# taz.de -- Berliner Ausstellung über Dieter Roth: Ihm war auch Hundegebell Musik
       
       > Ein Universalkünstler wird ausgestellt: Der Hamburger Bahnhof zeigt „Und
       > weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik“.
       
 (IMG) Bild: Das Gefrickel-Werk „Pier-House-Painting“ von Dieter Roth, gezeigt auf der Art Basel in 2009.
       
       Immer griffbereit: Aktenordner, Thermoskanne, Trompete, Autoradio,
       Getränke, Gläser, Keyboard, Spraydosen und Monitor. Diese „Bar 1“
       (1983-1997) genannte Assemblage fungiert als Prolog des großangelegten
       Parcours über „Dieter Roth und die Musik“, einer instruktiven Schau im
       Hamburger Bahnhof in Berlin.
       
       „Bar 1“ ist eine an Stangen und Paletten zusammenmontierte, schier
       überwältigende Ding-Sammlung. Wo beginnt ihr Innenleben, was ist ihr Außen?
       Das zusammengetragene Material scheint variabel erweiterbar, weist
       zahlreiche Gebrauchsspuren auf. Zum Vorschein kommt darin die Erinnerung an
       Gehörtes, die fulminante Erfahrung von Musik, und sie wird ohne Umschweife
       weitergegeben.
       
       Etwa als Performance: „Bar 1“ wirkt, als seien Intarsien eines Ateliers zum
       raumgreifenden Bühnenbild erweitert. Man merkt es nicht nur an der
       13-jährigen Entstehungsgeschichte der „Bar 1“: Zeit war für Dieter Roth
       (1930-1998) ein relativer Begriff. Im „Fernquartett“ einer während zehn
       Jahren entstandenen Installation, bestehend aus vier Kassettenrekordern und
       vier Lautsprecherboxen installiert in einem ausklappbaren Rollschrank,
       zusammen mit 48 Tapes in Boxen aus Plastik.
       
       Darauf ist Musik enthalten, die von Roth und seinen drei Kindern zwischen
       1970 und 1980 eingespielt wurde, jeweils zwölf Stunden unabhängig
       voneinander entstandenes Material mit Viola, Cello, Violine und Piano.
       
       ## Grenzüberschreitungen eines Universalkünstlers
       
       „Und weg mit den Minuten“ heißt: Roth stiehlt dem Publikum die Zeit. Nichts
       weniger als die Grenzüberschreitung darf man von diesem Universalkünstler
       erwarten. Musik war für ihn kein harmonischer Begriff, ersichtlich im Werk
       „Tibidabo 24 Stunden Hundegebell“ (1977/78): in einem Tierheim aufgenommene
       Hundelaute auf 24 Tapes, dazu unzählige Fotos und Zeichnungen: Im Hamburger
       Bahnhof muss man sich dafür in den Keller begeben, dort dringt das Winseln
       und Jaulen der Tiere aus allen Ecken.
       
       Zahlreiche Werke entstehen gemeinsam mit Künstlerkollegen, etwa Vertretern
       der Gruppe vom Wiener Dichter Workshop (u. a. Oswald Wiener und Günter
       Brus) gibt er etwa in den Siebzigern in Westberlin Konzerte unter dem Titel
       „Selten Gehörte Musik“, die auf Schallplatte erschienen sind. Darin
       verschränken sich musikalisches Material, Sprachkritik und Nonsens-Dialoge
       zu einem Maelstrom.
       
       ## Kindheit mit Klavierunterricht
       
       Zur Musik hatte Dieter Roth ein inniges Verhältnis. Die Kindheit während
       des Zweiten Weltkriegs verbrachte er fernab seiner Nazieltern in der
       Schweiz, wo er in einer Pension untergebracht war, zusammen mit Emigranten,
       die künstlerisch tätig waren. Dort erhielt er Klavierunterricht, besuchte
       Konzerte, bekam Kenntnisse in klassischer Musik und Jazz vermittelt. In den
       Fünfzigern als Grafiker in Bern tätig, spielte Roth zeitweilig in einer
       Jazzcombo. Seine riesige Plattensammlung beherbergt Jazz, Pop und
       klassische Musik. Er las Partituren, während er Musik hörte.
       
       Wie gut er Instrumente spielen konnte, darüber streiten die Experten. Seine
       musikalische Begabung hat er erfolgreich verschleiert. Propagierte
       „Nicht-Können“ und erweiterte eigene Aufnahmen oder konzertante Auftritte
       um außermusikalische und technische Aspekte: Das Gespräch mit dem
       Tontechniker wird Teil der Performance beim „Quadrupel-Konzert“ (Basel
       1977), die Unterbrechung wird Teil des performten Stücks.
       
       Material, das währenddessen auf Tonband aufgenommen wurde, wird live
       dazugemischt. An seinem „Bösendorfer“-Flügel hatte Roth die Saiten grün
       lackiert, am Gehäuse sind oberhalb der Tasten Ausschnitte von Polaroidfotos
       angebracht, sie wirken wie Fresken.
       
       ## Kalendereintrag vom August 1997
       
       Fragmentarisches zieht sich durch die sehenswerte Ausstellung. Auf 3000
       Quadratmetern sind 200 Werke zu sehen, darunter Gemälde, Fotos,
       Konzertplakate, Plattencover, Tondokumente, Buchillustrationen, Briefe und
       verstreute Tagebuchnotizen „Arnold -Schönberg, Schwarzenegger“ steht da
       etwa mit einem Pfeil versehen, in einem Kalendereintrag vom August 1997.
       
       „Dieter Roth verstand sein ganzes Tun als Teil des Stoffwechselkreislaufs -
       und da fällt nun mal viel Scheiße an: fruchtbarer Dung für Neues“, schrieb
       Roths Künstlerkollege Jan Voss einmal zum Verständnis von dessen
       dichterischem Werk. Und Roths dichterisches Werk, seine Auseinandersetzung
       mit der Sprache ist mit seiner Musikleidenschaft verwandt.
       
       Ansätze und Ausdrucksformen der Konkreten Poesie sind grundlegend für
       Dieter Roths Musikverständnis. „Roth geht (...) von Sprache als einzigem
       und zugleich ungenügendem Zugang aus, über den wir Realität und (...)
       Identität erfahren.“ Schreibt Sven Beckstette im Katalog. Oftmals versagte
       Dieter Roth die Sprache, Musik half ihm beim Vermitteln seiner
       Gemütszustände und Ausleben seines immensen Schaffensdrangs.
       
       18 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Musik
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) Tickets
 (DIR) Kurt Cobain
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ausstellung Gustav Metzger in Berlin: Autodestruktive Schönheit
       
       Das prozessuale Werk „Mass Media – Today and Yesterday“ des
       Aktionskünstlers Gustav Metzger ist im Berliner N.B.K. zu erleben.
       
 (DIR) Jérôme Ferrari über Roman „Das Prinzip“: „In Quantenphysik steckt Literatur“
       
       Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari über seinen Heisenberg-Roman
       „Das Prinzip“, die Rolle von Fantasie in Forschungen und das Lernen aus
       Geschichte.
       
 (DIR) Kommentar Ticket-Monopol: Limitiert, nur für kurze Zeit erhältlich
       
       Künstliche Engpässe und Zusatzgebühren treiben die Preise von
       Konzerttickets nach oben. Niemand schaut den Ticket-Monopolisten auf die
       Finger.
       
 (DIR) Musikfilme auf der Berlinale: Auf dem Grund der Seele
       
       Die Sektionen Panorama und Berlinale Special zeigen fünf Filme über
       musikalische Ausnahmetalente, ihre Motive und ihre Krisen.