# taz.de -- UN-Klimakonferenz in Belém: Eine Welt in abwehrender Schockstarre
> Technisch wäre der Klimakrise beizukommen, doch politisch wird es immer
> schwieriger. Die Demokratie steht vor kritischen politischen Kipppunkten.
Der Gipfel von Belém markiert das zehnjährige Jubiläum des Pariser
Klimaabkommens von 2015. Seinerzeit hatten sich 195 Staaten auf das Ziel
verständigt, ihr Möglichstes zu tun, um die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad
zu beschränken. Klimaneutralität sollte zum neuen Leitstern der
Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik weltweit werden, die Zeichen standen
auf Transformation. Blicken wir heute nach Brasilien, so scheint von diesem
politischen Optimismus nicht mehr viel übrig zu sein.
2024 war mit 1,6 Grad Erderwärmung das wärmste Jahr seit Beginn der
Aufzeichnungen. Die USA sind zum zweiten Mal aus dem [1][Pariser Abkommen]
ausgetreten und die weltweiten Emissionen steigen weiterhin. Um zu
erklären, warum die verbrieften Ziele nicht erreicht werden, wird immer
wieder auf die Freiwilligkeit der Vertragsstaaten bei der Umsetzung des
Abkommens verwiesen. Schließlich ist es den Ländern im Grunde selbst
überlassen, welche Maßnahmen sie ergreifen. Es hätte bindender Regeln
bedurft, um die Ziele zu erreichen.
Allerdings spielt sich der Klimaschutz schon lange nicht mehr allein auf
der Flughöhe wissenschaftlich informierter, internationaler Konferenzen und
Abkommen ab. Gerade nach Paris ist er zu einer treibenden Kraft
wirtschaftlicher und sozialer Veränderung geworden. Dabei hat es durchaus
beachtliche Entwicklungen gegeben. [2][China könnte schon heute praktisch
die ganze Welt mit Photovoltaik versorgen] und die Erneuerbaren sollen in
der Kostenrechnung unschlagbar günstig sein.
Führende westliche Industrienationen wie die USA oder Deutschland hatten
zwischenzeitlich bemerkenswerte wirtschaftliche Modernisierungsprogramme
zum Zweck des Klimaschutzes in Gang gesetzt – man erinnere sich nur an den
[3][Inflation Reduction Act] der Administration Joe Bidens oder das
Programm, das in Deutschland schwerpunktmäßig von [4][Robert Habecks
Wirtschaftsministerium] verantwortet wurde.
## Aufklärung bleibt ohne logische Konsequenz
Mit diesem Ankommen der Klimapolitik in den alten Demokratien des Westens
und dem Alltag ihrer Bürger*innen hat sich allerdings eine paradoxe
Situation aufgetan. Auf der einen Seite hat in diesen Gesellschaften seit
den 1980er Jahren ein langfristiger und äußerst erfolgreicher
Aufklärungsprozess hinsichtlich der ökologischen Folgen der
Industriegesellschaft stattgefunden. In Deutschland erachten heute bis zu
90 Prozent der Bevölkerung den Klimawandel als zentrales Problem, für das
sie politische Antworten erwarten.
Auf der anderen Seite hat aber Erfolg, wer sich bemüht, die Klimafrage
weitgehend zu ignorieren. Während das Bewusstsein über und die Mittel für
eine Klimawende im Geiste von Paris eigentlich zur Hand sind, stehen beim
Handeln die Weichen auf Beharrung und aggressiver Abwehr. So besehen sind
es weniger die architektonischen Schwächen des globalen Klimaregimes, die
die Wende verhindern.
Vielmehr hat sich auf der Ebene des gesellschaftlichen Alltags etwas
zusammengebraut, das die Leute dazu bringt, wider besseres Wissen und
demoskopisch gut dokumentierter Ängste, dem ökopolitischen Programm von der
Fahne zu gehen: Die Gesellschaft hat sich von der Klimapolitik abgekoppelt
just als diese begann, in ihren Alltag hineinzuwirken.
Zwei Entwicklungen sind hier hervorzuheben. Da ist zunächst der Charakter
der ökologischen Frage selbst, wie er heute in den alten
Industriegesellschaften des transatlantischen Westens thematisiert und
erfahren wird. Stand der Klimawandel in den 1980er und 1990er Jahren noch
für ein Phänomen, das mit dem Begriff des kalkulierbaren Risikos
einigermaßen treffend beschrieben war, haben wir es heute mit einer längst
akut gewordenen Bedrohung zu tun.
Die Klimakrise ist von einer unheilvollen Erwartung zu einem Phänomen
geworden, das nicht mehr nur im Globalen Süden, sondern auch in den Zentren
des Nordens akut spürbar ist. Der Klimawandel drängt hier immer stärker ins
Alltagsbewusstsein, von Bränden in Kalifornien bis zur [5][Flut im Ahrtal].
