# taz.de -- Süchtig nach Ketamin: Ein ziemlich neues Leben
       
       > Das Narkotikum Ketamin wird als Droge auf den Clubtoiletten gehandelt.
       > Unser Autor war erst fasziniert, dann abhängig. Die Geschichte einer
       > Rettung.
       
       Es ist frühmorgens, Heiligabend 2022. In zwei Stunden fährt der Zug zu
       meiner Familie, die Tasche ist fertig gepackt, meine Tüte mit Geschenken
       vorbereitet, es kann losgehen. Ich habe mir vorgenommen, meine Drogen zu
       Hause zu lassen. Dann plötzlich: Herzklopfen, Panik. Schaffe ich das,
       unbewaffnet in die Heimat, zu all den alten Gefühlen, Konflikten, dem
       Unausgesprochenen? Ich fange an zu schwitzen, Gedanken rasen in meinem
       Kopf. Zeit für eine dicke Line Ketamin. Ich entspanne, setze mich auf die
       Couch. Und verpasse meinen Zug.
       
       Erst als mein Vater mich eigentlich schon am Heimatbahnhof abholen sollte,
       traue ich mich zu schreiben, dass ich es nicht geschafft habe. Per Whatsapp
       sage ich ab, schiebe es auf meine fehlende Energie wegen arbeitsintensiver
       Tage, wegen psychischer Erschöpfung – nur von meinem Drogenproblem, dem
       eigentlichen Grund, schreibe ich nichts.
       
       Dabei bin ich zu diesem Zeitpunkt längst schwer abhängig von Ketamin, einem
       Narkosemittel, das weltliche Gefühle betäubt, die Seele auf einen Trip
       durchs Universum mitnimmt und schließlich zum Ich-Verlust führt. Körper und
       Geist entfernen sich je nach Dosis immer weiter voneinander. Im extremen
       Fall fühlt es sich an, als habe sich der eigene Körper aufgelöst und der
       Geist rase durch das Weltall, heimgesucht von einem Meteoritenschauer aus
       Erkenntnissen über existenzielle Zusammenhänge.
       
       Vertieft im Keta-Rausch hat eine Freundin von mir zwei Stunden auf meinem
       Badezimmerboden gesessen und mit ihrer toten Mutter gesprochen. Danach
       konnte sie mit diesem traumatischen Verlust abschließen. Eine andere
       Freundin kam im K-Hole zu der Erkenntnis, dass der frühe Tod ihrer
       Schwester die Wurzel ihrer Depression ist. Und auch ich hatte während eines
       Trips das Gefühl, „telepathisch“ mit meinen biologischen Eltern, die ich
       nie kennengelernt habe, zu kommunizieren.
       
       Doch mit der Zeit hat sich die Droge für mich zu einem Dämon entwickelt.
       Und deshalb sitze ich an diesem Heiligabend einfach weiter auf meiner Couch
       in Berlin und trippe vor mich hin, statt bei meiner Adoptivfamilie zu sein.
       Es sind Momente wie diese, in denen ich aus meinen Rauschträumen aufwache
       und erkenne: Nichts ist okay.
       
       Deshalb schreibe ich diesen Text auch unter Pseudonym. Ketamin hätte fast
       mein Leben ruiniert und ich möchte nicht, dass mein neuer Arbeitgeber weiß,
       dass ich bis vor Kurzem süchtig danach gewesen bin.
       
       ## Kristalline Parallelwelten
       
       „Pferdebetäubungsmittel“ – unter diesem Spitznamen ist Ketamin zum
       Superstar auf den Clubtoiletten geworden. Denn Keta wird für die
       Schmerzbetäubung von Tieren verwendet, aber auch in der Notfallmedizin.
       1962 wurde es zum ersten Mal synthetisiert mit dem Ziel, ein Narkotikum zu
       finden, das keinen Effekt auf die Atmung und die Herzfrequenz hat. Bereits
       im Vietnamkrieg wurde es zur Behandlung verletzter US-Soldaten eingesetzt.
       Die Weltgesundheitsorganisation führt es in ihrer „Liste der
       unverzichtbaren Medikamente“ auf. Keta ist strukturell verwandt mit seinem
       LSD-ähnlichen Vorgänger PCP Phencyclidin, kurz PCP, der auch Angel Dust
       genannt wird.
       
