# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Neuerfindungen am laufenden Band
       
       > Alles Mögliche muss sich derzeit „neu erfinden“ - auch Kreuzberg, in dem
       > nicht nur der Computer, sondern auch die Selfies und Shelfies das Licht
       > der Welt erblickten.
       
 (IMG) Bild: Hätten Sie's gewusst? Kreuzberg ist nicht nur das Land der Steinewerfer und Chaoten - auch Erfinder gibt es hier reichlich.
       
       „Der Kapitalismus muss sich neu erfinden“, titelte gerade allen Ernstes Der
       Spiegel. Alles Mögliche muss sich derzeit „neu erfinden“. Warum also nicht
       gleich das ganze „System“, mögen sich die Titelspender gedacht haben.
       
       Erst recht gilt dies für das laut Tagesspiegel „unruhige Kreuzberg“, das
       durch so viele leichtherzige Erfindungen berühmt wurde. Hier wirkten zum
       Beispiel der Entwickler des Computers, Konrad Zuse (in der Oranienstraße),
       und die Erfinder des Döner Kebab, Kadir Nurman und Mehmet Aygün (in der
       Wiener Straße). Es gibt sogar einen Film über den Genius Loci SO 36: „Lotte
       im Dorf der Erfinder“.
       
       Immer wieder werden hier neue Musikinstrumente erfunden – oder verkleinert:
       für Kinder. Auch die derzeit alle Kulturkritiker auf den Plan rufenden
       „Selfies“ und „Shelfies“ wurden in diesem „Problembezirk“ quasi entwickelt.
       Unter Selfies versteht man mit vorgestrecktem Handy aufgenommene
       Selbstporträts in allen Lebenslagen. Shelfies nennt man Fotos, die
       Intellektuelle von ihren mehr oder weniger beeindruckenden Bücherregalen
       machen.
       
       Früher musste man für seine Selfies noch jemanden mit Kamera finden. Einer
       der Ersten, der sie quasi serienmäßig herstellte, war Choudhury, ein
       Flüchtling aus Bangladesch. Er hatte zunächst versucht, sich als
       Rosenverkäufer ein paar Mark dazuzuverdienen. Dann erwarb Coudhury eine
       Polaroidkamera und machte fortan für 5 Mark Fotos von Menschen auf der
       Straße und in Kneipen. Besonders gut lief sein Geschäft in den Kreuzberger
       Kneipen. In einer, in der Manteuffelstraße, überließen die von ihm
       fotografierten Gäste ihre Fotos den drei Wirtinnen, die daraus irgendwann
       eine große Ausstellung machten, wo man den Fotografen aus Bangladesch
       hochleben ließ.
       
       In der Folgezeit breitete sich das von sich selbst oder von anderen
       aufgenommene Porträt- und Gruppenfoto in vielen gastronomischen
       Einrichtungen aus, die dafür zum Teil extra Vitrinen anbrachten. Von dort
       übernahmen Die Bunte, der Tip und andere Magazine die Idee, ganze Seiten
       mit selfieähnlichen Fotos von Partys halbwegs Prominenter zu füllen.
       Meistens lachen diese allein oder zu mehreren und streckten der Kamera das
       Victory-Zeichen entgegen. In Tegel erfand, nebenbei bemerkt, der
       Kreuzberger Bankräuber Ernst H. die „Cellfies“, die sich seit dem Handy
       immer größerer Beliebtheit im Umkreis von Verbrechern bis hin zu
       Steuersündern erfreuen.
       
       Die Shelfies gehen übrigens auf den Antiquar Olaf in der Oranienstraße
       zurück. Olaf schaute sich die Intellektuellen genau an, achtete jedoch
       weniger auf das Gesagte, sondern versuchte, die Buchrücken hinter dem
       Sprecher zu entziffern, um zu sehen, mit welchen angeblichen
       „Lektüreerlebnissen“ der angeben wollte.
       
       Da sein Antiquariat irgendwann nicht mehr genug abwarf, kam Olaf auf die
       Idee, die Bibliotheksumzüge von Professoren und Schriftstellern zu
       organisieren. Dazu machte er Shelfies von den Regalen, anhand deren er dann
       die Bücher am neuen Standort wieder hinstellen konnte wie zuvor. Die danach
       überflüssig gewordenen Shelfies bekamen seine intellektuellen Auftraggeber:
       „Mein Haus, meine Frau, meine Bücher.“
       
       Mit drei Fotos konnten sie auf diese Weise zeigen, dass der Neuköllner
       Künstler Thomas Kapielski doch nicht ganz recht hatte, als er behauptete:
       „Nach Berlin kamen immer nur solche Leute, die im Malen eine Eins und im
       Rechnen eine Fünf hatten.“ Es gab allerdings auch welche, die die Fähigkeit
       entwickelten, mit dem Hintergrund, ihren Bücherregalen, zu verschmelzen.
       Auf allen Fotos sah man eigentlich nur diese.
       
       Dann die „Love-in-Tokyos“, wie sie in Indien genannt werden: zwei rote
       Kügelchen auf einem Gummiband, mit dem die Mädchen ihre Haare
       zusammenbinden. Erfunden wurden sie in der Skalitzer Straße – von dem
       aramäischen Friseur, den alle nur Barsam nannten. Das war noch zu der Zeit,
       als viele Kreuzbergerinnen einen Pferdeschwanz trugen. Ihnen zuliebe erfand
       er diese „Kirschen Haargummis“, die es heute auch als „Totenkopf Kirschen
       Haargummis“ gibt. Dass eine westdeutsche Firma ihm schon bald seine
       Erfindung klaute, war ihm egal.
       
       31 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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