# taz.de -- Psychologische Hilfe für Geflüchtete: Der Seelenheiler
       
       > Auf seiner Flucht aus Syrien hat Muhannad Taha Schreckliches erlebt.
       > Heute hilft er als Psychologe anderen Geflüchteten. Doch die Finanzierung
       > ist schwierig.
       
 (IMG) Bild: Zuhören, nachfragen, verstehen: Muhannad Taha will denen helfen, die weniger Glück hatten als er
       
       Manchmal fühlt Muhannad Taha sich schuldig. Besonders dann, wenn der
       Mensch, der seine Hilfe sucht, aus seiner Heimatstadt Aleppo kommt. „Du
       bist wie ich“, denkt er dann. „Warum hatte ich so viel Glück? Wieso sitze
       ich hier und du da?“
       
       Glück, damit meint Muhannad, dass er nach seiner Flucht aus Syrien im
       Frühsommer 2015 nur ein paar Wochen im [1][Erstaufnahmelager in
       Eisenhüttenstadt] bleiben musste. Dass er bald mit seiner Mutter in eine
       eigene Wohnung nach Neuruppin ziehen durfte. Dass sein Englisch gut war und
       er deshalb schnell arbeiten konnte. Dass seine ganze Familie heute in
       seiner Nähe wohnt. Dass auf seinen Berliner Balkon die Abendsonne scheint
       und er inzwischen einen deutschen Pass hat. Dass er Psychologie studieren
       konnte, so wie er wollte.
       
       Muhannad, 34 Jahre alt, ist jemand, der überlegt, bevor er spricht, sich zu
       seinem Gegenüber beugt, wenn er zuhört. Jemand, der jeden Morgen nach dem
       Aufstehen eiskalt duscht. „Dann bist du für alles vorbereitet, der Tag kann
       dich nicht mehr schockieren“, sagt er. Neben seiner Ausbildung als
       psychologischer Psychotherapeut arbeitet er auch als Sprachmittler,
       begleitet seit 2016 Geflüchtete bei Arztbesuchen und Therapiesitzungen.
       
       An einem Mittwochnachmittag baut Muhannad in einem kleinen Raum in einer
       Unterkunft für Asylbewerber*innen einen Stuhlkreis auf. Das Haus im
       Norden von Berlin hat sechs Stockwerke, ist grau verputzt, mit einem
       Treppenhaus aus Glasbausteinen. 258 Personen sind hier zur Zeit
       untergebracht, 82 von ihnen minderjährig. Die meisten kommen aus
       Afghanistan, der Türkei oder aus Syrien.
       
       ## Safe Space im Stuhlkreis
       
       Auf der anderen Straßenseite ist ein großer Spielplatz. Die Kinder, die
       hier spielen, verständigen sich mit einem Mix aus Deutsch, Vietnamesisch,
       Farsi und Arabisch. Drinnen hängen bunte Skulpturen aus Pappmaché von der
       Decke, an den Wänden Bilder von Biene Maja. Ein Puppenhaus und Playmobil
       stehen in der Ecke. Hier üben die geflüchteten Kinder sonst Deutsch und
       lernen schreiben und rechnen.
       
       Das Klassenzimmer ist ein geschützter Raum – heute für geflüchtete Männer.
       In der Unterkunft leben 203 männliche Geflüchtete und 55 weibliche. Gleich
       findet eine Gesprächsrunde statt, mit psychologischer und ärztlicher
       Begleitung. Muhannad ist als Psychologe hier, und um bei medizinischen
       Fragen für seinen Kollegen, den Psychiater Sebastian, zu übersetzen.
       Während die beiden das Kabel für ihren Beamer suchen, füllt sich der Raum.
       Nach und nach kommen elf Männer in den Raum, murmeln ein leises „Hallo“ und
       setzen sich schweigend in den Stuhlkreis zwischen den bunten
       Kinderzeichnungen. Manche verschränken die Arme und blicken Sebastian und
       Muhannad erwartungsvoll an.
       
       Die Männerrunde ist ein neues Projekt der Berliner Charité, ein ähnliches
       Angebot für geflüchtete Frauen gibt es schon länger. In den Gesprächsrunden
       geht es um Gefühle, über die Männer oder Frauen vielleicht verschieden
       sprechen wollen, um geschlechtsspezifische Gesundheitsthemen, um
       Sexualität. Die Frauen oder Männer sollen sich hier sicher fühlen,
       schwierige Themen anzusprechen, und Vertrauen zu den Behandelnden fassen
       können.
       