       Ketamin fällt nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Wer illegal damit
       handelt, verstößt gegen das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NPSG). Ketamin
       ist mit 20 bis 30 Euro pro Gramm sehr teuer. Vor allem in den Metropolen
       wird es wegen seiner unmittelbaren und verlässlichen Rauschwirkung hoch
       gehandelt. Wenn nach zwanzig Stunden Durchfeiern nichts mehr wirkt, auf
       Ketamin ist immer Verlass. Anfänger:innen putschen sich mit der meist
       als Pulver eingenommenen Substanz für den nächsten Tanz auf, bei dem sie
       ganz in sich versinken und es nur noch sie und die Musik gibt.
       
       Fortgeschrittene vertiefen sich in bedeutungsschwere Deeptalks mit anderen
       Keta-Konsument:innen, Profis ziehen sich komplett in sich selbst zurück,
       hören auf, mit der Außenwelt zu kommunizieren, und wirken wie Charaktere in
       einem Computerspiel, bei dem die Gamer:in den Controller weggelegt hat.
       
       Dabei hat der Stoff – maßvoll konsumiert – durchaus seine positiven Seiten,
       auch das gehört zum Gesamtbild. Ärzt:innen erproben Keta seit Längerem
       auch [1][zur Behandlung] von Depressionen und suizidalen Gedanken. In
       klinischen Studien zeigt sich ein belegbarer [2][positiver Effekt schon
       nach Stunden]. Forscher:innen arbeiten noch daran, zu entschlüsseln, wie
       sich die antidepressive Wirkung im Gehirn ganz genau erklären lässt.
       
       Auch bei mir ist Ketamin zunächst ein Gamechanger. Plötzlich sind meine
       Depressionen verschwunden, wenn ich high bin, fange ich an, verschiedene
       Dinge über mich und die Welt zu begreifen. Anfangs macht mich das durchaus
       zu einer spannenden und angenehmen Gesellschaft.
       
       Dem Körper schadet ein exzessiver Konsum allerdings schnell. Zwar macht
       Ketamin nicht physisch abhängig wie etwa Nikotin, aber eine Gewöhnung tritt
       ein, durch die man die Dosis erhöhen muss. Eine psychische Abhängigkeit
       kann entstehen. Der Stoff greift die Nieren an, führt zu irreparablen
       Schäden der Harnwege und Inkontinenz. Auf emotionaler Ebene kann es
       gleichgültig machen gegenüber weltlichen Banalitäten und der eigenen
       körperlichen Unversehrtheit.
       
       Und auch wenn Ketamin unter bestimmten Voraussetzungen bei Depressionen
       hilft, kann ein Langzeitkonsum wiederum später zu Depressionen führen. Das
       Hirn verlernt sozusagen, Stresssituationen nüchtern auszuhalten. Wird
       Ketamin nicht richtig zerkleinert, zieht man sich scharfkantige Kristalle
       durch die Nase, welche das sensible Innenleben schädigen – Nasenbluten ist
       da noch die harmloseste Folge. Auf Dauer wird die Nasenscheidewand immer
       weiter abgetragen. In extremen Fällen kann das kristalline Pulver ein Loch
       in diese reißen.
       
       Einer [3][Studie aus Taiwan zufolge könnte früher Ketaminkonsum sogar die
       Gehirnentwicklung beeinflussen]. Laut den Forscher:innen bilden sich
       durch den Konsum Hirnzellen zurück, und das bei jungen Konsument:innen
       stärker als bei älteren. Betroffen sind Bereiche des Hirns, welche für
       komplexe Leistungen wie etwa die Verarbeitung von räumlich-visuellen
       Informationen und das Abrufen episodischer Erinnerungen zuständig sind.
       
