# taz.de -- Kämpfe um Mariupol in der Ostukraine: Warten auf den Feind
       
       > Die Einwohner von Mariupol sind von den ständigen Gefechten zermürbt. Wie
       > kann man eine Stadt verteidigen, die gar nicht verteidigt werden will?
       
 (IMG) Bild: Freiwillige bei Schirokino, 15 Kilometer östlich von Mariupol. Irgendwo hinter den Wällen beginnt die „Donezker Volksrepublik“
       
       MARIUPOL taz | Manchmal ist es besser, in Mariupol den Mund zu halten. Ein
       Mann lehnt an einer Mauer im Stadtviertel Wostotschni und hält sein
       Morgenbier in der Hand. Als er hört, dass jemand etwas auf Englisch sagt,
       fängt er an zu keifen. Die Flasche schwenkt er, als wolle er sie werfen.
       Die Englischlehrerin Margo Stachiw beschleunigt ihren Schritt und biegt um
       die Ecke in eine unbelebte Gasse. Sie blickt sich um. In der Straße sind
       kaum Fußgänger unterwegs, niemand ist in Hörweite. „Ich habe dich gewarnt.
       Die Leute in Wostotschni mögen keine Europäer“, flüstert sie in der fremden
       Sprache.
       
       Die Mauern der Wohnblocks ringsum tragen Narben wie Pockengesichter. Die
       Trümmer der Grad-Raketen, die im Januar hier auf dem Wochenmarkt von
       Wostotschni eingeschlagen sind, haben sich wie glühende Nägel in den Beton
       gebohrt. Auf dem Markt selbst hinterließen sie an jenem Tag einen Sumpf von
       Blut und zerfetzen Gliedmaßen. Die Stadtverwaltung zählte dreißig Tote. Die
       Menschen in Wostotschni glauben aber bis heute, dass es viel mehr gewesen
       seien.
       
       Zwei Monate und ein Waffenstillstandsabkommen später sitzen die Menschen in
       Wostotschni, das übersetzt das Östliche Viertel heißt, abends in ihren
       Wohnungen und beobachten ein Wetterleuchten am Himmel, das keines ist. Sie
       bereiten ihr Abendessen zu, während draußen nur wenige Kilometer östlich in
       dem umkämpften Ort Schirokino Mörsergranaten explodieren. Die dürfte seit
       dem Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 eigentlich keine Seite mehr
       einsetzen. Die Bewohner gehen mit der Angst ins Bett, das eines der
       Geschosse ihren Wohnblock trifft. Keine Sirene wird sie warnen.
       
       Doch selbst wenn es ein Frühwarnsystem gäbe – wie sollen sie rechtzeitig
       vor dem Einschlag von einem höheren Stockwerk in die provisorischen
       Schutzbunker im Kellergeschoss rennen? So schnell kann kein Mensch laufen.
       Also bleibt den Menschen in Wostotschni nur die Hoffnung, dass es wieder
       gut geht in dieser Nacht. Und am Morgen wird ein neuer Tag bleischwer auf
       ihnen lasten, an dem sie wieder dem Himmel über ihren Köpfen nicht trauen
       können.
       
       ## Das Gehör ist sensibler geworden
       
       Margo Stachiw lebt in einem Viertel von Mariupol, das direkt an Wostotschni
       grenzt. Auch sie hört von ihrer Wohnung aus jeden Tag in der Ferne das
       Grollen der Geschütze und das Knattern der Maschinengewehre. Ihr Gehör,
       sagt sie, sei in den vergangenen Monaten sensibler geworden. Sie könne
       erkennen, ob die Front stagniert und Ukrainer und Separatisten sich nur
       gegenseitig beharken. Dann dreht sie oft die Musik einfach lauter, die sie
       mit Kopfhörern hört.
       
       Vor wenigen Tagen musste sie aber an den Rucksack mit Dokumenten, Geld und
       Kleidungsstücken denken, den sie in einen Schrank gepackt hat und mit dem
       sie im Notfall irgendwohin flüchten möchte, wie sie sagt. Denn der Donner
       der Artillerie schien bedrohlich laut. Dann flauten die Kämpfe aber wieder
       ab, und sie hört nun von der Front nicht mehr als den Gute-Nacht-Gruß mit
       Mörsergranaten, den beiden Seiten in den Abendstunden über die Front hinweg
       austauschen.
       
       Margo Stachiw hat den Rucksack mit dem Nötigsten also im Schrank gelassen.
       Stattdessen packt sie ihre guten Sachen in Ruhe in ihren Koffer. Das Ticket
       für die Fahrt in die Hauptstadt Kiew ist schon gebucht, die Einladungen für
       Vorstellungsgespräche hat sie bereits erhalten. Keine überhastete Flucht
       vor den anrückenden Truppen der „Donezker Volksrepublik“ kommt der
       geplanten Ausreise aus der umkämpften Stadt dazwischen.
       