       Alle drei bis vier Monate besuchen Muhannad und seine Kolleg*innen
       unterschiedliche Berliner Geflüchtetenunterkünfte. Das soll eine große
       Versorgungslücke etwas kleiner machen. Denn in Deutschland haben
       Geflüchtete erst nach drei Jahren Zugang zum regulären Gesundheitssystem.
       Davor werden nur akute Krankheiten und Schmerzzustände behandelt, und
       psychische Krankheiten nur in den seltensten Fällen. Das heißt, auch
       Geflüchtete, die Folter und Gewalt erlebt haben, traumatische
       Fluchterfahrungen hinter sich haben, bekommen fast nie die Hilfe, die sie
       brauchen.
       
       ## Wo bekommt man Hilfe?
       
       Gerade einmal 3,3 Prozent von ihnen erhielten 2023 eine angemessene
       Therapie, wie ein [2][Bericht der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der
       Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge] und Folteropfer zeigt. Dabei hat
       etwa ein Drittel der Geflüchteten wegen Traumata psychische Probleme.
       Manche von ihnen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, also
       eine verzögerte psychische Reaktion auf ein oder mehrere extrem belastende
       Ereignisse, mit Flashbacks, Albträumen, Schlafstörungen und quälenden
       Erinnerungen.
       
       Im Klassenzimmer erklären Sebastian und Muhannad den Männern zuerst das
       deutsche Gesundheitssystem: Wo bekommt man Hilfe? Wann geht man zum
       Hausarzt, wann ins Krankenhaus, was ist ein Notfall? Und was eine
       psychische Krankheit? Und sie hören zu. Die Männer können hier auch über
       Sexualität sprechen, manchmal geht es zum Beispiel um Erektionsprobleme,
       sagt Muhannad. Oder über ihre Gefühle, über Angst, Wut, Trauer,
       Perspektivlosigkeit und oder einfach Langeweile. Nach der Gruppensitzung
       bieten Muhannad und Sebastian Einzeltermine an, wenn die Männer Anliegen
       haben, die sie nicht vor den anderen besprechen wollen. Oder sie vermitteln
       weiter, an Sozialarbeiter*innen oder im Notfall auch an
       Spezialist*innen.
       
       Zur Gesprächsrunde ist auch Uthman al-Hassan, 48, gekommen. Er trägt
       Sportschuhe und Trainingsjacke, ist akkurat frisiert und rasiert. In seiner
       Heimatstadt Raqqah im Norden von Syrien hat er in einer Molkerei Käse
       gemacht. Auch jetzt würde er gerne arbeiten, vielleicht als Altenpfleger,
       erzählt er. Aber sein Leben ist im Stillstand, seit er vor eineinhalb
       Jahren in Berlin angekommen ist, zu seinem Sohn, der schon vorher geflohen
       war. Sie können nicht zurück, Syrien ist noch immer unsicher. Aber sie
       können auch nicht ankommen: Uthmans Gedanken kreisen ständig um seine
       Tochter, seinen anderen Sohn, seine Frau, die er zurücklassen musste.
       
       Nach der Gesprächsrunde bittet Uthman um einen Einzeltermin. In der Mitte
       des leeren Klassenzimmers stellen Sebastian und Muhannad drei Stühle
       zusammen und setzen sich Uthman gegenüber. Er beginnt zu sprechen, auf
       Arabisch. Muhannad blickt ihm aufmerksam ins Gesicht, stellt ein paar
       Nachfragen, einzelne Wörter notiert er auf ein Blatt Papier. Dann dreht er
       sich zu Sebastian und übersetzt, fließend, schnell und so genau wie
       möglich. Beim Sprechen übernimmt er Uthmans Position: „Ich habe ein
       Problem“, fängt er an und legt wie Uthman kurz zuvor die Hand an seinen
       Hals und auf seine Brust: „Da ist etwas mit meinem Herzen.“
       
       ## „Was Du erlebst hast, ist nicht banal“
       
       Als eine Enge, einen Schmerz, die ihm Angst machen, beschreibt Muhannad das
       Gefühl für Uthman. Er habe das schon mal gespürt, als seine Eltern
       gestorben sind, bei einem Erdbeben in Syrien. Vor ein paar Tagen aber, da
       kam das Gefühl einfach so, es war eigentlich eine Kleinigkeit: Ein Junge
       aus der Unterkunft habe ihn beleidigt. Da war es wieder: der Druck im
       Brustkorb, die Luftnot, die sich anfühlt, als müsse man sterben. Dabei war
       das eine Banalität, sagt Muhannad für Uthman, der mit den Achseln zuckt,
       und inzwischen habe er sich mit dem Jungen vertragen.
       
