# taz.de -- Solidaritätsproteste für die Türkei: Im Widerstand verbunden
       
       > In der deutsch-türkischen Community wollen jetzt viele um die
       > demokratische Zukunft des Landes kämpfen. Andere verteidigen Machthaber
       > Erdoğan.
       
 (IMG) Bild: Die Hemdsärmel hochkrempeln, wie der inhaftierte Istanbuler Bürgermeister: Demonstrierende am Berliner Breitscheidplatz Ende März
       
       Tayyip istifa!“–„Tayyip, tritt zurück!“, hallt es laut durch die Straßen
       von Charlottenburg. Ein kalter Märztag in Berlin, grau und windig. Für
       einen Moment fühlt es sich an, als stünde man mitten in der Türkei, auf den
       Straßen von Istanbul, wo die [1][Menschen gegen Unterdrückung kämpfen]:
       gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Verfolgung von
       Oppositionellen und die autoritäre Herrschaft des türkischen Präsidenten
       Recep Tayyip Erdoğan. Doch der Blick auf die nahe Gedächtniskirche am
       Breitscheidplatz lässt schnell erkennen, dass hier, in dieser Ecke der
       Welt, die Realität eine andere ist. Hier gibt es keinen Tränengasnebel in
       der Luft. Doch der Widerstand, die Wut, die Hoffnung der deutsch-türkischen
       Menschen, die hier demonstrieren – es sind dieselben Gefühle wie bei den
       Protesten in der Türkei.
       
       Am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche versammelten sich am
       Wochenende laut Polizeiangaben etwa 500 Demonstranten. Sie fordern den
       Rücktritt des türkischen Präsidenten. Plakate werden in die Luft gehalten,
       auf einem steht: „Ich lerne Deutsch wegen Erdoğan.“ Es ist ein Verweis auf
       die politischen und gesellschaftlichen Umstände unter der Regierung
       Erdoğan, die viele Türken und türkeistämmige Menschen dazu zwingen, nach
       Deutschland zu fliehen und sich hier ein neues Leben aufzubauen. Die Gründe
       dafür sind vielfältig: politische Verfolgung, die Einschränkung der
       Meinungsfreiheit und eine zunehmende wirtschaftliche Krise, die viele
       Menschen in der Türkei dazu drängt, bessere Perspektiven im Ausland zu
       suchen.
       
       Die deutsche Hauptstadt ist die Stadt mit der größten türkischen Community
       außerhalb der Türkei. Rund 200.000 Menschen türkischer Herkunft leben hier
       – mehr als in jeder anderen Stadt in Deutschland. Besonders in den
       Stadtteilen Neukölln, Kreuzberg und Wedding ist die türkische Kultur
       allgegenwärtig, mit türkischen Restaurants, Moscheen, Vereinen und
       Geschäften, die das Stadtbild prägen.
       
       Auch hier will man Erdoğans Rücktritt: „Ich bin hier für die Rechte meiner
       Landsleute“, sagt Hilal Cengiz, die ein Plakat in die Luft hält, auf dem in
       Anspielung auf die Istanbuler Bürgermeisterwahl steht: „Wir haben uns zum
       ersten Mal darüber gefreut, ohne Betrug gewählt zu haben, und jetzt haben
       sie den Kandidaten gestohlen.“ Cengiz lebt seit sechs Jahren in Berlin und
       kommt eigentlich aus Adıyaman, einer Stadt, die sich in der Südosttürkei
       befindet. Zwar gebe es in Deutschland auch Probleme, aber in der Türkei sei
       die Demokratie gefährdet, und das dürfe man nicht zulassen sagt sie.
       
       Der Protest an diesem Sonntag in Berlin ist bereits die zweite
       Demonstration nach der Festnahme von Ekrem İmamoğlu. Der beliebte
       Bürgermeister von Istanbul und stärkste politische Gegner von Präsident
       Erdoğan wurde am 19. März in seiner Wohnung verhaftet. Am 23. März ordnete
       ein Gericht Untersuchungshaft an. İmamoğlu wird „Beleidigung von
       staatlichen Institutionen“ zu Last gelegt. Er soll während einer
       öffentlichen Rede 2019 Wahlbehörden in der Türkei beleidigt haben.
       Zusätzlich wird ihm Korruption und die Unterstützung der verbotenen
       Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen.
       
