugend hinzubekommen) diese
       Geschichte erzählt, dann könnte man kaum glauben, dass sie die Autorin ist.
       
       Aber das fiel ja schon an den anderen Büchern Wolfgang Herrndorfs auf, so
       viele sind es nicht: „In Plüschgewittern“, der Erzählungsband „Diesseits
       des Van-Allen-Gürtels“, „Tschick“, „Sand“ und „Arbeit und Struktur“, denen
       in allen Unterschieden die Sprache gemeinsam ist – knapp, triftig,
       rhythmisch („schön“), manchmal kostbar glänzend mit seltenen Wörtern und
       komisch oft mit überraschenden Wendungen am Ende des Satzes. Leise Pointen,
       keine Kracher.
       
       ## Ausschweifungen und Nebenerzählungen
       
       Schön ist auch, dass Isa nicht immer nur neue und ausgesucht merkwürdige
       Leute trifft, so ein Kuriositätenkabinett, wie es ein weniger skrupulöser
       Schriftsteller als Herrndorf präsentiert hätte, sondern sich hier
       gelegentlich in Abschweifungen und Nebenerzählungen ergeht; den Kitschroman
       über „Gut Hohenbuchen“ beispielsweise, den Isa sich ausdenkt, quasi eine
       Vorabendserie über einen Afghanistan-Heimkehrer („und dann steht da
       plötzlich Daniel, und wir fallen uns in die Arme wie verrückt“).
       
       Oder die bizarre Geschichte vom Schäferhund Rudi, ein wahres Hohelied der
       Treue. Es ist gar nicht so einfach, wenn man ein so versierter Konstrukteur
       der Handlung ist wie Herrndorf (was er in „Sand“ auf die Spitze getrieben
       hat), solche Einfälle nicht immer gleich der Komposition unterzuordnen und
       schlimmstenfalls ganz zu streichen, sondern auch mal stehen zu lassen. Als
       hätte er sich der Fabulierlust der verrückten Isa anvertraut, in die er, so
       will ich den Titel verstehen, verliebt ist.
       
       Und die Herausgeber des Romans, Marcus Gärtner und Kathrin Passig, hatten
       ersichtlich ebenfalls die Feinfühligkeit, hier sehr behutsam zu verfahren
       und das Manuskript nicht streng durchzuredigieren. (In „Arbeit und
       Struktur“ gibt es sehr komische Beschreibungen dieses Titanenkampfes: Der
       Lektor will streichen, der Autor stimmt zu und fügt‘s heimlich wieder ein.)
       
       ## Die Herausgeber schreiben über die Entstehung des Romans
       
       In einem kurzen Anhang legen die Herausgeber die Entstehungsgeschichte des
       Buches dar. Da wird man dann noch einmal mit der Lebensgeschichte Wolfgang
       Herrndorfs konfrontiert, dieser abscheulichen Gemeinheit, dass er mit Mitte
       vierzig tödlich erkrankte. Im August 2013 ist er gestorben.
       
       Die Pistole, mit der er sich erschoss, spielt eine wichtige Rolle in diesem
       Roman. Auch Isa trägt sie bei sich, und der letzte Satz des Buches lautet:
       „Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der
       Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und
       fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem
       Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt,
       millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe.“
       
       Die längste und mir liebste Passage des Romans ist die Fahrt auf dem
       Binnenschiff. Da kommt der Leser, wie Isa, endlich einmal zur Ruhe, muss
       keine Angst mehr haben. Man tuckert da so den Kanal entlang, der Autopilot
       ist eingeschaltet, die Sonne scheint, zum Abendessen gibt es Chili, ganz
       nebenbei wird einem der Unterschied zwischen den Schiffbautypen Verdränger
       und Gleiter erläutert und warum man nie, nie bei einem Italiener an Bord
       gehen darf.
       
       Als Zugabe gibt es noch eine höchst moralische Bankräubergeschichte, und
       als Isa schließlich, nach zwanzig Seiten, den Kahn verlassen muss (es geht
       wirklich nicht anders), sind wir traurig: Wir hätten uns gewünscht, sie
       hätte noch länger dort bleiben können, so wie Wolfgang Herrndorf unter uns.
       
       25 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kurt Scheel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Wolfgang Herrndorf
 (DIR) Roman
 (DIR) Roadmovie
 (DIR) Literatur
 (DIR) Literatur
 (DIR) Axel Springer
 (DIR) Tschick
 (DIR) Tschick
 (DIR) Wolfgang Herrndorf
 (DIR) Wolfgang Herrndorf
 (DIR) Wolfgang Herrndorf
 (DIR) Wolfgang Herrndorf
 (DIR) Tschick
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neue Erzählungen von Andreas Stichmann: Denkmal für eine junge Punkerin
       
       Klemmende Kommunikationssituationen, sonderbar über Heimat nachdenken: In
       „Loreley“ lässt Andreas Stichmann den Rhein durch die Erzählungen fließen.
       
 (DIR) Biografie über Autor Wolfgang Herrndorf: Jenseits der Festanstellung
       
       Vor dem Aufstieg Wolfgang Herrndorfs als Schriftsteller kam das Scheitern
       als Künstler. Tobias Rüther hat über ihn eine kundige Biografie
       geschrieben.
       
 (DIR) Die Wahrheit: „O weh, o weh! Was muss, das muss!“
       
       Glückwunsch zum 75. Geburtstag: Die schönsten Anekdoten über die
       sympathische deutsche Verlegerin Friede Springer.
       
 (DIR) „Tschick“ von Fatih Akin: Die heile Seite der Außenseiter
       
       Fatih Akin verfilmt „Tschick“ ein, zwei Nummern kleiner – und eher für
       Jugendliche. Wolfgang Herrndorf hätte das vermutlich gefallen.
       
 (DIR) Verfilmung von Herrndorfs Roman: „Das ist Tschick.“
       
       Auf der Buchmesse wurde über Herrndorfs „Tschick“ diskutiert. Und die eher
       ungewöhnliche Frage: „Musste das überhaupt verfilmt werden?“
       
 (DIR) Wolfgang-Herrndorf-Ausstellung: Der perfekte Pinselstrich
       
       Der Autor Wolfgang Herrndorf war auch Maler. Er hat die ganze
       Kunstgeschichte drauf, ist handwerklich toll – gerade deshalb bleiben
       Fragen offen.
       
 (DIR) Wolfgang Herrndorf als Maler: Spiel mit konservativen Bildsprachen
       
       Die Bilder des Autors und Illustrators sind im Berliner Literaturhaus zu
       sehen: Karikaturen, Buchcover und Ölgemälde in altmeisterlichem Stil.
       
 (DIR) Debatte über Sterbehilfe: „Das ist meine größte Angst“
       
       Der unheilbar erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wählte den
       Freitod. Im Internettagebuch schrieb er über seine letzten Lebensjahre.
       
 (DIR) Auf den Spuren von „Tschick“: Landkarten sind für Muschis
       
       Wolfgang Herrndorf schrieb „Tschick“. Die sonntaz-Redakteurin hat sich auf
       den Weg gemacht. Ein Roadtrip durch Brandenburg. Eine Hommage.
       
 (DIR) Wolfgang Herrndorfs letzter Eintrag: Manchmal ein Schock
       
       Der Blog des Autors ist als Buch erschienen. Was sich wie eine Folge von
       Lebenszeichen las, ist das Vermächtnis eines formbewussten Schriftstellers.