# taz.de -- Debatte Brasiliens Regierung: Der Fluch der Präsidentin
       
       > Massenprotest, Inflation, ein Korruptionsskandal: Dilma Rousseff ist
       > angeschlagen. Nur bietet die Opposition keine Alternative außer
       > neoliberalen Dogmen.
       
 (IMG) Bild: Sowohl die Armen wie die Linken verzweifeln so langsam an ihrer Präsidentin: Demonstranten mit Lula da Silva und Dilma Rousseff Masken.
       
       Als „neuen 15. März der Demokratie in Brasilien“ feierte die Zeitung O
       Globo die landesweiten Massendemonstrationen vom vorvergangenen Sonntag.
       Das Blatt mit Sitz in Rio de Janeiro bezog sich auf den Amtsantritt des
       ersten zivilen Präsidenten vor 30 Jahren, nachdem die Militärs 21 Jahre
       lang regiert, gefoltert und gemordet hatten. Die Rede war von einem
       gelb-grünen Meer Hunderttausender Menschen, wie in den 90er Jahren, als die
       Absetzung des korrupten Präsidenten Fernando Collor durchgesetzt wurde.
       
       Ebenso wird der Kampftag der rechten Opposition in den führenden Medien mit
       der Protestwelle vom Juni 2013 verglichen: Unter dem Motto „Die Rückkehr
       der Demonstrationen“ sei mehr Demokratie und ein Ende der Korruption
       gefordert worden. Dass es damals im Vorfeld der Fußball-WM in erster Linie
       um besseren öffentlichen Nahverkehr und um mehr Sozialstaat ging, soll
       vergessen werden.
       
       Oppositionsführer Aécio Neves spracht denn auch von einem Aufbruch und dass
       die Proteste gegen die Regierung der Arbeiterpartei PT erst am Anfang
       stehen. Es ist nicht einmal fünf Monate her, dass Neves die Stichwahl gegen
       Amtsinhaberin Dilma Rousseff verlor. Der smarte Politiker zog es vor, den
       Massenkundgebungen fernzubleiben.
       
       Mit gutem Grund: Die Chance wäre groß gewesen, dass sein Image als
       Vorkämpfer für Demokratie Kratzer bekommen hätte. Denn allerorten forderten
       Demonstranten auch eine „Rückkehr der Diktatur“, Sprechchöre und
       Transparente riefen gar zu einer „Militärintervention“ auf, um das Land vom
       PT-Regime zu „befreien“.
       
       ## Traditionelle Familienwerte
       
       Solche Positionen sind innerhalb der brasilianischen Rechten keine
       Überraschung, auch wenn sie nur von einer Minderheit vertreten werden.
       Überraschend und besorgniserregend ist aber, dass die anderen „Demokraten“
       offenbar keine Probleme damit haben. Nirgendwo wurde berichtet, dass sich
       Demonstranten von den Diktaturverfechtern distanziert hätten.
       
       Es war die konservative, weiße Mittelschicht, die Mitte März ihre
       wirklichen oder eingebildeten Privilegien verteidigen wollte. Sie ist nicht
       die Mehrheit in Brasilien und hat auch keine politische oder ökonomische
       Alternative zu bieten außer einem Zurück zu neoliberalen Dogmen und
       traditionellen Familienwerten.
       
       Die Mehrheit in Brasilien, das hat auch die Wahl im Oktober gezeigt, will
       nach wie vor mehr Sozialleistungen und bessere öffentliche
       Dienstleistungen, will mehr Alltagsdemokratie und mehr Rechte. Allerdings
       verzweifeln sowohl die Armen wie die Linken so langsam an ihrer
       Präsidentin. Nicht weil sie Fehler gemacht hat, wie jede andere Regierung
       auch. Es ist ihr Umgang mit der Krise, das fehlende politische
       Fingerspitzengefühl und das Buckeln vor rechten Forderungen, das
       Kopfschütteln bei den Unterstützern verursacht – und von der Opposition
       genüsslich angeprangert wird.
       