       Die Anschuldigungen kommen im Kontext eines größeren politischen Konflikts,
       der von vielen als Versuch Erdoğans gesehen wird, einen gefährlichen
       Rivalen vor den kommenden Wahlen auszuschalten. Unterstützung erhielt der
       CHP Bund Berlin auch von der Türkischen Arbeiterpartei (TİP), die sich klar
       gegen die Repression der AKP-Regierung positioniert.
       
       Bereits am 23. März hatte der CHP Bund Berlin eine erste Demonstration
       organisiert, an der noch weitaus mehr Menschen teilnahmen als an diesem
       Sonntag. In der Türkei selbst führte die Inhaftierung İmamoğlus zu
       landesweiten Demonstrationen, bei denen es zu zahlreichen Festnahmen kam.
       Die Regierung reagierte mit harten Maßnahmen. Auch die Pressefreiheit wurde
       eingeschränkt. Journalist*innen, die über die Proteste berichteten, wurden
       inhaftiert. Diese Ereignisse lösten auch international Empörung aus und
       weckten weltweit Solidarität mit der türkischen Opposition. Auch in anderen
       europäischen Städten wie Paris und London fanden ähnliche Kundgebungen
       statt.
       
       „Natürlich sind wir jetzt von unserer letzten Demo verwöhnt. Heute sind
       weniger Leute hier, aber das liegt daran, dass heute eben auch Zuckerfest
       ist“, sagt Ziya Akçetin, der Vorstand des CHP Bund Berlin auf der Demo vor
       der Gedächtniskirche. Der CHP Bund in Berlin e.V. ist ein mit der
       Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) in der Türkei lose verbundener Verein und
       vertritt deren Werte in Deutschland. Der Verein wurde im November neu
       aufgestellt und agiert unabhängig nach deutschem Vereinsrecht, bleibt aber
       ideologisch der CHP verbunden. Ziel sei das Engagement für Demokratie,
       Frauenrechte und eine offene Gesellschaft, sagt Vorstand Akçetin.
       
       Akçetin ist Chefarzt in einer Klinik in Brandenburg, Mitglied in der SPD
       und kommt ursprünglich aus Istanbul. 1982 kam er mit einem Stipendium nach
       Erlangen. „Ich habe inzwischen eine über 40-jährige Beziehung zu
       Deutschland“, scherzt er. Doch umso wichtiger findet er, dass sich
       Deutschland und auch Europa zu den Protesten äußern. Am Sonntag auf der
       Demo sagt er in seiner Rede, als Bund würden sie nun gefragt, was sie denn
       von Deutschland wollten. Ein Moment der Stille, dann antwortet er bestimmt:
       „Wir wollen, dass die deutsche Öffentlichkeit versteht, was in der Türkei
       passiert und wie wichtig es ist, dass Europa klare Zeichen der Solidarität
       setzt.“
       
       Die Ärmel seines weißen Hemds sind hochgekrempelt – ein markantes Detail,
       das er von İmamoğlu übernommen hat und das nun symbolisch für den
       Widerstand und die Entschlossenheit steht, die in der Atmosphäre spürbar
       sind. Auch weitere Menschen mit İmamoğlu-Masken und weißen Hemden sind in
       der Menge zu sehen. Akçetin redet weiter und fordert die SPD auf, zu
       reagieren. Es sei nicht mit einem Bild auf Social Media getan, sagt er, und
       bezieht sich auf den Post des SPD-Bundesvorsitzenden Lars Klingbeil.
       
       Auch Berlins Bürgermeister Kai Wegner kritisiert er, weil der seine Reise
       nach Istanbul abgesagt hat. „Er hätte den Besuch im Gefängnis beantragen
       können und ein Zeichen setzen können“, sagt Akçetin. Ein solcher Besuch im
       Silivri-Gefängnis, in dem İmamoğlu einsitzt, wäre laut Akçetin zwar
       grundsätzlich möglich, jedoch keineswegs einfach und würde eine Genehmigung
       der türkischen Behörden erfordern. Mit Süleyman Yılmaz (CHP), dem aktuellen
       Vertreter İmamoğlus, der vorübergehend die Aufgaben des Bürgermeisters von
       Istanbul übernimmt, wäre ein solcher Besuch prinzipiell denkbar gewesen.
       Selbst im Falle einer Ablehnung durch die türkischen Behörden wäre der
       Besuch dennoch ein starkes Zeichen der Solidarität gewesen, betont Akçetin.
       