       „Uthman, was du erlebt hast, ist keine Banalität“, antwortet Sebastian und
       zählt auf: „Du hast beide Eltern verloren, du hast die Flucht hinter dir,
       lebst in einem fremden Land, hast Sorgen um deine Familie.“ Das sei alles
       großer Stress. Muhannad übersetzt, Uthman nickt. Manchmal drücke der Körper
       aus, dass etwas zu viel ist, erklärt Sebastian, bevor der Geist das kann.
       Mit Atemnot, Druckgefühlen und Schwitzen spricht der Körper dann. Uthman
       nickt wieder, das plötzliche Schwitzen kennt er auch. „Aber ich mache mir
       Sorgen, dass der Druck einmal zu viel wird und mein Herz aufhört zu
       schlagen.“
       
       Wie ein Fass, das schon sehr voll ist, beschreibt es Sebastian für Uthman:
       Die Unsicherheit, die Sorge um die Familie, die Fluchterfahrungen. Zum
       Überlaufen könne alles führen, eine vermeintliche Kleinigkeit, ein dummer
       Spruch. Muhannad übersetzt, formt mit seinen Händen für Uthman das Fass,
       zeigt, wie es mit einem Schwung überläuft.
       
       Auf Uthmans Gesicht breitet sich langsam ein Lächeln aus. Er ist
       erleichtert, dass die Enge in seiner Brust nicht so gefährlich ist, wie sie
       sich anfühlt. Uthman brauche einen Ausgleich, meint Sebastian, empfiehlt
       ihm Sport und zur Sicherheit noch ein EKG, um körperliche Probleme ganz
       auszuschließen – aber viel mehr können Muhannad und Sebastian erst mal
       nicht machen. Uthman wird weiter warten, die Sorgen und Unsicherheit werden
       bleiben.
       
       ## Knappe Mittel werden weiter gekürzt
       
       Wenn Geflüchtete langfristig psychologische Hilfe brauchen, dann springen
       oft die psychosozialen Zentren ein. In Berlin ist es in vielen Fällen das
       Zentrum Überleben. Der Bedarf sei allerdings größer als die Zahl der
       Plätze, sagt Katrin Boztepe. Sie arbeitet hier als psychologische
       Psychotherapeutin. Immer wieder muss das Zentrum um Geld kämpfen, Spenden
       sammeln, Projektanträge stellen.
       
       Die Bundesregierung hat beschlossen, im neuen Haushalt die ohnehin schon
       knappen Mittel erneut zu kürzen. 2023 hatte der Bund noch 17 Millionen Euro
       für alle Zentren bereitgestellt, jetzt sollen es nur noch rund 11 Millionen
       Euro sein. Die Menschen, die im Zentrum Überleben behandelt werden,
       brauchen in der Regel Sprachmittlung. Die ist aber nicht gesetzlich
       verankert und muss immer zusätzlich finanziert werden.
       
       „Unsere Patient*innen haben oft mehrere traumatische Erfahrungen
       gemacht“, sagt Boztepe. Sie seien Überlebende von Gewalt und Folter, von
       Krieg, Verfolgung und Haft. Sie hätten immer wieder
       Menschenrechtsverletzungen erlebt, im Herkunftsland, auf der Flucht, an
       Grenzübergängen, von staatlichen und parastaatlichen Kräften. „Und wenn sie
       in Deutschland ankommen, ist lange nicht alles gut“, sagt Boztepe. Oft
       müssen Geflüchtete monate- oder jahrelang in Unterkünften bleiben. Dann sei
       da der Stress, die Unsicherheit, das Warten, die Perspektivlosigkeit, viele
       erleben Rassismus. Viele haben außerdem kaum Geld, weil sie auf staatliche
       Leistungen angewiesen sind, solange sie keine Arbeitserlaubnis haben.
       
       „Das alles steht auch der Heilung im Weg“, sagt Boztepe. Denn um eine
       posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln, braucht es Sicherheit,
       Stabilität und die Möglichkeit, Selbstfürsorge zu betreiben. Der bewährte
       Weg, Traumata zu therapieren, sei, sie zu konfrontieren. „Aber kann ich das
       guten Gewissens machen, wenn ich die Patient*innen danach zurück in die
       Unterkunft schicke, wo sie keinen privaten Rückzugsraum haben, um
       Besprochenes zu reflektieren und wirken zu lassen?“, fragt sich Boztepe
       regelmäßig.
       
