# taz.de -- Kampf um Kobani: Der unmögliche Sieg
       
       > Die Kurden stehen auf dem Dach und blicken nach Kobani. Sie hoffen, einen
       > historischen Moment zu erleben. Doch da sind noch die US-Amerikaner.
       
 (IMG) Bild: Bei Suruc: Rund 200.000 Kurden sind seit September 2014 aus dem Raum Kobani über die Grenze in der Türkei geflohen.
       
       CAYKARRA taz | „Habt ihr gesehen“, ruft Cemil Öztok und lacht breit, „da
       steigt Rauch auf, da haben sie wieder einen Treffer gelandet.“ Mit „sie“
       meint er die kurdischen Kämpfer der YPG in Kobani, die an diesem Tag dabei
       sind, den strategisch wichtigen Mistenur-Hügel im Süden der Stadt nach
       monatelangen Kämpfen von den Milizen des sogenannten Islamischen Staats
       (IS) zurückzuerobern. „Wenn wir den Hügel haben, ist es mit dem IS vorbei“,
       lacht Cemil Öztok, „noch ein paar Tage, dann ist Kobani endgültig befreit.“
       
       Der 47-jährige Cemil Öztok aus dem fernen Varto ist einer von mehr als
       hundert Kurdinnen und Kurden, die an diesem „historischen Tag“, wie sie
       sagen, an die Grenze gegenüber von Kobani gekommen sind, um mitzuerleben,
       wie „die Schlächter“ vom IS womöglich besiegt werden.
       
       Der Beobachtungspunkt für die Kurden liegt in dem kleinen Dorf Caykara im
       kurdischen Mehser. Man erreicht Caykara über verschlammte Feldwege, vorbei
       an winterkahlen Äckern, auf denen sich nur gelegentlich ein grünen Flaum
       zeigt. Aus verstreut liegenden Gehöften steigt Rauch aus dem Schornstein.
       Es ist ruhig, Mensch und Natur dämmern dem Frühling entgegen, der in dieser
       Region Anfang März beginnt.
       
       Schon vor Caykara ist das unablässige Wimmern von Jets in großer Höhe zu
       hören. Man sieht die amerikanischen Kampfjets nicht, doch sie sind da.
       
       Dann ein dumpfer Knall: In vielleicht zwei Kilometer Entfernung steigt ein
       riesiger Rauchpilz auf. Da liegt Kobani.
       
       ## US-Kampfbomber brachten die Wende
       
       Menschen tauchen auf, sie sitzen am Feldrand. Immer mehr kommen hinzu,
       etliche Autos haben den Zugang zum Dorf schon zugeparkt. In der Moschee
       herrscht Andrang wie beim Freitagsgebet, allerdings geht niemand in die
       Moschee. Sie steigen über eine Eisenleiter auf das Flachdach. Von hier aus
       haben sie den besten Blick auf Kobani.
       
       Leute aus Diyarbakir, aus Mardin, aus Urfa und natürlich aus dem nahe
       gelegenen Suruc haben sich versammelt und warten auf den großen Moment,
       wenn die kurdische Fahne über dem Mistenur-Hügel auftaucht. Die Menge ist
       aufgeregt, Ferngläser werden herumgereicht, jeder Einschlag von
       Mörsergranaten, deren Rauch gen Himmel steigt, wird wortreich kommentiert.
       
       Monatelang haben die Leute diesem Moment entgegengefiebert. Nachdem die
       IS-Milizen im September mit Tausenden Kämpfern und schweren Waffen,
       darunter auch Panzer, die sie von der irakischen Armee erobert hatten,
       Kobani angriffen, sah es zunächst so aus, als würde die Stadt in wenigen
       Tagen fallen. Die unterlegenen kurdischen Kämpfer schienen trotz aller
       Aufopferung keine Chance zu haben. Die Wende brachten die US-Kampfbomber.
       