       Amed Mardin ist Politik- und Sozialwissenschaftler und Journalist. Außerdem
       betreibt er in Berlin-Kreuzberg ein kurdisches Restaurant – um auch die
       kurdische Kultur in Berlin sichtbar zu machen, sagt er. Mardin kommt, wie
       sein Familienname bereits verrät, aus Mardin, einer Stadt im Südosten der
       Türkei an der Grenze zu Syrien. 1993 zieht er nach Berlin und studiert an
       der Freien Universität. „Und jetzt sind es schon 32 Jahre“, sagt er
       lächelnd, die er hier in der Stadt wohne.
       
       Mardin sieht die Situation ähnlich wie Akçetin. Er teilt die Ansicht, dass
       die politische Repression in der Türkei und die Inhaftierung von Ekrem
       İmamoğlu nicht unbeachtet bleiben dürfen. Mardin ist der Meinung, dass
       Europa und insbesondere Deutschland sich deutlich zu dieser Entwicklung
       äußern müssten. Er betont, dass die internationale Gemeinschaft eine
       Verantwortung habe, sich gegen die Unterdrückung in der Türkei
       auszusprechen und die Rechte von politischen Gegnern zu verteidigen.
       
       Die AKP habe in Deutschland eine gewisse Struktur geschaffen, um die
       türkische Community hier anzusprechen, sagt Mardin. „Die Imame in
       Deutschland werden von der Diyanet ernannt und entsandt“, erklärt Mardin.
       Die Diyanet ist die oberste Religionsbehörde der Türkei und nur für
       sunnitische Muslime zuständig. Sie wird von der AKP-Regierung gesteuert.
       Mit mehr als 140.000 Mitarbeitern und einem Jahresetat von rund 3,2
       Milliarden Euro organisiert die Diyanet das religiöse Leben und selbst die
       Freizeit der Mitglieder, von Korankursen über Sportausflüge. Auch in
       Deutschland gibt es eine Diyanet-Zweigstelle: die Ditib. Der Verein
       betreibt bundesweit fast 1.000 Moscheen. „Dadurch bleibt der religiöse
       Einfluss der türkischen Regierung bestehen“, sagt Mardin.
       
       ## „Vielleicht darf ich jetzt nie wieder in die Türkei einreisen“
       
       Die Şehitlik Moschee am Columbiadamm in Berlin-Neukölln etwa gehört zur
       Ditib. Die Abkürzung steht für Türkisch-Islamische Union der Anstalt für
       Religion. 1995 wurde sie eröffnet, sie ist eine der bekanntesten Moscheen
       in Berlin. Eine Gruppe Jugendlicher steht vor dem Eingang der Moschee.
       Emirhan Şimşek ist 16 Jahre alt, er verfolge die Proteste in der Türkei,
       sagt der Schüler. Erst wirkt er zögerlich, dann sagt er: „Ich finde das
       nicht gut, was da passiert, Erdoğan soll aufhören.“ Ein Freund von ihm
       nickt.
       
       Şimşek sagt weiter: „Ja, İmamoğlu ist vielleicht sein Rivale, aber es ist
       brutal, was er da abzieht.“ Er unterstütze die Proteste und die jungen
       Menschen, die auf den Straßen für den Erhalt ihrer Demokratie kämpfen. Und
       er sagt, dass er froh sei, sich in Deutschland nicht mit solchen Problemen
       beschäftigen zu müssen.
       
       Ein anderer Jugendlicher gesellt sich dazu. Er trägt eine Kufi, eine kleine
       runde Kopfbedeckung, sie wird von vielen muslimischen Männern insbesondere
       beim Gebet getragen. In der Hand hat er eine schwarze Gebetskette.
       „Vielleicht darf ich jetzt nie wieder in die Türkei einreisen“, sagt er
       lachend. Seine Freunde lachen mit. „Aber das geht nicht, wie Erdoğan die
       Leute vollsprühen lässt mit Pfefferspray. Das ist echt scheiße“, sagt er.
       Was man von Deutschland aus tun könnte? „Protestieren!“, antworten sie
       einstimmig. Sie wollen ihre Solidarität zeigen und hoffen, dass dadurch
       etwas bewegt werden kann.
       
