# taz.de -- Schulverbote für Mädchen in Afghanistan: Weiterlernen streng verboten
       
       > Mädchen in Afghanistan dürfen keine weiterführenden Schulen mehr
       > besuchen. Die 16-jährige Marwa Hamidi nimmt illegalen Onlineunterricht.
       
 (IMG) Bild: Dari-Persisch-Unterricht für Mädchen in einer dritten Klasse in Kabul: Drei Jahre dürfen sie noch
       
       Marwa Hamidi erinnert sich noch gut an den 23. März 2022. Es war ein
       freundlicher Morgen, die Sonne kündigte den Frühling an. Für Hamidi sollte
       der Tag ein Stück Freiheit zurückbringen. Sieben Monate lang hatten die
       Taliban die weiterführenden Schulen für Mädchen in fast allen Teilen
       Afghanistans [1][geschlossen gehalten]. Am 23. März sollten sie wieder
       öffnen.
       
       Marwa Hamidi, 16 Jahre alt, zog an diesem Morgen ihre alte Schuluniform an:
       ein knielanger schwarzer Mantel über einer Hose, ein weißes Kopftuch. Sie
       ging zu ihrer alten Schule, einer Sekundarschule in Kabul. Voller Hoffnung
       sei sie gewesen, erzählt sie fünf Monate später am Telefon. Sie wollte die
       11. Klasse beenden, ein Jahr später ihren Abschluss machen, studieren,
       Astronautin werden. Ihre Zeugnisse zeigen, dass sie eine sehr gute
       Schülerin war, bevor die [2][Taliban Kabul] eroberten.
       
       Als sie an ankam, wusste sie, dass sie sich getäuscht hatte. „Am Schultor
       warteten Taliban auf uns. Sie trugen Kalaschnikows über ihren Schultern und
       Peitschen in den Händen.“ Mit den Gewehren hätten die Männer auf die
       Mädchen gezielt und geschrien, sie sollten nach Hause gehen. Mädchen hätten
       in Schulen nichts zu suchen.
       
       Hamidi erzählt mit dünner Stimme. „Ich habe mich gefühlt wie ein Kind, das
       eine Sandburg gebaut hat. Plötzlich kommt jemand mit schweren Schuhen,
       trampelt die Burg kaputt und freut sich über die Trauer des Kindes.“
       
       Seit diesem Tag sitzt Marwa Hamidi zu Hause und wartet darauf, dass die
       Schulen öffnen. Mit ihrer Mutter und zwei älteren Geschwistern lebt sie in
       einer kleinen Wohnung im Zentrum von Kabul. Ihr Vater, ein ehemaliger
       Soldat, ist in den Iran geflohen.
       
       ## 3 Millionen Mädchen sind nicht in der Schule
       
       Seit die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan an sich gerissen
       haben, verwehren sie vor allem Mädchen den Besuch von weiterführenden
       Schulen. Jungen zwischen der ersten und der zwölften Klasse dürfen wieder
       zur Schule. Kleine Mädchen können bis zur sechsten Klasse die Grundschulen
       besuchen, Studentinnen dürfen unter strengen Auflagen wieder an die Unis,
       getrennt von den männlichen Studenten. Die dazwischen, heranwachsende
       Mädchen, sitzen in weiten Teilen des Landes zu Hause und warten.
       
       Öffentlich proklamiert die Talibanführung immer wieder, dass bald auch
       diese Mädchen wieder die Sekundarschulen besuchen dürften. „Wir wollen sie
       nicht vom Lernen abhalten“, sagte Zabiullah Mujahid, ein Sprecher der
       Taliban auf einer Konferenz in der Türkei. Man sei dabei, die Lehrpläne an
       islamisches Recht anzupassen. Wann die Schulen wieder geöffnet werden
       sollen, weiß allerdings niemand.
       
       Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass etwa drei Millionen afghanische
       Mädchen derzeit keine weiterführende Schule besuchen dürfen. Für
       Menschenrechtsorganisationen ist das nicht nur eine Frage von
       Gerechtigkeit. Die Vereinten Nationen fürchten auch, dass sich die
       ökonomische Krise Afghanistans verschlimmern wird, Unsicherheit, Armut und
       Isolation zunehmen werden, wenn Mädchen weiterhin nicht auf weiterführende
       Schulen gehen dürfen.
       