Dabei treffen die ökologischen Verheerungen heute allerdings auf eine ganze
Phalanx anderer, mit Angst besetzter Themen, mit denen sie in mediale
Konkurrenz treten.
## Im Schatten von Krieg und Corona
In den letzten Jahren hat sich die Klimafrage, trotz ihres Einsickerns in
den Alltag, immer wieder hinter noch akuteren Krisen einreihen müssen.
Fridays for Future wurde von der [6][Covidpandemie] aus der Öffentlichkeit
verdrängt. Die Kriege in der [7][Ukraine] und im [8][Nahen Osten] taten ihr
Übriges. Die Lebenswelten der Menschen sind jedoch anders gestrickt als die
Logik medialer Aufmerksamkeit. Was nicht mehr öffentlich ist, ist hier
nicht automatisch weg.
Vielmehr schichten sich im Bewusstsein der Bürger*innen die
wahrgenommenen Bedrohungen übereinander und reichern sich gegenseitig an.
Die verschiedenen Zäsuren der letzten Jahre haben sich in der Folge zu
einem allgemeinen Gefühl der Ohnmacht kumuliert. In großen Teilen der
Gesellschaft wird dieser Overload in Form eines panischen Festhaltens an
bestehenden Verhältnissen und Ordnungsmustern verarbeitet.
Das Beharren auf Dieselmotor und Ölheizung sind Ausdruck einer defensiven
Grundhaltung spätmoderner Lebenswelten im Angesicht fundamentaler
Selbsterhaltungsprobleme. Diese abwehrende Schockstarre ist zweitens kaum
anschlussfähig an die konkreten Programme, mit denen der Geist von Paris
auf seine Umsetzung drängte. Weltweit ist das Abkommen als Startschuss
einer gigantischen Agenda grüner Modernisierung interpretiert worden.
## Jenseits der Modernisierung
Sein Versprechen lautete nicht nur, dass die industrielle Lebensweise zum
Nulltarif für die Natur zu haben sein könnte. Vielmehr sollte die
Bearbeitung des Klimawandels letztlich sogar Chancen durch grüne Jobs in
neuen Wachstumsindustrien bieten, die Umbrüche in anderen Sektoren des
Arbeitsmarktes mehr als ausgleichen würden. Das politische Scheitern dieses
grün-modernen Aufbruchs liegt zu großen Teilen an der Tatsache, dass sich
der liberale Erneuerungsansatz selbst erschöpft hat.
Erfolgreiche Modernisierungsprozesse basieren nämlich stets auf einer
Allianz zwischen lebensweltlichen Orientierungen der Bevölkerung und der
Zielrichtung, die das politische System liefert. Als sich in den 1960er und
1970er Jahren etwa eine emanzipatorische Kritik an den starren Strukturen
der Industriegesellschaft artikulierte, konnte diese vom System genutzt
werden, um einen liberaleren, kreativeren und individualistischen
Kapitalismus zu errichten.
Heute stehen die Dinge ganz anders. Furchtsam erstarrte Lebenswelten
wünschen sich vor allem eines: Gegenwartsverlängerung.
Modernisierungsprogramme kommen aber niemals ohne Interventionen in den
Alltag aus. Vor diesem Hintergrund werden selbst moderate Versuche der
Marktgestaltung populistisch missbrauchbar. Erinnert sei an das
Heizungsgesetz, das sogleich als „[9][Energie-Stasi]“ mit der Vorstellung
eines den Privathaushalt infiltrierenden Wirtschaftsministers verbunden
werden konnte.
Zehn Jahre nach Paris stehen wir also vor einer Situation, in der uns die
technischen Mittel für eine ökologische Modernisierung gegeben sind, die
aber gleichzeitig als politisches Projekt immer schlechter funktioniert.
Gerade nach ihrem Scheitern an den Wahlurnen kann man nun den Eindruck
gewinnen, dass es der Rechten gelungen ist, der ökologischen Angst einen
neuen Ort zu geben.
Der sogenannte Vibe Shift nach rechts besteht politisch schließlich primär
darin, alle erdenklichen Sorgen an der Einwanderungsfrage auszurichten und
gleichzeitig die Hyperstabilität der fossilen Lebensweise zu beschwören.
Man versichert sich der eigenen Handlungsfähigkeit durch Grenzkontrollen,
Abschiebungen, Stadtbilddiskussionen und der Stabilität der eigenen
Lebenswelt durch fossile Restauration und [10][„Drill, baby, drill“].
