# taz.de -- 100 Jahre Berliner Volksbühne: Wo ist die Szene über den Tod?
       
       > Die Berliner Volksbühne wird 100. Mit Filmen von Thomas Heise und einer
       > Revue von Jürgen Kuttner reflektiert sie ihre großartige Geschichte.
       
 (IMG) Bild: Filmstill aus Thomas Heises „Fabrik“, Keller der Volksbühne.
       
       Es war in einer Probe von „Baumeister Solness“ in diesem Jahr. Der
       Filmregisseur Thomas Heise schaute Frank Castorf über die Schulter, groß
       und in Schwarz-Weiß wird das jetzt auf die Bühnen füllende Leinwand
       projiziert. Castorf wirft Marc Hosemann und Kathrin Angerer Sätze zu, die
       spontan erfunden zu sein scheinen, um eine groteske Situation – sie liegen
       auf gestapelten Henry-Hübchen-Puppen – immer weiterzutreiben und in den
       skurrilen Stellungen der Körper etwas vom Sinn der ganzen Veranstaltung zu
       finden.
       
       Komisch ist das allemal, aber auch erhellend? Was das soll, da kommt man
       zwar nicht dahinter, und trotzdem spürt man, wie hier das Theater über sich
       selbst nachdenkt und darüber, wie sich ausgetretene Wege vermeiden lassen.
       
       Dann wird es traurig. Noch immer sieht man auf Castorfs Hinterkopf und
       Schultern, da redet der, so in vernuschelten Nebensätzen, vom Ende der
       Volksbühne (sein Intendantenvertrag endet 2016, was danach mit dem Haus
       passiert, ist unklar) und dass er sterben wird.
       
       ## Die Regisseure, die fehlen
       
       Haben wir da nicht mal eine Szene über den Tod improvisiert, fragt er die
       Schauspieler. Ja, sagen die, aber nicht an dieser Stelle. Die Szene fehlt
       ihm jetzt, er blättert in Manuskripten und klagt über die vielen
       Verstorbenen der Volksbühne, darunter die wichtigen Regisseure Jürgen
       Gosch, Dimiter Gotscheff, Heiner Müller, Fritz Marquardt. Und wie er,
       Castorf, keine Totenreden mehr auf Beerdigungen halten wollte.
       
       Die Volksbühne wird 100 Jahre alt, und die Programme, mit denen sie nun
       einen ganzen Monat ihr Jubiläum begeht, sehen einer Trauerfeier oft
       erschreckend ähnlich. Im oberen Foyer steht eine Bar in Gestalt eines
       Totenkopfes, daneben laufen Projektionen von Porträts der 230 Mitarbeiter
       und Künstler, die 2014 an der Volksbühne gearbeitet haben. Auch das ist ein
       Teil von „Fabrik“ von Thomas Heise, der seinen Blick auf die Volksbühne in
       mehrere Kapitel unterteilt hat. Als ich nach der Aufführung von Kapitel X,
       über die Solness-Proben, vor den Porträts verweilen will, wird das obere
       Foyer aber geschlossen. Und das am Abend der Premiere von „Fabrik“. Feiern
       geht anders.
       
       Es ist jetzt oft erschreckend viel Platz in den Foyers. Kein Gedränge,
       wenig junge Leute im Publikum. Warum man in Tränen ausbrechen könnte über
       dieses halbleere Theater, das kann man aus den Bildern von Thomas Heise
       auch herauslesen.
       
       ## Wertschätzung Arbeit
       
       Eine lange Einstellung gilt dem von Schauspielern verlassenen Bühnenbild,
       Arbeiter kommen und gehen, einer beschäftigt sich lange mit einer Lampe und
       einem Lichtschalter, den die Schauspielerin Kathrin Angerer später mit dem
       großen Zeh erreichen will. Arbeit kann so schön sein, so konzentriert, so
       vielfältig, so erfindungsreich. Über jede Schraube hat sich hier jemand
       Gedanken gemacht. Heises „Fabrik“ ist auch ein Dokument der Wertschätzung
       jeder Arbeit, sei sie nun marktförmig oder nicht.
       
       Der „Fabrik“ folgte am nächsten Abend eine Revue, „Ach Volk, du
       obermieses“, von Jürgen Kuttner und André Meier. Am Anfang gehört die Bühne
       einen Song lang einem Chor der Werktätigen, 16 Männern und Frauen, die sich
       nach und nach aus einem einzigen alten Volvo schälen und „Eve of
       destruction“ singen. „Schon morgen kann es geschehen und du bist am Ende“,
       geht der Refrain auf Deutsch, den sie nach jedem Applaus wieder neu
       anstimmen. Das ist großartig und bestürzend zugleich. Ein Abgesang, ein
       Angstgesang. Wie müssen sich alle diese Bühnenarbeiter, Maskenbildner,
       Requisiteure, die Heisig auch in anderen „Fabrik“-Kapiteln beobachtet,
       Abend für Abend an einem Haus fühlen, das an keine Zukunft für sich mehr
       glaubt.
       