       ## Auf der Suche nach Identität
       
       Wenn ich darüber nachdenke, bin ich eigentlich schon mein ganzes Leben
       suchtaffin. Meine biologische Mutter ist während der Schwangerschaft
       abhängig von Medikamenten, und schon früh wird mir deshalb ein angeborener
       Hang zu Suchtverhalten prophezeit. Als Adoptivkind lerne ich meine „echten“
       Eltern nie kennen, was mir bis heute zu schaffen macht. Hinzu kommt, dass
       ich in eine deutsche Familie hineinadoptiert werde. Da mein biologischer
       Vater afrikanische, meine biologische Mutter osteuropäische Wurzeln hat,
       sehe ich nicht besonders deutsch aus. Ich bin fast das einzige
       dunkelhäutige Kind in meiner 150.000-Seelen-Heimatstadt, und da ich die
       Frage „Wo kommst du her?“ nie genau beantworten kann, entwickle ich eine
       Identitätskrise. Ich fühle mich weder dazugehörig noch ganz ausgegrenzt. Am
       Ende werde ich nie richtig Teil einer Gruppe, einer Clique.
       
       Dazu die üblichen Nachwirkungen von Adoptionen wie fehlendes Urvertrauen
       und massive Bindungsprobleme. Meine Liebesbeziehungen halten bis heute im
       Schnitt etwa ein halbes Jahr, auch wenn ich mich nach einer tieferen
       Verbindung zu einem anderen Menschen sehne.
       
       In meinem Heimatort fühle ich mich stets ein bisschen wie ein Alien unter
       lauter Eingeborenen. Mit 14 Jahren fange ich an, mich dem Alkohol
       hinzugeben. Meine überdurchschnittliche Toleranz sorgt dafür, dass ich
       immer etwas mehr als andere trinke und immer ein wenig länger auf Partys
       bleibe. Und am nächsten Tag gleich wieder Lust auf mehr habe. Ein paar
       Jahre später kommt das Kiffen hinzu, und beides in Kombination schießt mich
       regelmäßig derart ins Nirwana, dass oft unangenehme Abstürze mein
       Partyleben begleiten.
       
       Erst mein Umzug nach Berlin mit Mitte zwanzig gibt mir das Gefühl,
       vielleicht doch nicht so ganz allein auf dieser Welt zu sein. Berlin gilt
       als Hauptstadt der „Misfits“, also jener, die nirgendwo reinpassen. Da
       fühle ich mich zum ersten Mal richtig angekommen, vielleicht sogar
       verstanden.
       
       Aber so einfach ist es nicht. Berliner Beziehungen funktionieren oft über
       kollektives Trauma-Bonding. Erlebter Schmerz ist der erste vereinende
       Faktor vieler Communities. Zur Selbstvergewisserung ist dies Seelenbalsam,
       zum Aufbau stabiler sozialer Kontakte reicht es oft aber nicht.
       
       Und so sind auch meine ersten Jahre in der Millionenmetropole eher geprägt
       von Freundschaften, die sich vor allem aus gemeinsamen Einzelinteressen
       speisen, nicht aus echter Verbundenheit: sei es durch das gemeinsame
       politische Interesse, den gleichen Musikgeschmack oder irgendetwas anderes.
       Die ideelle Gesamtfreundin finde ich nicht so recht, romantisch oder
       platonisch. Ich fühle mich – wieder – vereinzelt.
       
       Bis meine damalige Partnerin mich eines Tages mit auf eine Technoparty
       nimmt und mir meine erste Line Speed unter die Nase hält. Es ist zwar nicht
       mein erstes Cluberlebnis, aber meine erste Technoparty auf Chemie. Und wow,
       was soll ich sagen: Ich fühle mich wie neugeboren. Dass dies rückblickend
       den Anfang meines schleichenden Absturzes markiert, kann ich damals nicht
       wissen.
       
       Es ist mein Einstieg [4][in die Welt der Chemikalien]. Und mein Ausstieg
       aus der Welt alltäglicher Banalitäten. Nun kann ich die Nächte durchfeiern
       und trotzdem morgens relativ frisch auf der Arbeit erscheinen. Die
       Wochenenden werden zu endlosen Exzessen, freier und oft belangloser Sex
       mischt sich mit einer nicht enden wollenden Schar neuer Bekanntschaften,
       manchmal Freundschaften. Clubbing wird mir zur zweiten Natur und das Loch
       in meiner Seele, welches nach Erfüllung giert, verstummt für immer längere
       Zeiten.
       