       Jetzt, vier Monate später, sind die Kämpfer der Terrormiliz auf einen
       kleinen südöstlichen Bereich Kobanis zurückgedrängt, und wenn die Kurden
       den Mistenur-Hügel erst vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben,
       werden es die IS-Anhänger immer schwerer haben, sich zu halten.
       
       In der allgemeinen Euphorie auf dem Moscheedach gibt es aber auch mahnende
       Stimmen. Idris Nasan zum Beispiel. Er ist vor zwei Tagen aus Kobani auf die
       türkische Seite herübergekommen und weiß, dass es bis zur Befreiung des
       Kantons noch ein weiter Weg ist. Idris Nasan ist stellvertretender
       Außenminister des kurdischen Kantons Kobani. Das klingt etwas hochtrabend –
       dieser Kanton umfasst kaum mehr als eine kleine Stadt mit einem Dutzend
       Dörfern drumherum. Doch seit die Terrormiliz Kobani belagert, wird Idris
       Nasan weltweit gehört. Gerade hat der 40-Jährige, der früher Englisch
       unterrichtete, mit einem Korrespondenten der New York Times telefoniert,
       jetzt versucht er die Erwartungshaltung der Männer auf dem Dach der Moschee
       etwas zu dämpfen.
       
       ## Die Kurden hissen ihre Fahne
       
       „Ja, die Kontrolle des Mistenur-Hügels ist ein entscheidender Schritt, aber
       so lange Daisch“ – wie die Kurden die Terrormiliz nennen – „noch Rakka und
       Mossul kontrolliert, werden sie immer wieder kommen. Es wird noch dauern,
       bis ihr wieder nach Kobani zurückkehren könnt.“ Doch so viel Realismus ist
       an diesem historischen Montag in Caykara nicht angesagt.
       
       „Zum Newroz-Fest“ (dem kurdischen Frühjahrsfest am 21. März, Anm. d.
       Autors) lade ich euch alle nach Kobani ein“, ruft ein Mann, der den
       Eindruck macht, als würde er am liebsten jetzt gleich über die Grenze in
       die umkämpfte Stadt laufen. Idris Nasan hat über Handy Kontakt zu seinen
       Leuten in Kobani. Nachdem er mit einem Sprecher der YPG in der Stadt
       telefoniert hat, bestätigt er die Einnahme des Mistenur-Hügels. „Bald
       werden unsere Kämpfer von Mistenur aus jede Stellung des IS beschießen
       können.“
       
       Von Caykur aus ist auf dem Hügel, der Kobani weit überragt, wenig zu
       erkennen. Doch Idris Nasan versichert: „Unsere Leute sind da.“ Wenig später
       tauchen auf Twitter die ersten Fotos auf, die zeigen, wie die Kurden ihre
       Fahne auf dem Hügel Mistenur hissen.
       
       „Diesen Erfolg verdanken wir der engen Zusammenarbeit mit der
       US-Luftwaffe“, sagt Idris Nasan. „Wir geben die Koordinaten für die
       Angriffsziele in ein Operationszentrum im Nordirak durch. Seitdem ist die
       Trefferquote nahezu perfekt.“
       
       Aber die Amerikaner, glaubt Idris Nasan, wollen diese Situation für ihre
       Zwecke nutzen. „Sie könnten die Wege zwischen Rakka und Kobani bombardieren
       und so verhindern, dass der IS Nachschub nach Kobani bringen kann, doch sie
       tun es nicht.“ Sie nutzen Kobani als Falle für den IS, glaubt er. „Je mehr
       Kämpfer die Islamisten nach Kobani bringen, umso mehr kann die US-Luftwaffe
       hier vernichten.“
       
       Idris Nasan schätzt, dass mehr als 2.000 IS-Kämpfer in Kobani getötet
       wurden. Auch 600 kurdische Kämpfer und Kämpferinnen sind seit Beginn der
       Belagerung im letzten September bereits gefallen, doch auch den Kurden
       gelingt es trotz türkischer Blockade immer wieder, neue KämpferInnen in die
       Stadt zu bringen. Dazu kommen die Peschmerga aus dem Nordirak, die mit
       Genehmigung der türkischen Regierung jeden Monat neue Leute nach Kobani
       bringen.
       
