# taz.de -- Kobani und der Kampf gegen den IS: Der Krieg im Krieg
       
       > 7.000 Zivilisten sind noch in Kobani. Kurdische Milizen kontrollieren
       > wieder 80 Prozent der Stadt. Das restliche Syrien ist für sie weit weg.
       
 (IMG) Bild: Kobani im November 2014: Die Stadt ist von allen Seiten von IS-Kämpfern umzingelt
       
       KOBANI taz | Eine Stimme sagt plötzlich: Renn! Und du rennst, so schnell du
       kannst. Im Dunkeln, durch Schlamm und Gestrüpp: Du fällst, rappelst dich
       auf, eine Lampe versucht dir den Weg zu weisen, während du rennst und
       rennst, du hörst die Schüsse, das Bellen der Hunde, und du rennst und
       rennst, stolperst über Stacheldraht, das Geräusch von reißendem Stoff, von
       Hunden, Blut rinnt über deine Hand, aber du rennst, nur das, rennst, so
       schnell du kannst.
       
       Nach Kobani gelangt man nur auf diese Weise. Nachts, illegal. Weil diese
       kleine Stadt nahe der Grenze, einst 60.000 Einwohner, seit dem 16.
       September von den Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) von vier – und
       nicht nur von drei – Seiten umlagert wird: Die Grenze zur Türkei ist
       geschlossen. Aus einem einfachen Grund. Wir befinden uns hier nur formal im
       syrischen Krieg. Das hier ist ein Krieg im Krieg – der Krieg der Kurden.
       
       Nachdem sie lange von den Assads, Vater wie Sohn, unterdrückt worden sind,
       haben sie den Rebellen nicht getraut. Die Kurden sind Muslime, aber
       politisch säkular. Und keine Araber. Sie haben ihr eigenes Spiel gespielt:
       Sie haben sich aus dem Krieg herausgehalten und dann im allgemeinen Chaos
       still und heimlich angefangen, ihre Region im Norden Syriens autonom zu
       regieren.
       
       Sie kämpfen hier für Kurdistan und für nichts anderes. Der Rest scheint sie
       kaum zu interessieren, im Fernsehen läuft ein lokaler Sender, ein Bild des
       türkischen PKK-Führers Abdullah Öcalan hängt an der Wand, und sie fragen
       nach Neuigkeiten aus Damaskus oder Aleppo, als handle es sich um
       Afghanistan. Als wäre Syrien ein anderes Land.
       
       ## Die Grenze ist dicht
       
       Die Türkei fürchtet nun, dass ihre Kurden dem Beispiel der syrischen Kurden
       folgen könnten. Sie gewähren den Anti-Assad-Kämpfern im Osten, in den
       Provinzen von Hatay und Antep, freien Durchgang, aber an dieser Stelle ist
       die Grenze fest geschlossen. Die Flüchtlinge durften hier über die Grenze,
       allein 130.000 im Monat September, mehr als die gesamte EU im Lauf des
       gesamten Krieges aufgenommen hat: aber keine Kämpfer – bis auf etwa 140
       kurdische Iraker und paar andere.
       
       In Kobani fängt der Krieg vor der Front an.
       
       Aber es ist der übliche Krieg. Grausam, so grausam wie überall in Syrien.
       Kobani liegt, drei Monate später, in Trümmern. Das Auto, das dich jenseits
       der Grenze abholt, fährt langsam, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, über
       unebenes Gelände, das im Sternenlicht kaum zu erkennen ist. Regenpfützen
       spiegeln den Mond, die Nacht ist bevölkert von Schatten, Fossilien,
       Gerippen und Aas. Das Auto fährt ins Dunkle: vorbei an Panzern, Lkws,
       eingestürzten Mauern, Stacheldraht, düster, unwirklich. Dann, rechts, ein
       Autowrack, das plötzlich lebendig wird: die Scheinwerfer leuchten kurz auf.
       Weiter vorne antwortet ein anderes Licht. Es ist der Code, der deine
       Ankunft signalisiert. Kobani wirkt verlassen. Man glaubt, durch Trümmer,
       leblose Überreste einer Schlacht zu wandern. In Wirklichkeit aber bist du
       umgeben von Heckenschützen.
       