       Irgendwann aber flaut die Kurve ab. Ecstasy und MDMA fordern Tage nach dem
       Konsum ihren Tribut: Sie verschießen körpereigene Glückshormone, bis die
       Reserven leer sind, die Folge sind depressive Katertage, die so grau wie
       die Partys bunt sind. Ich will das nicht mehr. Und dann kommt Ketamin.
       
       In den USA wird Ketamin bereits in den siebziger Jahren populär. Zunächst
       als Straßendroge, irgendwann taucht es auf den Dancefloors der Technoclubs
       auf. In meiner Generation taucht es Mitte der Zehnerjahre auf und gilt als
       die sagenumwobene nächste Stufe nach den standardmäßigen Partydrogen wie
       Speed, Koks und Pillen.
       
       Ketamin ist übrigens auch unter Humanmediziner:innen sehr beliebt,
       sie und ihre Veterinärskolleg:innen schmuggeln es flaschenweise aus
       Krankenhäusern und Praxen raus, nutzen es zum Eigenkonsum und verkaufen es
       weiter. Auch über illegale Wege aus der Pharmaindustrie und das Internet
       gelangt der Stoff auf den Markt. Im ZDF-Magazin „Frontal 21“ berichtete ein
       Dealer, Ketamin online lange aus China bestellt zu haben.
       
       ## Mit dem Asphalt verschmolzen
       
       Meine erste Begegnung mit Ketamin ist etwa 7 Jahre her und ziemlich
       skurril: Mit meinen besten Freund:innen treffen wir uns damals eines
       sonnigen Samstagnachmittags bei einer Bekannten. Unser Plan ist, erst ein
       wenig vorzuglühen und dann gemeinsam auf eine Technoparty zu fahren. Ich
       habe bis dahin noch nie Keta genommen. Aber weil es so etwas wie die
       nächste Stufe nach Speed und Ecstasy darstellt, finde ich das spannend und
       will es unbedingt ausprobieren. Aber dann bekomme ich im vorletzten Moment
       doch noch kalte Füße und verweigere die angebotene Line.
       
       Erst als das Taxi schon auf dem Weg zu uns ist, greife ich zu – es ist eine
       Portion, die selbst gestandene User:innen in die Schranken gewiesen
       hätte. Ich schnappe mir einen Strohhalm, vernichte die Line in einem
       lässigen Schwung und tue so, als sei dies für mich reine Routine. Als
       Erstes fällt mir der Geschmack auf. Nicht toxisch-chemisch wie Speed, nicht
       den Kotzreiz triggernd wie Ecstasy und MDMA. Sondern irgendwie gut, fast
       erfrischend.
       
       Danach muss alles ganz schnell gehen: Schuhe anziehen, Jacken überwerfen
       und die Treppe hinunterspurten, schließlich ist das Taxi schon fast
       angekommen. In der Eile habe ich gar keine Zeit, mich mit der unmittelbaren
       Wirkung des Narkotikums zu befassen. Erst als ich aus dem Treppenhaus auf
       die Straße trete, beginnt sich irgendetwas zu verändern.
       
       Ich schaue umher und entdecke plötzlich eine Art Kolosseum, es könnte auch
       die Fankurve eines Fußballstadions sein. Auf jeden Fall blicke ich auf
       Hunderte Köpfe und Körper, die sich in einer Masse hin und her bewegen, eng
       zusammengequetscht auf einer Art Stadionrang. Ich kann Gesichtszüge
       erkennen, alle blicken in eine Richtung, wiegen ihre Köpfe hin und her und
       scheinen in Aufruhr zu sein.
       
       Ich bin überwältigt von dem überraschenden Anblick. Bis ich durch das
       ankommende Taxi aus meinem Ketatraum gerissen werde und erkenne, dass ich
       eine gewaltige Baumkrone angestarrt habe und dass es Blätter und nicht
       Menschen sind, die da im Wind wanken. Mit letzten Geisteskräften schiebe
       ich mich in das Großraumtaxi und versinke endgültig im K-Hole: also in dem
       Zustand maximalen Rausches, in dem sich Körper und Geist maximal
       voneinander entfernen.
       