       ## Heiner Müller spricht mit den Schauspielern
       
       ## 
       
       Heise hat nicht nur selbst in der Volksbühne gedreht, sondern auch Material
       benutzt, mit dem die Filmabteilung des Hauses zu DDR-Zeiten die
       Theaterarbeit begleitete. So sieht man in weiteren „Fabrik“-Kapiteln im
       Foyer etwa Ausschnitte aus „Die Bauern“ von Heiner Müller, 1975 in der
       Regie von Fritz Marquardt, und die Schauspieler der Inszenierung im
       Gespräch mit dem Autor. In einem anderen Abschnitt sieht man aus den
       Kulissen den Schauspielern zu, die zum Applaus laufen, nach einer
       Inszenierung von Gotscheff.
       
       Nach all diesen Künstlern fragt in Kuttners Revue eine Brecht-Puppe die
       Schauspielerin Ursula Karusseit, die viele Brecht-Rollen gespielt hat.
       Jedes Mal muss sie antworten: „Der ist schon gestorben.“ Mit zitternder
       Stimme will die Brecht-Puppe schließlich wissen: „Und das BE?“ „Das lebt
       noch.“ Da lacht das ganze Theater, schließlich ist das BE der Intimfeind
       der Volksbühne, obwohl sich beide auf ähnliche Ahnen berufen und immer
       Kunst für das Volk (das, wie Kuttner in einer schlenkernden Sprachkaskade
       hören lässt, meist eine realitätsferne Figur ist) machen wollten.
       
       ## Verdächtige Kantinensitzer
       
       Kuttners Revue hat viele schöne Episoden. Etwa wenn Sophie Rois Heiner
       Müllers Text „Mommsens Block“ spricht, über den Unwillen des Historikers
       bestimmten Zeitepochen gegenüber und das Vergessenwollen. Dabei unterbricht
       sie einer, der mal besser vergessen geblieben wäre, ein
       Volksbühnen-Portier, gespielt von Mex Schlüpfer, der in den Siebzigern
       unrühmlich auffiel, weil er Künstler, die noch um 0.30 Uhr in der Kantine
       saßen, bei der Volkspolizei anzeigte.
       
       Diese Szene – Regie Castorf – steht exemplarisch für das Beste in der
       jüngsten Geschichte des Hauses, als aus der Ostsozialisation Kapital
       geschlagen wurde für einen kritischen Blick auf die tarnenden Kompromisse
       der Gegenwart.
       
       Leider ist das Vergangenheit. Was mal widerspenstiges Potenzial hatte, ist
       erstarrt. Früher oder später kommt jede Castorf-Inszenierung beim
       verdrängten Faschismus in der deutschen Geschichte an, als ob es inzwischen
       nicht schon ganz andere Probleme gäbe. In der Revue geht es so Suse Wächter
       mit ihren Puppen: Früher oder später fangen deren Figuren an zu knarzen und
       zu hitlern, als wäre von Hitler zu reden noch immer das größte Tabu.
       
       ## Tragischer Verlust für die Nazis
       
       Die Rolle der Volksbühne in der Nazizeit thematisiert Suse Wächter mit
       Hitlermaske allerdings genial: Mit tragischer Stimme zählt sie die Verluste
       der Gewandabteilung nach einem Bombenangriff auf. Helme, Helme, Rüstungen,
       Beinschienen, Helme. Fast so viele Ritter, wie heute in den Schlachten von
       Mittelerde auftauchen, zogen über die Bühne der dreißiger Jahre.
       
       Das Urteil, die Volksbühne sei heute in der Krise, greift die Revue als
       Geschwätz der Dummen auf, die zu faul sind, wirklich hinzuschauen, was
       heute dort passiert. Das ist keine überzeugende Verteidigung.
       
       Kuttner baut in seinen rasanten Reden viele Brücken zwischen den legendären
       Intendanten Erwin Piscator (1924–1927), Benno Besson (1969–1977) und Frank
       Castorf und macht sie zu einer Kette von drei Heroen des Widerstandes gegen
       kommerzielle Begehren an die Kunst, gegen konsensuellen Kitsch und gegen
       Anbiederung an die Chimäre Volk. Diese Verklärung des gegenwärtigen
       Intendanten hat einen unangenehmen Beigeschmack. Der Blick auf 100 Jahre
       Volksbühne hätte wahrlich andere Erkenntnisse zugelassen, als Castorf als
       den tragischen Vollender einer Epoche zu beschreiben.
       
       10 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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