       Eine der wenigen Ausnahmen ist die Region um Mazar-e-Sharif. In der Stadt
       im Norden Afghanistans wurden die Sekundarschulen streng nach Mädchen und
       Jungen getrennt, aber blieben weitgehend offen. Anita Qahar ist Lehrerin in
       Mazar-e-Sharif. Sie heißt eigentlich anders, aus Sicherheitsgründen trägt
       sie hier ein Pseudonym. Qahar unterrichtet Geografie und Geschichte. Bevor
       die Taliban die Macht übernahmen, hat sie Jungen und Mädchen unterrichtet.
       Jetzt dürfe sie die Jungs nicht mehr unterrichten, mache das aber heimlich,
       erzählt sie am Telefon.
       
       „Unsere Schulen sind zwar noch offen, aber extrem eingeschränkt. Wir
       weiblichen Lehrerinnen und die Schülerinnen müssen strikte Regeln
       befolgen“, sagt sie. Die Taliban hätten den Lehrplan mit islamistischen und
       extremistischen Inhalten umgebaut, die Themen Demokratie und Mitbestimmung
       dürften Lehrerinnen nicht mehr behandeln. Vertreter der Taliban tauchten
       unangekündigt im Unterricht auf und kontrollierten die Inhalte.
       
       ## Proteste für Recht auf Schule
       
       „Sie kommen bewaffnet und bringen den Terror an die Schulen“, erzählt sie.
       Wenn die Männer eine Lehrerin oder Schülerin erwischten, die ihren Schleier
       nicht richtig tragen, schrien sie sie an und schickten sie nach Hause.“
       
       Gleich zu Beginn ihrer Herrschaft hätten die Taliban neue Schuluniformen
       für Mädchen festgeschrieben: ein langer schwarzer Rock; ein Schleier, der
       das Gesicht komplett verdeckt, nur die Augen liegen frei. Das sei gerade in
       den Sommermonaten, in denen es in der Region extrem heiß wird, eine große
       Belastung für die Mädchen. „Das macht es ihnen nicht nur schwer zu lernen,
       es nimmt ihnen auch ihre Identität.“
       
       Auch wenn sich in weiten Teilen des Landes viele Mädchen dem Schulverbot
       unterordnen, flammen immer wieder Protest auf. Nachdem im September in der
       östlichen Provinz Paktia fünf Tage lang die Schulen geöffnet, und gleich
       wieder geschlossen wurden, protestierten Hunderte Schülerinnen in
       Schuluniformen für ihr Recht auf Bildung.
       
       Die Taliban gingen zum Teil rabiat gegen die Protestierenden vor. Auf einer
       offiziellen Pressekonferenz erklärte der Bildungsminister der Taliban,
       afghanische Eltern würden nicht wollen, dass ihre Töchter zur Schule
       gingen.
       
       Anfang Oktober gingen in den Provinzen Kabul, Balkh, Herat und Bamyan
       mehrere Tage hintereinander Frauen auf die Straße, nachdem sich [3][ein
       Selbstmordattentäter] neben einer Privatschule in Kabul in die Luft
       gesprengt hatte. 53 Schüler*innen sind gestorben. Allein zwischen Januar
       und Juni 2022 zählte Unicef 56 Angriffe auf Schulen, zahlreiche Kinder
       wurden dabei verletzt oder getötet.
       
       Wais Barakza will den Mädchen ein Gesicht geben, die verzweifelt auf die
       Schule warten. Barakza, 32, ist einer der bekanntesten Influencer
       Afghanistans. Er hat mehr als 1,5 Millionen Follower bei Facebook – obwohl
       er anderes agiert als viele Social-Media-Stars. Kaum jemand weiß, wie er
       aussieht, er zeigt nie sein Gesicht. In Afghanistan gilt er als einer der
       wichtigsten Journalisten und Aktivisten, viele schätzen seine unaufgeregte
       Art, mit der er über sein Land berichtet. Er ist dafür immer wieder bedroht
       worden, seit September 2022 lebt er in Deutschland.
       