       Ich weiß, dass ich nun ein Riesenproblem habe. Als der Wagen hundert Meter
       von der Clubschlange entfernt anhält, hieven mich meine Freund:innen
       schmunzelnd von meinem Sitz. Ich kann noch „Ich komme gleich nach“ sagen
       und stehe starr mitten auf dem Bürgersteig. Meine Gliedmaßen verweigern
       jede Zusammenarbeit, es scheint, als seien meine Füße mit dem Asphaltboden
       verschmolzen – mein erster Keta-Trip, mein erstes K-Hole, da ist es also.
       
       So unangenehm diese Erfahrung im Nachhinein ist: Ich bin begeistert. Hat
       man so etwas schon erlebt? Geist, Seele, Wirklichkeit, Universum, Ich,
       Über-Ich – all dies verschmilzt zu einem somnambulen Ringelreihen
       atemberaubender Schönheit. Erkenntnisse regnen vom Himmel, die Kreativität
       sprudelt, das Leben ist schön. Und das Beste: kein Depri-Kater. Von da an
       wird Ketamin zu meinem regelmäßigen Begleiter in endlosen Clubnächten. Wenn
       ich schon meine Identitätskrise nicht auflösen kann, so habe ich doch
       wenigstens einen Anker gefunden, der mich durchs Leben manövriert.
       
       ## Trippen auf der Couch
       
       Heute muss ich erkennen, dass mich exakt dieser Anker ganz langsam in die
       Tiefe gezogen hat. Es mag übertrieben dramatisch klingen, aber: Ich fühle
       mich von Keta betrogen. Wie in einer toxischen Beziehung, bei der man
       irgendwann erkennt, dass der Partner die eigene Liebe nie wirklich erwidert
       hat.
       
       Aus den überschwänglichen Joyrides durch Kreuzberger Nächte werden mit der
       Zeit narkotische Sessions des Vor-sich-hin-Dämmerns. Aus kreativen
       Meteoritenhageln, die den Geist beflügeln und Kunst wie von selbst
       erschaffen, wird mittelmäßige Selbstergriffenheit. Aus dem geselligen Gast
       wird ein in sich gekehrter Sonderling, dessen geistiges Innenleben nur noch
       für ebenbürtige Konsument:innen decodierbar ist. Aus dem zuverlässigen
       und kümmernden Freund, der ich war, wird ein dauerbetäubter Egomane, der im
       Rausch zu toxischen Rundumschlägen neigt und seine engsten Freund:innen
       irritiert bis vergrault.
       
       Meine beste Freundin, mit der ich jahrelang mehrmals die Woche Zeit
       verbracht habe, manchmal jeden einzelnen Tag, redet heute nicht mehr mit
       mir. Im Rausch bin ich besessen davon gewesen, ihre Probleme zu lösen, von
       denen sie mir erzählt: Ich erschaffe wilde Theorien über ihr schwieriges
       Verhältnis zu ihrer Familie und ihre Probleme beim Dating. Ich tue dies in
       bester Absicht, nur ist das für sie sensibelstes Terrain und meine
       Keta-induzierten Interventionen ein Affront. Das verstehe ich erst viel
       später und ich hoffe, sie kann mir eines Tages vergeben.
       
       Aus zwei Gramm an Wochenenden wird ein Gramm pro Tag, auch alleine, ohne
       jedes Ziel oder jeden Plan. Statt auf dem Dancefloor trippe ich nun auf
       meiner Couch, melde mich kaum noch bei irgendwem und verbringe die
       nüchterne Zeit hauptsächlich im Bett in stundenlangen Fieberträumen. Sicher
       geglaubte Jobs schicken Absagen, Rechnungen türmen sich auf, die Schulden
       bei Dealern und Freund:innen wachsen an. Liebesbeziehungen zerbrechen,
       die Depressionen kommen wieder. Als ich es nicht einmal mehr an Weihnachten
       zu meiner Familie schaffe, stelle ich mir endgültig die überfällige Frage:
       Fuck. Wie bin ich da nur reingeraten?
       
       Meine Keta-Schulden erdrücken mich nun, sie sind im mittleren fünfstelligen
       Bereich. Und je erdrückter ich mich fühle, desto mehr Keta ziehe ich. Ein
       Teufelskreis, der mir bewusst ist.
       