       „Das reicht, um die Stadt von Daisch zu befreien, doch einen echten Sieg
       über den IS werden wir ohne schwere Waffen und ohne einen Korridor für
       Nachschub über die türkische Grenze nicht erringen können. Aber die
       türkische Regierung will das nicht. Sie unterstützt heimlich immer noch den
       IS“, davon ist Idris Nasan überzeugt. Als Beleg für diese These wird von
       den Kurden auch der Umgang der Regierung mit den kurdischen Flüchtlingen
       angeführt.
       
       Auf dem Weg von der Grenze in die am nächsten gelegene Stadt Suruc reiht
       sich ein Zeltlager ans andere. Auch in der Stadt selbst ist jeder freie
       Fleck mit Notunterkünften für Flüchtlinge ausgefüllt. Rund 200.000 Kurden
       sind seit September 2014 aus dem Raum Kobani über die Grenze in der Türkei
       geflohen. Rund 150.000 von ihnen konnten bei Verwandten unterkommen oder
       bei Bekannten in den Dörfern, in Suruc oder in der nächsten Großstadt Urfa.
       Doch über 50.000 blieben auf die Zeltlager angewiesen.
       
       ## „Nur mit dem Hemd auf dem Leib sind wir hergekommen“
       
       In der syrischen Tiefebene zwischen Kobani und Urfa ist es bitter kalt. Vor
       ein paar Tagen hatte es geschneit, tagsüber taut der Schnee und verwandelt
       die Wege zwischen den Zelten in Morast. Idris Nasan führt zu einer
       achtköpfigen Familie, die in einem wenige Quadratmeter großen Zelt haust.
       Sie kommen aus einem Dorf bei Kobani und flohen im letzten September, als
       IS-Milizen nur noch wenige hundert Meter vom Dorf entfernt waren. „Nur mit
       dem Hemd auf dem Leib sind wir hergekommen“, sagt der Patriarch und zupft
       demonstrativ an seinem weißen Kaftan.
       
       Die Versorgung dieser Flüchtlinge wird weitgehend von der kurdischen
       Stadtverwaltung von Suruc geleistet. „Die Regierung gibt uns nichts“,
       empört sich Idris Nasan. Tatsächlich hat die zuständige Regierungsbehörde
       in Suruc nur ein Lager für rund 5.000 Flüchtlinge eröffnet. Um alle anderen
       müssen sich die Kurden selbst kümmern. „Pro Person“, sagt Mehmet Badri, der
       für die Verwaltung eines der Lager zuständig ist, „brauchen wir nur fürs
       Essen 15 Lira“, umgerechnet ungefähr 6 Euro. Das sind fast 300.000 Euro am
       Tag.
       
       „Wir bekommen Sachspenden und Lebensmittel von allen kurdisch verwalteten
       Kommunen in der Türkei. Auch viele Privatpersonen spenden. Aber wie lange
       können wir das noch schaffen?“, fragt Idris Nasan. „Die internationale
       Gemeinschaft muss den Kurden direkt helfen. Das Geld, das an die türkische
       Regierung geht, kommt bei uns nicht an.“
       
       Ibrahim Ayhan ist kurdischer Parlamentsabgeordneter von Urfa und Suruc. Am
       Abend sitzt er im Rathaus von Suruc und schimpft über die Regierung in
       Ankara. Sie interessierten sich nicht für die kurdischen Flüchtlinge. Vor
       allem aber, sagt er: „Sie unterstützt immer noch die islamistischen
       Fanatiker.“ Die Millionenstadt Urfa, sagt er, „ist der wichtigste
       Stützpunkt von Daisch in der Türkei“. Sie hätten Büros, eigene
       Hilfsorganisationen und geheime Kliniken, wo ihre Kämpfer versorgt würden.
       Wenn IS-Sympathisanten über die Grenze gingen, würden die Soldaten
       wegschauen. „Sie könnten das verhindern, aber sie wollen nicht.“
       
       Tatsächlich haben sich die USA und die türkische Regierung nach wie vor
       nicht auf ein gemeinsames Vorgehen in Syrien einigen können. Für den
       türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan hat der Sturz von Baschar al-Assad
       oberste Priorität, Obama will erst einmal den IS bekämpfen. Die bärtigen
       Islamisten sind zwar auch für Erdogan angeblich Terroristen, doch eben auch
       ganz nützlich, um die Kurden nicht zu stark werden zu lassen.
       