       ## Die Angst, in einem anderen Land aufzuwachen
       
       Margo Stachiw will nur noch weg aus Mariupol. Weg von der Angst, morgen in
       einem anderen Land aufzuwachen, wenn nachts nicht ein Raketenangriff das
       Leben beendet hat. Weg aus einer Stadt, in der sie es immer schwerer habe,
       sie selbst zu sein, wie sie sagt. „Ich habe Angst, in Mariupol Ukrainisch
       zu sprechen“, sagt die 23-Jährige. Margo Stachiw gehört zur
       russischsprachigen Mehrheit in Mariupol. Aber sie spricht auch Ukrainisch
       und schwärmt von Lwiw, der Großstadt im Westen des Landes. Es gehöre Mut
       dazu, sich dazu in manchen Teilen von Mariupol zu bekennen.
       
       „Und seit dem Raketenangriff im Januar ist es noch schlimmer geworden“,
       sagt sie. Damals rückten die ukrainischen Freiwilligen des Asow-Regiments
       als Erste am Ort des Einschlags an. Für viele Bewohner gilt das als Beleg,
       dass die Asow-Kämpfer vorab Bescheid wussten von dem Blutbad. „Viele
       Menschen in Mariupol glauben, was ihre Verwandten in Russland sagen. Dass
       die Ukraine an allem schuld ist und auch die Geschosse abgefeuert hat“,
       erzählt Stachiw. Die eindeutigen Belege der OSZE, dass die Raketen vom
       Gebiet der Separatisten im Osten abgeschossen worden sind, interessiere die
       Menschen nicht. „Die russischen Medien sagen, dass die Europäer Komplizen
       der ukrainischen Faschisten sind. Also glaubt ihnen niemand.“
       
       Der Hass auf Europäer in ihrem Viertel Wostotschni tut der Englischlehrerin
       weh. Sie träumt davon, irgendwann nach Schottland zu reisen. Bisher hat sie
       es nur in die westlichen Nachbarstaaten geschafft – nach Polen, in die
       Slowakei, nach Ungarn. Obwohl sie nur einen kleinen Teil des Kontinents
       kennt, spricht Margo Stachiw das Wort „Europa“ geradezu liebevoll aus.
       Warum so viele Menschen um sie herum dasselbe Wort nur mit Abscheu äußern,
       versteht sie nicht.
       
       ## "Die Separatisten haben die Geschäfte geplündert"
       
       Die ukrainischen Soldaten und erst recht die Kämpfer der
       Freiwilligenbataillone würden viele als Besatzer wahrnehmen. „Dabei waren
       es die Separatisten, die im Sommer Geschäfte geplündert haben“, erzählt
       sie. Ein halbes Jahr, nachdem die ukrainischen Truppen Mariupol
       zurückerobert haben, hat Margo Stachiw zumindest wieder ein sicheres
       Gefühl, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs ist.
       
       Eigentlich müssten die anderen Frauen in der Nachbarschaft ähnlich
       empfinden, glaubt sie. Doch ihre eigene Mutter wettert tagtäglich gegen die
       ukrainischen Soldaten und freiwilligen Kämpfer. Einen Plan B für den Fall,
       dass sie sich in Kiew nicht über Wasser halten kann, hat Margo Stachiw
       nicht. Doch einen Rückfahrtkarte nach Mariupol würde sie auf keinen Fall
       kaufen, beteuert sie.
       
       Vielleicht war es der schwerste Fehler der ukrainischen Truppen, der Stadt
       Lenin zu nehmen. Nachdem Mariupol im Sommer wieder in der Hand der Armee
       und der Freiwilligenverbände war, wurde die Statue des Bolschewikenführers
       vom Sockel gehoben. Ein Holzkreuz wurde vor dem enthaupteten Denkmal
       errichtet. Das Kreuz blieb aber nicht lange. Es verschwand eines Nachts.
       Seitdem liefern sich die Stadtverwaltung und die Rächer Lenins ein Spiel.
       Wer hat den längeren Atem? Die einen stellen ihr Holzkreuz auf, die anderen
       rücken nachts mit Äxten an, um es zu fällen.
       