       Irgendwann kann ich auf das dauernde „Ich mache mir Sorgen“ meiner
       Freund:innen nur noch antworten: „Ich mir auch“. Als ich eine fristlose
       Kündigung vom Vermieter in letzter Sekunde abwenden kann und mein Bruder zu
       einem unangekündigten Interventions-Besuch nach Berlin kommt, weiß ich, so
       geht es nicht weiter. So kann, so darf es nicht weitergehen. Allein, mir
       fehlt die Kraft, um daraus auszubrechen. Bis sich meine langjährige
       Freundin Viola meldet und mir, Stand jetzt, das Leben rettet.
       
       Sie ist Erzieherin in einer Kita und ist damals in etwa auf dem gleichen
       Junkie-Level wie ich. Sie erzählt mir von ihrem Plan, einen stationären
       Entzug zu machen: Für zwei Wochen würde sie in die Psychiatrie gehen, um
       von ihrer Sucht loszukommen.
       
       Auch Viola sieht zu diesem Zeitpunkt anders aus als zu der Zeit, in der ich
       sie kennengelernt habe. Wie ich hat sie sichtbar an Gewicht verloren, die
       Wangen sind leicht eingefallen, und sie hat ein neues Tattoo. Ab und zu
       treffe ich sie zufällig, wenn ich mir abends mein Gramm Ketamin bei meinem
       Stammdealer abhole, natürlich in gleicher Mission.
       
       Ihre Entzugspläne nehme ich interessiert, aber doch widerstrebend zur
       Kenntnis. Wenn sie das macht, was bedeutet das für mich? Wird es dann nicht
       auch für mich langsam Zeit, etwas zu verändern?
       
       Wenn man süchtig ist und noch ein bisschen Restverstand besitzt, spielt man
       zwangsläufig diverse Exit-Szenarien durch. Wie man ab sofort Sport machen,
       wieder mehr rausgehen oder andere Dinge machen will, die nichts mit
       konsumieren zu tun haben. Vom Gedankenkonstrukt zur Verwirklichung ist es
       allerdings ein großer Schritt, und ich bin Viola unendlich dankbar, dass
       sie mir diesen vorweggenommen hat und ich sozusagen in ihre Fußstapfen
       treten konnte.
       
       Denn als sie nach einigen Wochen aus dem Entzug herauskommt, ruft sie mich
       an und erzählt mir begeistert von der positiven Erfahrung. Wie nett und
       verständnisvoll das Personal gewesen sei, wie aufbauend das tägliche
       Programm und wie viel besser sie sich nun fühle. Ich rufe sofort die Seite
       des Krankenhauses auf und melde mich. Weil Feiertage bevorstehen, dauert es
       nicht lange, bis ich eine Zusage für einen der sonst begehrten Plätze
       bekomme.
       
       ## Angst vor den eigenen Abgründen
       
       Einen Monat später stehe ich mit gepackten Taschen an der Rezeption, um
       mich aufnehmen zu lassen. Ich bin aufgeregt, die Nacht davor konnte ich
       kaum schlafen, habe eine Panikattacke bekommen und angefangen zu heulen.
       Weil ich Angst vor der fremden Umgebung habe, Angst vor den eigenen
       Abgründen, Angst davor, das alles nicht zu schaffen. Es ist ein Gefühl, das
       ich lange erfolgreich verdrängt habe. Teils mit Selbstbetrug, teils mit
       Intoxikation. Aber nun gibt es kein Zurück mehr. Ich werde auf die
       psychiatrische Station gebracht und weil ich noch auf mein Zimmer warten
       muss, soll ich schon mal im Gruppenraum Platz nehmen. Dort treffe ich auf
       die anderen Bewohner:innen, mit vielen von ihnen werde ich die nächsten
       zwei Wochen verbringen.
       
       Das ist es also: Psychiatrie. Auf den ersten Blick wirken hier alle normal,
       wenn es so was gibt. Ich werde freundlich, fast herzlich empfangen und
       offenherzig nach „meiner“ Substanz gefragt. Es ist eine gemischte Station,
       mit Depressions-Patienten und Süchtigen. Ich bin überraschenderweise der
       einzige Ketamin-Abhängige, die anderen sind meist auf Schmerzmitteln wie
       Tilidin oder Tramadol, auf Alkohol, Kokain oder Schlaftabletten. Einer von
       uns, vielleicht knapp 30 Jahre alt, ist seit 18 Jahren auf Heroin [5][und
       anderem Straßenzeug wie Crack].
       