       Solange diese politische Situation so bleibt, wird Cemil Öztok zwar über
       die Befreiung von Kobani jubeln können, doch Idris Nasan weiß, dass das nur
       Stückwerk bleiben wird.
       
       23 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kurden
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) Kobani
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) USA
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) USA
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) Kobani
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nach dem Anschlag in Suruc: Polizei identifiziert Verdächtigen
       
       Die türkische Polizei verdächtigt einen 20-jährigen Türken als Attentäter.
       Am Mittwochmorgen wurden zwei Polizisten bei einem Anschlag getötet.
       
 (DIR) Medien und der Kampf um Kobani: Spindoctors aus Militär und Melodram
       
       Die Milizen des „Islamischen Staats“ haben sich aus Kobani zurückgezogen.
       Doch wo bleibt der Jubel über die Niederlage der Dschihadisten?
       
 (DIR) Vertreibung des IS aus Kobani: Hoher Preis für einen Sieg
       
       Mit US-Unterstützung haben die Kurden die Schlacht um Kobani weitgehend
       gewonnen. Doch der Kampf gegen den Islamischen Staat ist festgefahren.
       
 (DIR) Kommentar Rückeroberung von Kobani: Kobani ist frei, aber nicht sicher
       
       Der Sieg der kurdischen Kämpfer in der syrischen Stadt ist ein erster
       Erfolg im Kampf gegen den IS. Doch die Bedrohung ist noch nicht vorüber.
       
 (DIR) Bürgerkrieg in Syrien: Kurden vertreiben IS aus Kobani
       
       Die IS-Miliz ist nach Angaben der kurdischen Truppen fast vollständig aus
       Kobani abgezogen. In Moskau treffen sich derweil Vertreter der Opposition
       zu Beratungen.
       
 (DIR) Ermordung von Geisel durch IS: Japan hält Video für authentisch
       
       Der 42-jährige Haruna Yukawa war im vergangenen Jahr in Syrien verschleppt
       worden. Nun scheint ein Video, das seinen Tod zeigt, echt zu sein.
       
 (DIR) Terrormiliz IS: Japanische Geisel angeblich tot
       
       Im Internet ist ein Video aufgetaucht, das die Ermordung der Geisel belegen
       soll. Seine Echtheit ist nicht bestätigt. Tokio spricht von einer
       „unverzeihlichen Gewalttat“.
       
 (DIR) Luftangriffe der USA im Irak: IS hat kaum an Boden verloren
       
       Mühsamer Kampf: Seit die USA Angriffe im Irak fliegen, hat der „Islamische
       Staat“ nur wenig Raum aufgeben müssen. Noch immer kontrolliert er ein
       riesiges Gebiet im Land.
       
 (DIR) Kobani und der Kampf gegen den IS: Der Krieg im Krieg
       
       7.000 Zivilisten sind noch in Kobani. Kurdische Milizen kontrollieren
       wieder 80 Prozent der Stadt. Das restliche Syrien ist für sie weit weg.
       
 (DIR) Islamischer Staat: „Dschihadisten sind pragmatisch“
       
       Behnam T. Said, Verfassungsschützer und Buchautor, über die militärische
       und propagandistische Strategie der Terrorgruppe IS.
       
 (DIR) Essay zum Amtsjubiläum: 100 Jahre Erdogan
       
       Vor hundert Tagen trat Erdogan das Amt des türkischen Staatspräsidenten an.
       Er redet wirrer und hat einen „bad cop“ an der Seite.