       Die Proteste in Deutschland zeigen aber auch: Es gibt viele, die Erdoğan
       weiter unterstützen. Unter ihnen ist die 21-jährige Hilal Kurtoğlu. Die
       Studentin der Ingenieursinformatik erzählt, dass sie die Proteste nicht
       ganz verstehe. Ihrer Meinung nach sollten die Protestierenden die
       Ermittlungen gegen İmamoğlu abwarten. „Aber wenn sie schon demonstrieren,
       dann sollten sie sich an Regeln halten. Polizisten mit Steinen oder Säure
       zu bewerfen, geht gar nicht“, sagt Kurtoğlu. Die Vorwürfe gegen İmamoğlu
       seien aus seiner eigenen Partei gekommen und „der Präsident hat mit der
       ganzen Sache nichts zu tun“, ist sie überzeugt.
       
       Tatsächlich gibt es keine belegten Berichte darüber, dass Demonstrierende
       in der Türkei Polizisten mit Steinen oder Säure attackiert hätten. Diese
       Behauptungen kursieren vor allem in regierungsnahen türkischen Medien und
       werden genutzt, um die Protestbewegung als gewalttätig darzustellen.
       
       Kurtoğlu sagt, sie beziehe ihre Informationen aus türkischen Medien, etwa
       dem regierungsnahen Sender TRT. Solche Sender stehen unter erheblichem
       Einfluss der Regierung und berichten selektiv, wodurch alternative
       Perspektiven häufig unterdrückt werden. Die Reaktionen der türkischen
       Polizei seien berechtigt, sagt die Studentin. „Wir haben auch in
       Deutschland gesehen, dass unerlaubte Palästina-Demos aufgelöst wurden. Wer
       sich gewehrt hat, wurde von der Polizei angepackt. Die Polizei muss überall
       für Frieden und Ordnung sorgen“, ergänzt Kurtoğlu.
       
       In Deutschland leben etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischem
       Migrationshintergrund. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 waren in
       Deutschland etwa 1,5 Millionen Türken wahlberechtigt. Die AKP von Präsident
       Erdoğan erhielt in Deutschland rund 49,5 Prozent der Stimmen, was einen
       Rückgang von etwa sieben Prozentpunkten im Vergleich zu 2018 darstellt.
       Auch bei der Präsidentschaftswahl verlor Erdoğan unter den hier lebenden
       Wählern an Unterstützung, dennoch bleibt seine Popularität in der
       türkischen Community in Deutschland hoch.
       
       Offizielle Wahlergebnisse der Hohen Wahlkommission der Türkei (YSK) sowie
       Analysen von Medien wie Anadolu Ajansı und der Deutschen Welle belegen
       diesen Trend. Studien von Meinungsforschungsinstituten zeigen zudem, dass
       sich das Wahlverhalten türkeistämmiger Wähler in Deutschland allmählich
       verändert. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang die Kurden, eine
       bedeutende Wählergruppe, die für die AKP potenziell Stimmen gewinnen
       könnte.
       
       „Es ist Fakt, dass viele Türken und Türkinnen in Europa – besonders in
       Deutschland, Österreich und Frankreich – als Gastarbeiter gekommen sind.
       Sie stammen oft aus konservativen und religiösen Familien“, erklärt der
       Politikwissenschaftler Mardin. Die ersten türkischen Gastarbeiter kamen in
       den 1960er Jahren nach Europa, vor allem nach Deutschland. Viele fühlten
       sich lange wirtschaftlich, sozial und politisch ausgegrenzt. Die AKP unter
       Erdoğan sprach gezielt konservative und religiöse Türkeistämmige an,
       vermittelte ihnen Anerkennung und Zugehörigkeit und stärkte ihre Bindung
       durch Religionsangebote und symbolische Wahlkampfauftritte. So bleibt
       Erdoğan für viele, trotz Kritik an ihm, eine wichtige Figur.
       