       ## Herzchen an den Socken
       
       Der Widerstand hier habe nicht vor drei Monaten, sondern schon vor zwei
       Jahren begonnen, sagt Nalin Afrin. „Als die ersten islamistischen Gruppen
       aufgetaucht sind und die Revolution in Syrien eine andere Wendung genommen
       hat.“ Das Pseudonym ist der Name einer Blume: Nalin Afrin ist eine Frau.
       Und führt das allgemeine Kommando. „Das ist alles, was man versteht, wenn
       man die Islamisten fragt, was diese Scharia eigentlich ist, die sie
       einführen wollen: dass die Frauen sich bedecken sollen. Und zu Hause
       bleiben.“
       
       Deswegen sind die Frauen in Kobani an der Front. Das ist keine kurdische
       Besonderheit. Frauen haben in den verschiedensten Kriegen gekämpft. In
       Liberia, Sri Lanka, in Jugoslawien. Aber hier sind sie nicht nur Teil der
       Choreografie. Oder begnügen sich mit dem Stützpunkt. Der einzige
       Unterschied zwischen Männern und Frauen in Kobani macht sich unter den
       Stiefeln bemerkbar. Ihre Socken sind farbig. Mit aufgestickten Herzchen.
       Oder ein kleiner Bär, der an ihrer Kalaschnikow baumelt.
       
       ## "Es steht mehr auf dem Spiel"
       
       Und sie sind dabei zu gewinnen: Sie zerlegen den Mythos des Islamischen
       Staats. Die Kämpfer und Kämpferinnen der YPG, des syrischen Ablegers der
       PKK, kontrollieren inzwischen 80 Prozent der Stadt, auch wenn die Kämpfe
       manchmal noch heftig sind. „Es ist zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Aber der
       IS besitzt organisatorische und vor allem ideologische Kraft – mehr als
       militärische. Sein Projekt findet Zulauf, und das muss man bekämpfen“, sagt
       Nalin Afrin. „Es steht mehr auf dem Spiel als nur Kobani.“
       
       Dalila ist 20. Sie ist an der Westfront, in einer Szenerie wie aus dem
       Ersten Weltkrieg – Schützengräben, gesprenkelt mit Zelten, Erdwälle, die
       durch Sandsäcke gestützt werden, und alle paar Meter, als letzte Zuflucht,
       ein Loch, das mit Blech verstärkt wird und eher wie ein noch ein
       unbenutztes Grab aussieht. Aber Dalila, Zenarin und Gisak frühstücken hier
       in aller Ruhe, als wären sie auf Zelturlaub. Ihr North-Face-Rucksack sieht
       aus wie deiner, Plastiktisch und Plastikstuhl, ein Junge schneidet Gurke
       und Käse auf – hinter ihnen ein Heckenschütze. Jedes Mal wenn eine
       Explosion zu hören ist, steigt rechts Rauch auf. Ein Granatwerfer. Doch
       niemand stört sich daran.
       
       Sie wundern sich stattdessen, dass man keine Lust hat, sich ihnen
       anzuschließen. „Es geht nicht um den Respekt des anderen“, sagt Dalila.
       „Wir reden hier nicht vom Islam, sondern von Schlächtern. Du solltest bei
       uns bleiben, weil du ein Mensch bist, und nicht weil du Kurdin oder Syrerin
       bist.“ Auch wenn es ein Fehler sei, die Dschihadisten als Irre
       abzustempeln, meint Zenarin, 22. „Ich glaube, dass die ausländischen
       Kämpfer meist junge Männer auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben
       sind. Die einheimischen dagegen sind frustrierte Sunniten, die sich rächen
       wollen. Oder einfach Opportunisten, die sich jeder Macht beugen.“
       
       „Für wen kämpfst du?“, frage ich Gisak, 24. „Für Syrien, für Kurdistan?“
       „Für dich“, lautet die Antwort.
       