## Links und ökologisch gehört zusammen
Erkennt man diesen Zusammenhang, dann schälen sich allerdings auch alte
Konturen der Linken wesentlich deutlicher heraus, als dies in den
Jahrzehnten liberaler Hegemonie der Fall war. Links und ökologisch gehören
dann schon deswegen zusammen, weil das Spiel der Rechten in der Übertragung
der nicht zuletzt durch die Aufklärung über Klimafragen erzeugten Ängste
auf Minderheiten und Randgruppen besteht.
Zugleich wird deutlich, dass die Linke womöglich auf die baldige Erlösung
aus dem klimapolitischen Schweigepakt hoffen darf, der sich durch das
kolossale politische Scheitern der grünen Modernisierung ergeben hat. Das
Bewusstsein über die ökologische Krise ist einstweilen relativ stabil. Die
rechten Projektionen werden immer häufiger mit realen Katastrophen
konfrontiert werden, die man dann auch nicht auf Einwanderung wird
projizieren können. Das Verschobene wird wieder ans Licht drängen.
Einstweilen gilt es, sich auf diesen Moment vorzubereiten, indem man den
politischen Raum studiert, in dem der Gegner gerade so virtuos navigiert.
Hier ist vor allem die enorme Instabilität der politischen Verhältnisse
entscheidend. Nach Jahrzehnten liberaler Hegemonie befinden wir uns heute
in einer Situation, in der, wie die Neue Rechte uns zeigt, politischer
Wandel viel schneller möglich ist als bisher. Darin liegt auch eine Chance.
Um sie zu ergreifen, muss die politische Linke weiterhin strategisch auf
der korrekten Zurechnung von Verantwortlichkeit und Schuld beharren.
Sie darf sich aber nicht mehr hinter der Verteidigung einer liberalen
Semantik verschanzen, sondern muss aktiv den Konflikt suchen und ihn
dramatisch zuspitzen. Sie muss sich damit befassen, wie man ökopolitische
Fortschritte in einer Situation erzielen kann, in der man selbst nach
Wahlerfolgen in stürmischen Gewässern verweilt. Sie muss stärker als heute
taktikfähig werden, denn die Demokratie im Klimawandel ist eine Demokratie
politischer Kipppunkte. Linke Politik in Zeiten des Klimawandels bedeutet
vor allem, diese Kipppunkte zu bespielen.
16 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Pariser-Abkommen/!t5301048
(DIR) [2] /Energieexperte-zu-Solaranlagen-aus-China/!6017591
(DIR) [3] /US-Praesident-Bidens-Klimapolitik/!6017759
(DIR) [4] /Habecks-Klimaplaene/!5825055
(DIR) [5] /Flutkatastrophe-in-Deutschland/!t5787404
(DIR) [6] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
(DIR) [7] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
(DIR) [8] /Naher-Osten/!t5025092
(DIR) [9] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/cdu-zerpflueckt-neuen-heiz-hammer-habeck-will-energie-stasi-einsetzen-84042210.bild.html
(DIR) [10] /USA-produzieren-so-viel-Oel-wie-nie/!5039831
## AUTOREN
(DIR) Philipp Staab
## TAGS
(DIR) Weltklimakonferenz
(DIR) Krise der Demokratie
(DIR) Transformation
(DIR) fossile Energien
(DIR) GNS
(DIR) Reden wir darüber
(DIR) Weltklimakonferenz
(DIR) Schwerpunkt Klimawandel
(DIR) Schwerpunkt Klimawandel
(DIR) Schwerpunkt Klimawandel
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Weltklimakonferenz in Brasilien: Weiter Streit um Abschlussdokument
Auf der Zielgeraden des Weltklimagipfels in Belém gibt es noch keine
Einigung über einen übergreifenden Konferenzbeschluss. Die EU zofft sich
mit den Ölförderländern und anderen Staaten um den Fahrplan für eine Abkehr
von fossiler Energie.
(DIR) Alternative zur Weltklimakonferenz: Revolution und Rhythmus beim Gipfel der Völker
Bewegungen, linke Politiker*innen und Indigene haben ihren eigenen
Klimagipfel nahe Belém gestartet. Viele erhielten keinen Zugang zur
offiziellen COP.
(DIR) Klima-Diplomat über Vorgehen der USA: „Das war brutal“
Jochen Flasbarth leitet die deutsche Delegation zum UN-Klimagipfel. Mit der
taz spricht er über Zuversicht, das 1,5-Grad-Ziel und die USA.
(DIR) Weltklimakonferenz COP30 in Brasilien: Klimaanpassung als Chance
Die Grünen wollen, dass sich Deutschland in Belém stärker mit
Entwicklungsländern verbündet – auch, um unabhängiger von autoritären
Regimen zu werden.