       ## Wirtschaft ist angeschlagen
       
       Zugegeben, selten müssen sich Staatsoberhäupter mit so vielen Problemen
       gleichzeitig herumschlagen: Die Wirtschaft ist angeschlagen, mit hoher
       Inflationsrate und stagnierendem Wachstum. Ein bizarrer Korruptionsskandal
       erschüttert den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, da Regierungsparteien
       und -politiker an die 3 Milliarden Euro abgezweigt haben sollen. Hinzu
       kommt Krach in der Regierungskoalition, der derart eskaliert ist, dass die
       Präsidenten von Senat und Parlament – beide Verdächtigte im
       Korruptionsskandal – die Regierungspolitik seit Wochen boykottieren. Und
       jetzt noch eine Opposition, die eine Amtsenthebung Rousseffs erwägt, weil
       sie von 2003 bis 2010 dem Verwaltungsrat von Petrobras vorsaß.
       
       Einige der Probleme sind der Regierung Rousseff nicht anzulasten. Die
       Konjunkturschwäche in Europa und vor allem Asien ließ die Nachfrage nach
       brasilianischen Rohstoffen rapide sinken. Und die Überbewertung der
       Landeswährung Real, der gerade ins Bodenlose fällt, sowie die mangelnden
       Investitionen in nationale Industrie sind ebenso wie die Korruption
       Schwächen, die seit viele Jahren bestehen.
       
       Dramatisch ist, wie Dilma Rousseff auf die Probleme reagiert. Mal sagt sie
       gar nichts, mal schickt sie Minister vor, die sich wie am Abend nach den
       Demonstrationen gegenseitig widersprechen. Wenn sie sich äußert, bittet sie
       um Geduld oder gesteht gequält einige Fehler ein. Und rückt dabei jedes Mal
       ein Stückchen weiter nach rechts. Erst verkündet sie ein Paket von
       Sparmaßnahmen gegen die Wirtschaftskrise, das aus der Feder ihrer
       Kontrahenten bei der Wahl stammen könnte.
       
       ## Zeternder Koalitionspartner
       
       Den zeternden, rechtslastigen Koalitionspartnern signalisiert sie
       Entgegenkommen, obwohl diese gerade der Reform des politischen Systems und
       vor allem der Parteienfinanzierung durch Unternehmen eine Absage erteilt
       haben. Und es kommt keine einzige Sympathiebekundung für die sozialen
       Bewegungen, die mit einer breiten Mobilisierung zur Stichwahl Rousseffs
       knappen Sieg retteten. Agrarreform, Recht auf eine lebenswerte Stadt,
       Schutz der Indigenen gegen Vertreibungen, Maßnahmen gegen tödliche
       Polizeigewalt – alles Fremdworte für diese Regierung.
       
       Ist die Arbeiterpartei Brasiliens nach 12 Regierungsjahren am Ende? Wird
       sie weggeputscht oder löst sich sich in ihren eigenen Unzulänglichkeiten
       auf? Noch ist es nicht so weit, denn auch ihre Gegner haben Interessen und
       werden bald nach neuen Allianzen suchen. Die Unternehmerpartei PSDB von
       Aécio Neves wird nicht mit einem halb faschistoiden Mob gemeinsame Sache
       machen. Die von der Petrobras-Korruption angefressene Koalitionspartei PMDB
       stürzt ohne Regierungsbeteiligung in die Bedeutungslosigkeit. Und auch das
       Militär, das immer wieder gegen die einstige Gefolterte Rousseff murrt,
       wird sich gut überlegen, ob es sich mit der in 30 Jahren gewachsenen
       Zivilgesellschaft und ihren gefestigten Strukturen anlegen will.
       
       Der 15. März 2015 wird noch eine Weile in Erinnerung bleiben. Nicht als
       demokratischen Datum, aber als Ausgangspunkt für Reflexion über die
       Spaltung Brasiliens in zwei politische, moralische Lager. Fragen muss sich
       aber auch Rousseffs Arbeiterpartei, wie viele Kompromisse sie zum Erhalt
       einer halbrechten Koalitionsregierung eingehen darf.
       