       ## Fluch, ein Mädchen zu sein
       
       Für seine jüngste Onlinekampagne hat er Mädchen aufgefordert, ihm Videos zu
       schicken und zu erzählen, warum sie wollen, dass die Schulen wieder
       aufgemacht werden. Hunderte Videos habe er erhalten, erzählt er im Gespräch
       mit der taz. Einige hat er veröffentlicht. „Die Welt soll sehen, was es für
       sie heißt, dass sie nicht zur Schule gehen dürfen.“
       
       Da ist etwa das Video von der Teenagerin Samia, das viral ging. Wütend
       spricht sie in die Kamera: „Es ist ein Fluch, in diesem Land ein Mädchen zu
       sein. Wir werden seit jeher dafür bestraft, Frauen zu sein. Müssen wir auch
       dabei zusehen, wie unsere Hände faltig werden, während sie darauf warten,
       endlich ihr Recht auf Bildung ausleben zu dürfen?“ An die Taliban
       gerichtet, sagt sie: „Wenn ihr uns tausend Jahre lang die Bildung verwehrt,
       werden wir genauso lange um unser Recht darauf kämpfen.“
       
       Bevor die Taliban Kabul erobert haben, besuchte fast die Hälfte der
       afghanischen Kinder eine Schule. In größeren Städten konnten Mädchen häufig
       weiterführende Schulen besuchen. Zuletzt waren die Zahlen der Jugendlichen,
       die lesen konnten, gestiegen. Immer mehr der Kinder, die einmal eingeschult
       wurden, konnten die Schule auch abschließen.
       
       Schwieriger war die Situation schon immer in den ländlichen Regionen. Dort
       ist die Sicherheit der Schulen schon lange durch die Taliban instabil.
       Immer wieder wird Schulpersonal bedroht, Schülerinnen wurden vergiftet,
       Schulgebäude zum Teil niedergebrannt.
       
       Nach knapp einem Jahr des Wartens und Verzweifelns hat Marwa Hamidi
       mittlerweile einen Weg gefunden, zumindest ein bisschen Schule zu
       improvisieren. Sie nimmt an Onlinekursen teil. Zweimal pro Woche bekommt
       sie so Englisch-Unterricht, Literatur und Dari über einen Zoom-Link.
       
       Angeboten werden die Kurse von der kleinen Initiative Shamama. Finanziert
       wird Shamama vor allem von Afghan*innen aus der ganzen Welt. Für die
       Kinder, die dort lernen, ist das Angebot kostenlos. Die Lehrer*innen, die
       dort unterrichten, sind meist Afghan*innen, die selbst das Land verlassen
       haben.
       
       ## Taliban-Töchter gehen ins Ausland
       
       „Es ist gut, dass es das gibt, aber es ist auch nur ein kleiner Trost“,
       sagt Hamidi. Die Internetverbindung sei oft schlecht oder es gebe mal
       wieder keinen Strom. Verlässlicher Unterricht sind die Kurse also nicht.
       
       Im Internet hat Marwa Hamidi von einer reisenden High School gelesen, der
       Think Global School: ein Non-Profit-Projekt von zwei US-Amerikaner*innen,
       bei dem Schüler*innen aus der ganzen Welt ihren Abschluss machen können.
       „Ich kann nicht noch mehr Zeit verlieren“, sagt Hamidi. „Ich muss einen Weg
       finden, weiterzulernen und meine Traum zu verfolgen, Astronautin zu
       werden.“
       
       Hamidi hat der Direktorin ihrer ehemaligen Schulen von ihrer Idee erzählt
       und sie gefragt, ob sie ihr eine Empfehlung für diese Schule schreiben
       würde. Die sei geschockt gewesen: Unter den Taliban sei es verboten,
       Schülerinnen offizielle Dokumente auszustellen.
       
       Das hat sie der Schulleitung der reisenden High School geschrieben und eine
       verständnisvolle Antwort erhalten. Wenn sie die Schule besuchen wolle,
       werde sich ein Weg finden.
       
       Richtig freuen kann sich Hamidi über die Antwort nicht. „Selbst wenn ich an
       der Schule angenommen werde – wie sollte ich dort hin reisen? Die Taliban
       lassen Frauen nicht allein das Land verlassen.“ Anders ist es, wenn es um
       ihre eigenen Töchter geht. Mehrere Taliban-Führer haben ihre Töchter auf
       Schulen und Universitäten ins Ausland geschickt, nach Doha oder Pakistan.
       Für Marwa Hamidid ist das unvorstellbar, zumindest so lange die Taliban
       Afghanistan regieren.
       
       Aus dem Englischen: Anne Fromm
       
       27 Oct 2022
       
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