# taz.de -- Sozialwissenschaftler über Ungleichheit: „Die Mittelschicht gerät unter Druck“
       
       > Christoph Scherrer erklärt, welche Auswirkungen soziale Ungleichheit hat.
       > Den Prekarisierten fehle eine wirksame politische Vertretung.
       
 (IMG) Bild: Die Kluft zwischen Armen und Reichen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark vergrößert.
       
       taz: Herr Scherrer, selbst reiche Staaten wie Deutschland verzeichnen eine
       zunehmende soziale Ungleichheit. Nehmen die politischen und ökonomischen
       Eliten, die sich jetzt wieder in Davos treffen, diese Entwicklung ernst? 
       
       Christoph Scherrer: Die Veranstalter haben das Thema immerhin auf die
       Tagesordnung gesetzt. Aber für viele Manager ist das Weltwirtschaftsforum
       in erster Linie eine Gelegenheit, Gleichgesinnte zu treffen und Geschäfte
       zu machen. Sie sind teilweise extrem privilegiert, weil sie exorbitante
       Einkommen von Dutzenden Millionen Euro jährlich beziehen, was ein
       wesentlicher Grund der seit den 1970er Jahren wieder anwachsenden
       Ungleichheit sind. Von diesen Leuten kann man nicht erwarten, dass sie ihre
       Privilegien freiwillig infrage stellen oder aufgeben.
       
       Sogar die Industrieländer-Organisation OECD stellt inzwischen fest, dass
       die zunehmende Polarisierung negative Auswirkungen auf das
       Wirtschaftswachstum habe. Ändert sich da etwas in der offiziellen Sicht auf
       Ungleichheit? 
       
       In der praktischen Politik bislang kaum, höchstens auf theoretischer Ebene.
       Die Wissenschaftler der OECD errechneten, dass das Wachstum in Deutschland
       um rund 6 Prozent geringer war als möglich, weil sich der Abstand zwischen
       Armen und Reichen während der vergangenen 30 Jahre stark vergrößert hat.
       
       Wie ist es zu erklären, dass zu starke Ungleichheit die Gesellschaft
       insgesamt Wohlstand kostet? 
       
       Im Gegensatz zu Wohlhabenden und Reichen, die einen Teil ihres Verdienstes
       sparen können, konsumieren ärmere Bevölkerungsschichten fast vollständig,
       was sie einnehmen. Sinken deren Einkommen, müssen sie den Konsum
       einschränken. Damit geht die Nachfrage zurück, und das Wachstum fällt
       geringer aus, als es bei einer ausgeglichenen Einkommensverteilung der Fall
       wäre. Das wirkt sich auch negativ auf die Steuereinnahmen und die
       Finanzkraft des Staates aus.
       
       In Deutschland besitzen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung inzwischen
       über 50 Prozent der Vermögen, während die ärmere Hälfte der Bürger kaum
       Ersparnisse hat. Für 70 Prozent der Einwohner stagnierte oder sank das
       Einkommen zwischen 2000 und 2011. Welche konkreten Konsequenzen hat dieser
       Prozess? 
       
       Für die Betroffenen bedeutet das Prekarisierung. Einerseits können sie sich
       wegen niedrigerer Einkommen oder Sozialtransfers weniger leisten. Viele
       müssen zudem mit kurzfristigen Arbeitsverträgen vorliebnehmen oder sind
       beispielsweise als Leiharbeiter beschäftigt. Diese Menschen haben ständig
       das Gefühl, auf Probe zu sein. Sie müssen sich permanent bewähren. Sie
       stehen unter Stress. Und die Armut wird weitergetragen in die nächste
       Generation.
       
       In seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ schreibt der Ökonom Thomas
       Piketty, dass die Ungleichheit zwischen den Reichen und den Armen im 19.
       Jahrhundert sehr groß war, sich in den Industriestaaten aber trotzdem eine
       Mittelschicht zu entwickeln begann. Erhebliche Ungleichheit steht einem
       gewissen sozialen Fortschritt also nicht unbedingt im Wege? 
       
       Die Industrialisierung führte damals in Europa unter anderem dazu, dass
       durch Kapitaleinsatz und Arbeitsteilung effizienter gearbeitet wurde. Heute
       ist das in vielen Ländern ähnlich. Dadurch steigt insgesamt der Reichtum
       der Gesellschaften. Und aus diesem Mehrwert konnte und kann eine
       Mittelschicht finanziert werden. Ein größerer Teil des Nationaleinkommens
       wird auf mehr Bürger verteilt. Das stellt eine Demokratisierung von
       Wohlstand dar. Diese läuft allerdings nicht automatisch ab, sondern muss
       immer wieder politisch durchgesetzt werden. In den letzten Jahrzehnten
       gelang das weniger: Es mehren sich die Hinweise daraus, dass die
       Mittelschicht etwa in Deutschland unter Druck gerät und erodiert.
       
       Warum kommt es heute in Staaten wie Deutschland trotz zunehmender
       Ungleichheit kaum zu großen sozialen Konflikten? 
       
       Vorsicht, die Pegida-Demonstrationen speisen sich auch aus sozialen
       Abstiegsängsten. Trotzdem ist die breite Mittelschicht, die über die Hälfte
       der Bevölkerung umfasst, noch relativ stabil. Vielen Bürgern geht es
       vergleichsweise gut, sie besitzen ein gewisses Vermögen. Deshalb fühlt sich
       die Mittelschicht den Reichen näher als den Armen. Und den Prekarisierten
       fehlt eine wirksame politische Vertretung. Auch deshalb steht die
       ökonomische Elite, die sich in Davos trifft, so wenig unter Druck.
       
       21 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Koch
       
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