       28 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Behn
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Dilma Rousseff
 (DIR) Schwerpunkt Korruption
 (DIR) Lateinamerika
 (DIR) Landrechte
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Schwerpunkt Korruption
 (DIR) Lehrer
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Schwerpunkt Korruption
 (DIR) Protest
 (DIR) Schwerpunkt Korruption
 (DIR) Import
 (DIR) Petrobras
 (DIR) Dilma Rousseff
 (DIR) Petrobras
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Bodenstreit in Brasilien: Jetzt geht‘s um die Verfassung
       
       Großgrundbesitzer wollen die Landrechte von Indigenen aushöhlen. Das
       gefährdet den sozialen Frieden in Brasilien und das Klima weltweit.
       
 (DIR) Soziologe über Brasiliens Ökonomie: „Genossenschaften mit Verrückten“
       
       Seit 12 Jahren ist Paul Singer in Brasilien Staatssekretär für Solidarische
       Ökonomie. Nun bedroht der Sparkurs der Präsidentin das erfolgreiche
       Projekt, sagt er.
       
 (DIR) Korruption in Brasilien: Geld statt Urteil
       
       In die Korruptionsskandale verwickelte Konzerne zahlen nun Millionen in die
       Staatskasse. Damit wollen sie einer Strafe entgehen.
       
 (DIR) Massenproteste in Brasilien: „Dilma und die Arbeiterpartei raus“
       
       Der Druck auf Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff steigt. Fast eine
       Million Menschen protestierten gegen die ökonomische Krise und Korruption.
       
 (DIR) Regierungkrise in Brasilien: Die Präsidentin strauchelt
       
       Die Koalitionsparteien torpedieren ihre Politik, die Opposition sieht sie
       am Ende, ein Korruptionsskandal schadet dem Ansehen Rousseffs.
       
 (DIR) Lehrerproteste in Brasilien: Hunderte Verletzte
       
       Im Süden Brasiliens protestieren Lehrer gegen Pensionskürzungen. Dabei
       kommt es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei.
       
 (DIR) Opposition in Brasilien: Rechtsruck mit Bibel, Blei und Bullen
       
       Totales Abtreibungsverbot, Verschärfung des Strafrechts, mehr Land für
       Großgrundbesitzer: Die Regierung schwächelt, die Konservativen freut's.
       
 (DIR) Erneut Proteste in Brasilien: Massen gegen die Präsidentin
       
       Regierungsgegner in Brasilien haben für Sonntag erneut zu Protesten in
       Hunderten Städten aufgerufen. Sie fordern ein Amtsenthebungsverfahren gegen
       Dilma Rousseff.
       
 (DIR) Proteste in brasilianischen Favelas: Die Polizei soll es richten
       
       Nachdem ein Zehnjähriger von der Polizei im Elendsviertel in Rio de Janeiro
       erschossen wurde, gibt es weiter Proteste. Jetzt soll die Polizei die Lage
       unter Kontrolle bringen.
       
 (DIR) Neuer Korruptionsskandal in Brasilien: Milliarden für Steuerbeamte
       
       Ein große Anzahl von Unternehmen soll Steuerbeamte bestochen haben.
       Angeblich sind insgesamt 5,4 Milliarden Euro Schmiergelder geflossen.
       
 (DIR) Zerstörung des Regenwaldes: EU-Importe fördern Tropenabholzung
       
       Alle zwei Minuten ein Fußballfeld: So schnell wird Wald in den Tropen
       vernichtet. Und Europa trägt eine Mitschuld, so das Ergebnis einer Studie.
       
 (DIR) Massenproteste in Brasilien: Millionen gegen Rousseff
       
       Mehr als 1,5 Millionen sind in Brasilien auf die Straße gegangen. Ihr Unmut
       richtet sich gegen die Präsidentin und den Korruptionsskandal um den
       Ölkonzern Petrobras.
       
 (DIR) Kommentar Korruption in Brasilien: Das System ist das Problem
       
       Erstmals stehen die Bestecher selbst im Mittelpunkt der Ermittlungen. Damit
       stellt sich die Justiz gegen die Instrumentalisierung von rechts.
       
 (DIR) Korruptionsskandal in Brasilien: Die Bestechlichen
       
       Für Aufträge des Staatskonzerns Petrobas in Brasilien sollen 800 Millionen
       Dollar Bestechungsgeld geflossen sein. Nun ermitteln Staatsanwälte gegen
       die Politiker.