       ## Heimat Sowjetunion
       
       Max Nikolajenko wundert es nicht, dass viele in Mariupol das Sakrileg an
       Lenin bis heute nicht verwunden haben. „Vor dem Zweiten Weltkrieg war
       Mariupol eine ukrainische Stadt. Danach haben sich hier Menschen aus der
       ganzen Sowjetunion angesiedelt. Die meisten haben immer noch das Gefühl,
       dass nicht Russland oder die Ukraine ihr Heimatland ist, sondern die
       UdSSR“, glaubt Nikolajenko. Seine eigene Familie stammt aus Russland genau
       wie die seiner Freundin, und er spricht Russisch. Und es erstaunt ihn
       nicht, dass viele Menschen in Mariupol weder ukrainisch bleiben wollen noch
       unter der Herrschaft der Separatisten leben möchten. „Viele hoffen, dass
       die russische Armee kommt und für Ruhe sorgt.“
       
       Der 30-jährige Ingenieur arbeitet für das Stahlwerk Asowstal. Es gehört zum
       Metinvest-Imperium des Donezker Oligarchen Rinat Achmetow. Sein Gehalt ist
       in den vergangenen Monaten von umgerechnet 800 Dollar auf 150 Dollar
       geschrumpft. Asowstal bekommt keinen Nachschub mehr an Eisenerz und
       Steinkohle aus den Gebieten der „Donezker Volksrepublik“. Deshalb hat das
       Unternehmen die Arbeiter in Kurzarbeit geschickt. Mariupols Metaller haben
       nun weniger Lohn in der Tasche, während der Krieg die Preise immer höher
       steigen lässt.
       
       Die Schwierigkeiten von Asowstal reißen die ganze Wirtschaft der Stadt in
       den Abgrund. Metinvest ist Mariupol und Mariupol ist Metinvest, sagen die
       Menschen. Die Wirtschaft der ganzen Stadt hängt vom Wohlergehen des größten
       Arbeitgebers ab. Haben die Metaller kein Geld, kaufen sie nichts und die
       Cafés und Restaurants bleiben leer. Max Nikolajenko erstaunt es deshalb
       nicht, dass die Menschen in Mariupol nur eines wollen: Frieden – egal zu
       welchem Preis und unter welcher Flagge.
       
       ## Träumen im Café La Rochelle
       
       Der schlimmste Feind der Ukraine sei das russische Fernsehen, glaubt
       Nikolajenko. Der Ingenieur trifft sich mit seiner Freundin Alina Malygina
       gern im Café La Rochelle in der Innenstadt. Die Wände sind dekoriert mit
       Bildern von Catherine Deneuve, Jean-Paul Belmondo und anderen französischen
       Stars. Édith Piaf haucht aus den Musikboxen ihre Chansons.
       
       Max und Alina stammen aus Russland, sprechen Russisch, träumen aber von
       einer europäischen Leben. Die Ukraine ist für sie wie eine Brücke in eine
       Welt, in der sie vielleicht einmal ohne Visum nach Paris reisen könnten.
       Nur, in ihren Familien und in ihrem Freundes- und Kollegenkreis sind viele
       ganz anderer Meinung. Im Februar 2014 haben sich beide vor allem über das
       Internet über die Ereignisse auf dem Maidan und danach auf der Krim und im
       Donbass informiert. Ihre Verwandten hätten dagegen das russische Fernsehen
       eingeschaltet.
       
       Als die ukrainischen Truppen und die Freiwilligenbataillone im Sommer die
       Stadt von den Separatisten zurückerobert haben, war die Angst vor
       Gräueltaten groß. „Für viele Leute war es klar, dass uns Faschisten
       eingenommen haben. Und sie glauben es immer noch, obwohl hier niemand
       Kinder umbringt oder Leute aufhängt“, sagt Alina. Die Tatsache, dass es in
       Mariupol nicht einmal eine nächtliche Ausgangssperre gibt, ändere nichts an
       dem Gefühl vieler Menschen, unter einem brutalen Besatzungsregime zu
       leiden.
       
       ## Hauptsache ein Staat sorgt, welcher ist egal
       
       „Sie wollen von der Regierung in Kiew mehr finanzielle Unterstützung,
       lehnen aber die ukrainischen Truppen ab. Das ist absurd“, ruft die
       23-Jährige. Ihr Freund findet das weniger widersprüchlich, weil für ihn
       Mariupol ein aus der Zeit gefallenes Stück Sowjetunion ist. „Die Menschen
       können mit Patriotismus nichts anfangen. Für sie gibt es nur sie selbst und
       den Staat, der sie versorgt“, sagt er. Welcher Staat das letztlich ist, sei
       den Leuten gleichgültig.
       
