# taz.de -- Politthriller aus Weißrussland: Ebenen der mentalen Verunsicherung
       
       > Viktor Martinowitschs spannender Roman „Paranoia“ ist in Weißrussland
       > verboten. Am Ende des Buches ist man bereit, jedem alles zuzutrauen.
       
 (IMG) Bild: Die subtile Covergestaltung des Buches spricht für sich.
       
       Über das autokratisch regierte Weißrussland weiß man nicht gar so viel. Der
       politische Fokus auf den Ukrainekonflikt trägt derzeit auch noch das Seine
       dazu bei, dass man von Westeuropa aus gesehen das Land, das inmitten
       zwischen Polen, der Ukraine, dem Baltikum und Russland liegt und damit rein
       geografisch noch gut zu Mitteleuropa gezählt werden kann, ziemlich
       gründlich aus dem Blick verloren hat.
       
       Auch kulturelle Erzeugnisse, etwa Literatur in deutscher Übersetzung,
       kommen aus Belarus selten zu uns. Mit Viktor Martinowitschs „Paranoia“
       liegt nun ein Roman vor, der unter anderem deshalb spannend ist, weil er in
       Weißrussland verboten wurde, was den Buchtitel gleichsam zu einer
       self-fulfilling prophecy macht.
       
       Auch in anderer Hinsicht ist „Paranoia“ aufschlussreich, zeichnet der Autor
       doch darin das Bild eines Staats, der ein derart paranoides Verhältnis zu
       seinen Bürgern pflegt, dass man bei der Lektüre ebenso gut meinen könnte,
       der Roman beziehe sich auf die Sowjetunion unter Stalin. Martinowitsch
       spart eher mit aktuellen Bezügen, was seiner Geschichte eine schwebende
       Hyperrealität verleiht, die es ermöglicht, den Roman in verschiedene
       Richtungen gleichzeitig zu deuten. Allerdings gab es, zugegeben, zu
       Sowjetzeiten noch keinen Latte macchiato.
       
       Der Konsum eines solchen Symbols westlichen Lebensstils nämlich ist es, der
       dazu beiträgt, dass Anatoli, einem jungen Literaten und
       Universitätsdozenten, eines Tages in einem Café eine junge Frau auffällt.
       Es handelt sich um so etwas wie Liebe auf den ersten Blick, woran sich auch
       dann nichts ändert, als die Unbekannte mit einem luxuriösen Auto
       davonfährt, das ein Kennzeichen des gefürchteten Inlandsgeheimdienstes
       trägt.
       
       Eine Amour fou nimmt ihren Anfang. Die Treffen der Liebenden finden unter
       konspirativen Bedingungen statt, und möglicherweise wird Anatolis
       Besessenheit von der schönen Lisa ja nicht zuletzt dadurch befeuert, dass
       die Geliebte, wie sich herausstellt, zugleich die Geliebte des Ministers
       für Staatssicherheit ist – ein Umstand, der dafür sorgt, dass das
       Verhältnis in allen Einzelheiten dokumentiert und an höchster Stelle
       referiert wird.
       
       ## Akribische Sexberichte
       
       Die Berichte der Geheimdienstler, die das Liebesnest überwachen, nehmen
       einen großen Teil des Romans ein. Die Akribie, mit der noch die winzigsten
       Alltagsdetails in den Berichten Beachtung finden, und die variantenreiche
       Umschreibung des Geschlechtsverkehrs entwickeln einen nicht
       unbeträchtlichen komischen Charme. Die größte Stärke von Martinowitschs
       Roman liegt in dieser hintergründigen anarchistischen Freude an der
       literarischen Zuspitzung von gesellschaftlichen Aufgaben und Rollen.
       
       Die bei Weitem belangloseste Rolle für die Romanhandlung kommt der Frau zu,
       die nicht mehr bleibt als ein Objekt der Begierde und als Verbindungsglied
       zwischen zwei Männern fungiert. Diese wiederum – der Schriftsteller und der
       Minister – erscheinen durch ihren extremen gesellschaftlichen Antagonismus
       fast schon wieder vereint, wie zwei Seiten einer Medaille.
       
       Der rätselhafte gewaltsame Tod der Frau bleibt ein reines Subthema, ist
       allein Katalysator dafür, den Roman auf eine neue inhaltliche Stufe und den
       Protagonisten auf eine neue Ebene der mentalen Verunsicherung zu heben. Im
       Gefängnis der Staatssicherheit, vielfach verhört und gequält, wird Anatoli
       sich zunehmend unsicher, ob er den ihm angelasteten Mord vielleicht doch
       begangen hat. Innerhalb des Wahrnehmungsrahmens des Romans bleibt bis zum
       Schluss unbestimmt, wer der wahre Täter war.
       
       Anatoli als Ich-Erzähler ist immerhin von Beginn an ein hysterischer Zug
       eigen, eine übersteigerte emotionale Erregbarkeit und eine geradezu
       hyperaktive Erzählseligkeit, die sich auch in einer oft quälend
       gesprächigen Prosa widerspiegelt. So schlägt die allgegenwärtige Paranoia,
       die im Roman der Staat den Bürgern und die Bürger dem Staat gegenüber
       pflegen, letztlich auch durch auf die Lesehaltung: Zum Schluss ist man
       tatsächlich bereit, jedem alles zuzutrauen.
       
       26 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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