       Für mich läuft der kalte Entzug erstaunlich gut. In meiner Wachzeit
       verschwende ich kaum einen Gedanken an die Droge, außer wenn ich in
       Gruppentherapien darüber spreche. Ich stehe um 7 Uhr morgens auf, esse
       viel, denke nach, rede mit Ärztinnen und Therapeuten und gehe um 22 Uhr ins
       Bett. Ein Lifestyle, den ich mir noch Tage zuvor nie hätte träumen lassen.
       
       Apropos träumen: Genau dahin haben sich meine Entzugserscheinungen
       interessanterweise verdünnisiert. Spüre ich am Tag kaum eine Regung, die
       mich an Ketamin erinnert, so dominieren sie nachts meine Träume, in einer
       Intensität, die aus Träumen filmrealistische Langsequenzen macht. Ich
       träume davon, Keta zu kaufen, es aufzubereiten, es zu konsumieren. Mit der
       Zeit allerdings wird der Inhalt weniger explizit: Dann taucht Keta zwar
       noch auf, ich nehme es aber nicht mehr. Irgendwann spüre ich nur noch das
       „craving“, also das starke Verlangen danach. Bis irgendwann auch diese
       milde Variante aufhört und ich nachts meine Ruhe habe.
       
       Tagsüber sitzen wir in Gruppen zusammen und erzählen uns unsere
       Suchtgeschichte. Mal im Beisein einer Therapeutin, mal nur unter uns.
       Jede:r von uns muss während der Zeit einen entsprechenden Aufsatz
       schreiben, und über den eigenen Konsum und die Gründe dafür reflektieren.
       „Schonungslos“ sei meiner, wird mir nach meinem Vortrag anerkennend gesagt,
       ich bekomme viel Anerkennung für meine Offenheit und merke, dass das auch
       auf einer Suchtstation keine Selbstverständlichkeit ist.
       
       Bei den privaten Eins-zu-eins-Sitzungen mit Ärztinnen wird mir die
       Absurdität meines Konsums immer wieder vor Augen geführt. Es ist eine
       Sache, sich mit anderen Junkies auszutauschen. Etwas anderes ist es,
       „Außenstehenden“ die Liste an Drogen und die Frequenz, in der man sie
       nimmt, aufzulisten.
       
       Ich sehe, wie die Augen meiner Ärztin immer größer werden, je mehr ich
       aufzähle, was ich schon alles genommen habe: Speed, Koks, Mephedron,
       Cannabis, MDMA, Ecstasy, 2CB, Pilze, natürlich Keta und noch einiges
       anderes. Und während ich das tue, dämmert mir, dass ich in einer eigenen
       Realität lebe, die kein Dauerzustand sein kann. Ich fühle mich gut,
       befreit, weil mir dieser Gedanke in dieser Klarheit bisher selten gekommen
       ist und weil ich nun Menschen um mich herum habe, mit denen ich das
       besprechen kann, ohne verurteilt zu werden.
       
       Auch der Austausch mit den anderen Patienten bringt mir viel. Vor allem
       Ältere haben oft sehr extreme Erlebnisse hinter sich und viel verloren. Ein
       Mann zum Beispiel hat durch Koks- und Alkoholkonsum seine Ehe zerstört, den
       Kontakt zu seiner Tochter verloren, seine Karriere verspielt, und ist nun
       bankrott und einsam. Das will ich nicht für mich, sage ich mir, und spüre
       eine neue Motivation, endlich etwas zu ändern. Ich will leben und am Leben
       teilnehmen. Das habe ich hier verstanden.
       