       Wie lässt sich eine Stadt verteidigen, die vielleicht gar nicht verteidigt
       werden will? „Budweiser“ und „Sidori“ stellen sich diese Frage nicht. Die
       beiden Kämpfer des Freiwilligenbataillons Dnipro nennen lediglich ihre
       Kampfnamen, die sie auch über Funk kommunizieren. Eine Vorsichtsmaßnahme
       für den Fall, dass sie der anderen Seite in die Hände fallen. Die Angst vor
       Rache ist groß. Sie haben schließlich Verwandte in den
       Separatistengebieten. Was passiert, wenn die „Donezker Volksrepublik“
       herausbekommt, dass jemand aus der Familie für die andere Seite kämpft?
       
       „Budweiser“ und „Sidori“ ist es egal, ob die Menschen in Mariupol sie mögen
       oder nicht. Sie haben andere Dinge zu tun, behaupten sie. Vor allem müssen
       sie schauen, wie sie im Stellungskrieg um die Kleinstadt Schirokino 15
       Kilometer außerhalb von Mariupol am Leben bleiben. Allein in den
       vergangenen 24 Stunden hätte es fünf Kameraden erwischt, erzählen sie. Die
       Separatisten würden ihre schweren Waffen verstecken, damit die
       OSZE-Beobachter sie nicht so leicht entdeckten. Doch sobald es dunkel wird,
       würden sie aus vollen Rohren feuern. Dass es in Kürze zu einem Angriff auf
       Mariupol kommt, steht für die Kämpfer fest.
       
       ## "Budweiser" und "Sidori"
       
       Beide fahren in voller Montur in ihrem Jeep durch Mariupol. Die
       Maschinengewehre haben sie griffbereit zwischen ihre Schenkel abgestellt.
       „Natürlich kann ich verstehen, dass die Menschen Angst haben, wenn sie
       bewaffnete Männer wie uns sehen“, räumt „Budweiser“ ein. Doch damit endet
       schon sein Verständnis für die Einwohner, die den Freiwilligenverbänden
       ablehnend gegenüberstehen.
       
       „Wer etwas gegen Leute hat, die unser Land verteidigen, soll doch nach
       Russland gehen“, schimpfen er. „Sidori“ sieht es so: „Wenn ich Insekten im
       Haus habe und diese Insekten der Meinung sind, das sei ihr Zuhause, werde
       ich sie trotzdem vernichten“. Die Frage, was das Bataillon Dnipro also tut,
       um auch diejenigen in Mariupol zu überzeugen, die sie als Besatzer sehen,
       hat sich mit „Sidoris“ Vergleich erübrigt.
       
       Die Partisanen Mariupols brauchen jemand, der auf sie aufpasst. Sie haben
       ihre Zentrale in einem Kellergeschoss im Zentrum der Stadt. Einer muss
       draußen Wache schieben, weil auf das Büro der „Samooborona“, der
       Selbstverteidigungskräfte, schon mehrmals Brandsätze geschleudert worden
       sind. Im Inneren des Raums hängt ein Verteilerkasten, der in den Flammen
       geschmolzen ist. Ansonsten glänzt der Raum in einem hellen Gelb, das die
       Freiwilligen nach dem letzten Anschlag über den Ruß gepinselt haben.
       
       ## Ein nervöser Partisan
       
       Maxim Swetlow zieht nicht einmal Anorak und Stiefel aus, um ein Interview
       zu geben. Nervös spielt der Kopf der Mariupoler „Samoobrona“ mit seinem
       Autoschlüssel, als müsste er schon längst dringend weg sein. Die Zeit
       scheint abzulaufen für den Mann, der einen Partisanenkampf vorbereiten
       will.
       
       200 Männer zählt Swetlow zu seinen Mitkämpfern. 1.000 Bürger aus Mariupol
       will er trainiert haben, wie sie sich zum Beispiel mit Messern verteidigen
       könnten. Glaubt er selbst, dass seine Truppe irgendetwas ausrichten könnte?
       „Wir tun, was wir können.“ Auf die Frage, warum denn der Rest der 470.000
       Einwohner glaubt, dass es besser ist, sich nicht auf eine
       Selbstverteidigung vorzubereiten, gibt er eine kurze Antwort: „Die meisten
       Menschen wollen Frieden, keinen Krieg.“
       
       Und er selbst, warum will er sich in ein vielleicht aussichtsloses letztes
       Gefecht stürzen? Swetlow berichtet von Gräueltaten der anderen Seite in der
       „Donezker Volksrepublik“. Sie könnten wahr sein, sie könnten Propaganda
       sein. Dann wird der russischstämmige Mann aus Mariupol grundsätzlich. „Die
       Russen sind unsere Brüder. Aber wenn mein Bruder mir vorschreiben will, wie
       ich zu leben habe, dann darf ich mich wehren.“ Mit seiner Wut auf den
       großen Bruder ist der Partisan ziemlich allein in einer Stadt, die ihr
       Schicksal erwartet.
       
       24 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cedric Rehman
       
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