       ## Kampf auf drei Ebenen
       
       Viele von ihnen kennen sich seit Kindheitstagen. Bevor sie sich für eine
       Schicht in die Gräben begeben, umarmen sie sich förmlich. Ganz Kobani ist
       an der Front, selbst wenn man außer Gefecht gesetzt ist wie Bilal, 19. Sein
       Arm ist gebrochen, ein Dolch hängt um seinen Hals: die einzige Waffe, die
       er nur mit einer Hand benutzen kann. Oder wie Ferhad, der jetzt den Namen
       seines Bruders angenommen hat, den die IS ermordet hat. Er ist 15 Jahre
       alt. Oder Xelil und Viyane, er ist 45, sie 19. Vater und Tochter. Was
       passiert, wenn ihr gefangen genommen werdet? Zieht der eine dann los, um
       den anderen zu retten? Xelil berührt die Granate, die er wie alle hier in
       der Tasche trägt. „Das letzte Geschoss im Krieg ist für dich selbst“, sagt
       Viyane.
       
       Der Kampf findet in diesen Tagen auf drei Ebenen statt. Raketen,
       Kanonenschüsse, Artillerieschüsse fegen über die Köpfe. Dann wieder gibt es
       30- bis 40-minütige Feuergefechte aus nächster Distanz, Straße für Straße,
       mit der Kalaschnikow, dem Granatwerfer oder nur einer Beretta, Sandsäcke
       gewähren Deckung, Müllhaufen, man rennt, zielt, stirbt – bis ein
       amerikanisches Flugzeug auftaucht und Bomben abwirft, und für einen Moment
       alles still wird.
       
       Ismet Sheikh Hassan ist der Verteidigungsminister der autonomen kurdischen
       Region. „Die eigentliche Stärke der Islamisten ist, dass es keinen Ersatz
       für Assad gibt“, sagt er. Rein technisch gesehen hätten die Dschihadisten
       nicht einmal Rakka erobert, ihre Hauptstadt. Die Stammeschefs haben
       schlicht die Seiten gewechselt. „Aber die militärische Analyse sollte nicht
       die politische verdrängen“, sagt Hassan. „Es stimmt zwar, dass der IS sich
       unabhängig finanziert. Aber er braucht die logistische Unterstützung
       anderer Staaten. Insofern sollten wir überprüfen, wer mit wem verbündet ist
       in diesem Krieg.“
       
       ## Heldengeschichten, die kursieren
       
       Die Anspielung ist klar. Niemand unter den Kurden hat Zweifel daran, dass
       die Autobombe, die am 29. November in Kobani hochgegangen ist, aus der
       Türkei kam. Der Grenzbereich ist nach wie vor die gefährlichste Zone. Dort,
       wo die Verwundeten durch müssen, die Hilfstransporte für die verbliebenen
       7.000 Zivilisten in Kobani, herrscht ständiges Granatfeuer.
       
       Die ausländischen Journalisten wollen alles über Arin wissen, die Erste,
       die in einem Selbstmordattentat 27 Dschihadisten mit sich gerissen hat.
       Oder Ceylan, der ohne Munition war und sich lieber in die Luft gejagt hat,
       statt sich dem Feind zu ergeben. Unter den kursierenden Legenden bleibt als
       einzige Gewissheit, dass die Kurden keine Helden haben. Fragt man sie, wer
       ihre Bezugsfigur ist, erzählen sie von dem getöteten Kameraden an ihrer
       Seite. Wie er mit dem letzten Atemzug darum gebeten hat, dass sie für zwei
       weiterkämpfen. „Zwischen den Diensten lesen wir Bücher, hören Musik“, sagt
       Gisak. „Wir wollen nicht innerlich verrotten. Wir sind hier, um uns zu
       verteidigen, nicht um anzugreifen. Dies ist nur eine Zwischenphase.“
       
       Aber es ist schwer, sich an den Krieg nicht zu gewöhnen, hier in Syrien, wo
       man sich die Schuhe auszieht, auch wenn man nur ein Zelt betritt, als wäre
       man in einem normalen Haus zu Gast. „Was denkst du, wenn du auf einen
       Menschen zielst?“, frage ich Dalila. „Dass ich mich nicht bewegen darf.
       Sonst treffe ich nicht.“ 
       
       Übersetzung aus dem Italienischen von Sabine Seifert
       
       6 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Francesca Borri
       
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