       ## Ich fühle mich frisch, clean, gewappnet
       
       Nach zwei Wochen Klinik will ich fast nicht mehr nach Hause – so sehr sind
       mir meine Mitbewohner:innen, die Belegschaft und überhaupt das Krankenhaus
       ans Herz gewachsen. Immerhin, ich fühle mich frisch, clean und gewappnet
       für die Zeit danach, in der es gilt, den ersten Achtungserfolg einzutüten.
       Vorsorglich habe ich schon vor meiner Krankenhauszeit alles, was an Konsum
       erinnert, aus meiner Wohnung verbannt: Ziehröhrchen, leere Tütchen,
       Plättchen zum Zerkleinern. Als ich zurück nach Hause komme, empfängt mich
       eine saubere Wohnung, die sich irgendwie nach einem neuen Leben anfühlt.
       
       Ein paar Wochen später meldet sich Viola, die mir ursprünglich von der
       Krankenhaustherapie erzählt hat. Sie ist rückfällig geworden. Die zwei
       Wochen haben für sie nicht gereicht. Auch von gemeinsamen Freunden bekomme
       ich besorgte Nachrichten über sie und komme ins Grübeln. Viola hat sich
       mittlerweile für einen zweiten Aufenthalt entschieden, wozu ich sie
       beglückwünscht habe. Und auch ich bin jederzeit bereit, meine Therapie zu
       wiederholen.
       
       Während ich dies hier schreibe, bin ich seit etwas mehr als vier Monaten
       „clean“ von Ketamin. Okay, nicht ganz: Einen Rückfall hatte ich. Aber ich
       bin geneigt, diesen als Ausrutscher zu deklarieren. Seit meinem Entzug war
       ich mehrfach wieder in Technoclubs, auch, um mir zu beweisen, dass ich mich
       nicht künstlich isolieren muss, um ein Leben ohne K zu führen. Das hat
       viele Male auch sehr gut funktioniert, bis ich eines frühen Morgens in
       einer Clubtoilette doch schwach geworden bin und die angebotene Line
       Ketamin gezogen habe. Eine Ausnahme, dachte ich mir, und etwas tiefer in
       mir drin dachte ich: „Was für eine lahme Ausrede.“
       
       Es hat sich nicht mal gelohnt, die Wirkung war milde und hat meine Stimmung
       nicht gehoben, stattdessen machte ich mir am nächsten Tag Vorwürfe.
       Rückfälle gehören dazu, auch das habe ich während meiner Therapie gelernt.
       Und ich hoffe, es bleibt mein einziger.
       
       Abgesehen davon bin ich stolz auf mich. Stolz, weil ich selbstständig in
       den Entzug gegangen bin. Stolz, weil ich plötzlich wieder Dinge des
       alltäglichen Lebens hinbekomme: Ich sage keine Verabredungen mehr grundlos
       ab, ich schaue regelmäßig in meinen Briefkasten und öffne die Post, ich
       habe endlich wieder einen Job und aufgehört, ständig Notlügen zu erfinden,
       um meine Situation vor anderen zu verschleiern. Meine depressiven Episoden
       sind immer weniger geworden, ich flüchte mich bei Konflikt- und
       Stresssituationen nicht mehr in tagelangen Schlaf. Ich habe acht Kilo
       zugenommen, wirke nicht mehr abgemagert und dehydriert.
       
       Freund:innen gratulieren mir zu dem Schritt, auch sie sind stolz auf
       mich. Und weil meine Familie nun auch im Bilde ist, zeigt sie viel mehr
       Verständnis für mich als vorher.
       
       Aber natürlich habe ich auch viele mir nahestehende Menschen verletzt. „Ich
       hoffe, du schaffst es irgendwann einmal, Verantwortung für dich selbst zu
       übernehmen“ – das war das Letzte, was meine damals beste Freundin zu mir
       gesagt hat, bevor ich nie wieder von ihr gehört habe. Gestern war ihr
       Geburtstag, der erste seit Langem, den wir getrennt voneinander verbringen.
       Es bricht mir das Herz. Ich hoffe, sie irgendwann wiederzusehen. Nüchtern,
       emotional stabil. Nicht toxisch. Nicht high.
       
       31 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Behandlung-von-Depressionen/!5995963
 (DIR) [2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3012738/
 (DIR) [3] https://www.nature.com/articles/s41598-020-72320-z
 (DIR) [4] /Drugchecking-Pilot-Projekt/!5979398
 (DIR) [5] /Crack-Konsumentin-und-ihre-Sucht/!5981686
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joel Berman
       
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