       Ali Parlak ist ebenfalls an der Şehitlik Moschee anzutreffen, er lebt nun
       seit 40 Jahren in Deutschland und kommt aus Konya, einer Stadt im zentralen
       Anatolien der Türkei, bekannt als eine der AKP-Hochburgen. Parlak antwortet
       direkt auf die Frage, wie er denn die Situation der Türkei einschätzt:
       „Unnötig, vollkommen unnötig, dass die da alle auf den Straßen unterwegs
       sind“, sagt er. Erdogan mache einen guten Job und das schon seit 22 Jahren.
       
       Der CHP aber würde es nur um Macht gehen, die hätten İmamoğlu selbst
       angezeigt und alles sowieso inszeniert, um Erdogan zu stürzen, erzählt er.
       Woher er diese Informationen habe? „Überall in den Nachrichten, im
       Fernsehen zeigen die das“, sagt er, während er seine Hände hektisch bewegt
       beim Reden. In Deutschland aber wähle er die SPD.
       
       Ein nicht untypisches Wahlverhalten unter türkeistämmigen Wählern in
       Deutschland. Laut einer Studie mit rund 2.700 Befragten des Deutschen
       Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) aus dem Januar
       hat die SPD das größte Wählerpotenzial unter Menschen mit
       Migrationshintergrund, insbesondere bei jenen mit türkischer
       Einwanderungsgeschichte. Das zeigt, dass politische Entscheidungen oft
       pragmatisch getroffen werden. Viele türkeistämmige Wähler bevorzugen in
       Deutschland sozialdemokratische Parteien wie die SPD, weil sie für
       Arbeitnehmerrechte, soziale Sicherheit und eine migrationsfreundlichere
       Politik stehen, von der sie direkt profitieren. In der Türkei hingegen
       unterstützen sie die AKP, weil sie sich mit deren konservativen Werten,
       ihrem Nationalismus oder ihrem Versprechen von Stabilität identifizieren
       
       Eine weitere AKP-Wählerin, die lieber anonym bleiben möchte, da sie anders
       denkt als ihre Freunde und Familie, sagt: „Ich wähle die AKP und werde auch
       weiterhin Erdoğan wählen. Er hat so vieles gemacht, Straßen gebaut, die
       Türkei wirtschaftlich aufgebaut.“ Alles andere was gesagt werde, das seien
       nur Lügen. Und sie verstehe auch nicht, was diese Leute von Erdoğan wollen,
       schließlich wurde er ja gewählt – und was könne er dafür, dass İmamoğlu
       korrupt sei? Auch in der Türkei dürfe man wählen und so herumlaufen, wie
       man wolle. Das Land sei „modern“, findet sie, und außerdem: „Es ist ja
       nicht so als hätten sie dort nichts“, sagt sie. Und der Wertverlust der
       Währung, die Verteuerung der Lebenshaltungskosten? Ihr komme das entgegen,
       sagt die Frau, sie freue sich schon auf den nächsten Urlaub, es sei „echt
       billig inzwischen alles“.
       
       Der kurdische Wissenschaftler und Journalist Mardin sagt über die AKP: „Die
       Partei existiert für mich als Fassade.“ Innerhalb der AKP, sagt er, „gibt
       es keine Persönlichkeiten, die sich gegen Erdoğan stellen können. Jeder,
       der sich gegen ihn stellt, weiß, dass er mit schwerwiegenden Konsequenzen
       rechnen muss.“ Mardin verweist darauf, dass Kandidaten, die in der AKP für
       Parlamentswahlen antreten, durch den türkischen Geheimdienst (MIT)
       überprüft würden. „Ich möchte nicht sagen, dass es wie in einem Gulag ist,
       aber ich habe von Leuten gehört, die von negativen Berichten betroffen
       waren und aus der Partei entfernt wurden“, sagt er.
       
       Mardin glaubt, dass die politische Lage unter Erdoğan tiefgreifende
       Auswirkungen auf die politische Landschaft in der Türkei und in Europa
       haben wird. Er erklärt, dass nationalistische Kräfte nicht nur Erdoğan
       stützen, sondern auch die Opposition und die kurdische Bevölkerung
       marginalisierten. Viele Kurden seien politisch an den Rand gedrängt worden,
       was dazu führe, dass sich viele von der politischen Auseinandersetzung in
       der Türkei distanzierten.
       
