# taz.de -- Die Wahrheit: Das Leben eines heiligen Punks
       
       > Der Oberpunk, der einst Hollandfahrrad-Schluffi war und später Chirurg
       > wurde: An der Nordseeküste gibt es durchaus interessante Biografien.
       
       Es war die Zeit, in der der Punk in meine Heimatstadt an der Nordseeküste
       kam. Noch kurz zuvor hatten die Jungs weiße Latzhosen getragen und auf
       Hollandrädern mit Friedenstaubenaufklebern gesessen – jetzt hockten sie in
       zerrissenen Lederjacken an der Theke des Apache Inn, schoben sich zum
       Zeitvertreib Sicherheitsnadeln durch die Ohrläppchen, soffen Bier wie die
       Ochsenkutscher und rülpsten, dass man es bis Helgoland hören konnte.
       
       Der Coolste von allen war Frimmi. Niemand wusste, warum er so hieß, die
       anderen Punks aber nannten ihn ohnehin nur „Bürste“ oder, wenn sie ihm ihre
       besondere Zuneigung demonstrieren wollten, „Klo-Bürste“. Denn anders als
       bei ihnen, die ihre Latzhosenträgermähnen einfach raspelkurz abgesägt
       hatten, hatte Frimmi die Matte in eine monströse kreischgrüne Stachelfrisur
       verwandelt.
       
       Er sah aus wie ein extraterrestrischer Kaktusmann, und als er erzählte,
       dass er außer der grünen Farbe keinerlei Hilfsmittel verwende, sondern die
       Zackenfrisur durch reine Willensanstrengung hergestellt habe, klappten
       seinen Freunden die Kinnladen bis auf die Theke hinunter.
       
       Doch Frimmi konnte noch mehr: Hörte man die anderen ächzen, wenn sie sich
       eine Nadel ins Ohrläppchen piekten, stach Frimmi zu, ohne eine Miene zu
       verziehen. „Tut dir das nicht weh?“, fragte Ratte, der Kleinste. „Kein
       Stück“, sagte Frimmi. „Irre“, staunte Ratte und hielt ihm ein Ohr hin:
       „Mach mal!“ Frimmi nahm eine Nadel, und Ratte rief: „Ein Wunder! Du bist
       ein Heiliger, ich weiß, wovon ich rede!“
       
       ## „Zeigs mir!“
       
       Das war nicht übertrieben, denn Ratte war der Sohn eines schrulligen
       Leuchtturmwärters mit schlesischen Wurzeln, der die endlosen Stunden in
       seiner Blinklichtstube dem Bibelstudium widmete und schwer darunter litt,
       in einem dermaßen gottlosen Landstrich leben zu müssen. Er war eine
       stadtbekannte Person, da er regelmäßig Mahnwachen gegen Sittenverfall und
       Atheismus abhielt, und daher wunderte es mich nicht, dass er am nächsten
       Abend ins Apache hereinstiefelte und auf Frimmi zuging.
       
       „Bis du das?“, japste er und hielt ihm eine Sicherheitsnadel hin: „Zeigs
       mir!“ Frimmi zuckte die Schultern und nahm die Nadel, und Sekunden später
       jubilierte der Leuchtturmwärter: „Tatsächlich! Hosianna!“, und zog Frimmi
       mit den Worten: „Komm mit, wir retten die Welt vor dem Untergang!“, hinaus.
       
       Tags drauf erschien ein Foto in der Zeitung, das Butz, der Wirt des Apache
       heimlich geschossen hatte. Es zeigte den Leuchtturmwärter mit durchbohrtem
       Ohrläppchen und Frimmi im Schlepptau, und die Bildunterschrift erging sich
       in einer konfusen Spekulation über den Zusammenhang von Punk und religiösem
       Fanatismus.
       
       Frimmi hingegen saß abends schon wieder an der Theke, da ihm, wie er
       erklärte, das Berufsbild des Heiligen bei genauerem Hinsehen nicht
       besonders zugesagt habe. Er soll stattdessen, wie ich hörte, irgendwo im
       Ruhrgebiet Chirurg geworden sein und nur selten – sozusagen, um nicht aus
       der Übung zu kommen – einen Blinddarm ohne Narkose entfernen.
       
       24 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joachim Schulz
       
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