       Die Stimmung in den türkischen und kurdischen Gemeinschaften ist gespalten.
       [2][Einige Kurden lehnen den Kemalismus, den die CHP vertritt, ab]: Weil
       sie unter dieser Ideologie gelitten haben, sagt Mardin, insbesondere durch
       die kulturelle Unterdrückung und die Zwangsintegration in eine türkische
       Nationalidentität. Während der kemalistischen Ära Anfang des 20.
       Jahrhunderts wurden die kurdische Sprache und Traditionen unterdrückt, und
       politische Forderungen nach Autonomie wurden gewaltsam niedergekämpft.
       
       Infolgedessen empfinden viele Kurden den Kemalismus als eine Ideologie, die
       ihre Rechte und ihre Kultur missachtete. Ein Beispiel dafür ist die
       gewaltsame Unterdrückung des Dersim-Aufstands, auch bezeichnet als das
       Dersim-Massaker 1937/1938, bei dem Tausende von kurdisch-alevitische
       Zivilisten durch das türkische Militär getötet wurden, weil sie gegen die
       Assimilationspolitik Widerstand leisteten.
       
       Auch wenn viele in Deutschland lebende Kurden sich durchaus für kurdische
       Parteien und Bewegungen einsetzen: Die Mehrheit bleibt politisch neutral,
       oft aufgrund von Enttäuschungen über die politischen Entwicklungen oder aus
       einem Gefühl der Entfremdung von beiden Seiten, sowohl vom Kemalismus der
       CHP wie auch vom Nationalismus von Parteien wie der AKP.
       
       Fest steht, dass es in Berlin weitere Demonstrationen geben wird. Auch in
       Frankfurt am Main war für Mittwochabend eine Demo geplant. Laut der TIP
       haben sich 30 türkische Vereine in Berlin nun zu einer gemeinsamen
       Plattform der Demokratie zusammengeschlossen. Für die kommenden Wochenenden
       sind bereits Demonstrationen geplant. „Wir hören auf, wenn wir kein
       Präsidialsystem mehr haben und die Türkei nicht mehr von einem
       Alleinherrscher regiert wird“, sagt CHP-Bund-Vorstand Akçetin.
       
       Während sich die Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz langsam
       zerstreuen, hallt noch einmal ein Ruf aus der Menge: „Tayyip istifa!“ Es
       ist ein harter Kampf um die Zukunft der Türkei, der auch hier in
       Deutschland spürbar ist.
       
       Mitarbeit: Klarissa Krause
       
       2 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Protestbewegung-in-der-Tuerkei/!6074661
 (DIR) [2] /Politologe-ueber-Proteste-in-der-Tuerkei/!6078668
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Derya Türkmen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Ekrem İmamoğlu
 (DIR) Kurden
 (DIR) CHP
 (DIR) GNS
 (DIR) Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Ekrem İmamoğlu
 (DIR) Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf: Bis zuletzt im Kampf für Frieden mit der PKK
       
       Der Politiker Sirri Süreyya Önder, ein aufrechter Linker, ist am
       vergangenen Samstag im Alter von 62 Jahren in Istanbul gestorben.
       
 (DIR) Berliner Plattform gegen Erdoğan: Frischer Wind für Demokratieproteste
       
       Rund 30 türkeistämmige Gruppen demonstrieren am Sonntag in Berlin für
       İmamoğlu und alle politischen Gefangenen. Der CHP Bund Berlin ist nicht
       dabei.
       
 (DIR) Großkundgebung für Freilassung İmamoğlus: Machtdemonstration der türkischen Zivilgesellschaft
       
       Die Proteste gegen die politisch motivierte Inhaftierung des Istanbuler
       Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu reißen nicht ab. Am Samstag kommen in
       Istanbul Massen zusammen.
       
 (DIR) Größte Oppositionspartei der Türkei: Wie die CHP zur CHP wurde
       
       Nach der Inhaftierung von İmamoğlu und heftigen Protesten hoffen viele auf
       die Oppositionspartei CHP. Bei aller Solidarität lohnt ein kritischer
       Blick.
       
 (DIR) Politologe über die Türkei: „Die Protestbewegung braucht die Kurden“
       
       Das Verhältnis von CHP und Kurden ist historisch belastet. Trotzdem
       unterstützen viele Kurden die Proteste. Politologe Müslüm Örtülü erklärt,
       warum.