       ## „In Syrien können wir nicht bleiben“
       
       Für Muhannad war manches anders, daher kommt das Schuldgefühl, das ihm
       regelmäßig begegnet. Das Gefühl kann aber auch ein Symptom einer
       posttraumatischen Belastungsstörung sein. In der Psychologie heißt es
       „Survivor’s Guilt“, die Schuld der Überlebenden. Denn auch Muhannad hat auf
       der Flucht Traumatisches erlebt.
       
       Es ist 2015. Muhannad, damals 23 Jahre alt, lebt in Aleppo ein ziemlich
       normales Leben. Er ist gerne mit Freunden unterwegs, macht ein bisschen
       Sport, will vielleicht Maschinenbau studieren. Er kommt aus einem
       Akademikerhaushalt, seine Eltern arbeiten an der Universität. Aber während
       er erwachsen wird, verändert sich die Stadt um ihn herum. Es liegt etwas in
       der Luft, das merkt man überall. Schüler werden festgenommen, weil sie an
       Häuserwände Sprüche gegen das Regime gekritzelt haben, es heißt, dass sie
       gefoltert werden.
       
       Muhannads Großvater ruft ein Familientreffen ein. „Hier können wir nicht
       bleiben, was machen wir jetzt?“, fragt er. Die Familie entscheidet, dass
       Muhannad sich mit seiner Mutter auf den Weg machen soll. Sie wollen nach
       Deutschland, denn dort leben schon zwei Geschwister. Ein Bruder studiert in
       Berlin. Aber der Weg von Muhannad und seiner Mutter ist schwieriger als die
       Reise seiner Geschwister mit einem Studentenvisum. Um sie herum beginnt
       gerade der syrische Bürgerkrieg und Regeln zerfallen in Willkür und Gewalt.
       
       Die Flucht dauert etwa 3 Wochen. Muhannad und seine Mutter fahren erst Bus,
       dann Zug. Türkische Schlepper schicken sie mit dem Schlauchboot übers
       Mittelmeer. Sie finden Mitfahrgelegenheiten, laufen zu Fuß, mitten in der
       Nacht durch den serbischen Wald. Immer wieder fühlen sie sich auf der
       Flucht ausgeliefert. Es gibt Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, in
       denen alles schiefgehen könnte. Aber vorerst haben sie Glück: Die
       Grenzbeamten lassen sie aus Syrien ausreisen. Das überfüllte Schlauchboot
       sinkt nicht. Sie schaffen es durch den Wald.
       
       ## In Ungarn gefasst
       
       Doch kurz vor dem Ziel passiert etwas, das sie unbedingt vermeiden wollten:
       Muhannad und seine Mutter werden in Ungarn von Grenzbeamten gefasst. Ihre
       Fingerabdrücke werden genommen, jetzt sind ihre Daten im System. Wegen der
       europäischen Dublin-Regeln dürfen sie nun nur noch in Ungarn Asyl
       beantragen. Hier sind die Bedingungen für Geflüchtete extrem schlecht.
       Menschenrechtsverletzungen sind Alltag, das wissen auch Muhannad und seine
       Mutter.
       
       Nachdem sie ihre Daten aufgenommen haben, lassen die Grenzbeamten die
       beiden weiterreisen. Über die Grenze von Ungarn nach Österreich nehmen sie
       ein Taxi, weil die selten angehalten werden. Denn sie wissen, dass sie
       sofort wieder nach Ungarn geschickt würden, wenn man sie beim Überqueren
       der Grenze entdecken würde.
       
       Während der gesamten Fahrt durch die Nacht weint Muhannad vorne neben dem
       Fahrer: „Ich habe gedacht, mein Leben ist vorbei. Wir werden wieder
       abgeschoben. Alles, was wir schon geschafft haben, war umsonst.“ Trotzdem
       fahren sie weiter mit dem Zug nach München. Dort holt der Bruder sie ab, zu
       dritt geht es jetzt weiter nach Berlin. Eine Nacht verbringen sie als
       Familie in seiner Wohnung. Am nächsten Tag melden sich Muhannad und seine
       Mutter beim Sozialamt.
       
       Die Monate danach sind als „Flüchtlingssommer“ in die Geschichte
       eingegangen. Innerhalb weniger Monate kommen mehr als eine Million
       Geflüchtete nach Europa, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak. An
       einem einzigen Tag im August werden mehr als 4.000 Schiffbrüchige im
       Mittelmeer lebend geborgen. [3][Angela Merkel] sagt „Wir schaffen das“ und
       die Regierung entscheidet, Abschiebungen in andere EU-Staaten vorerst
       auszusetzen. Auch Muhannad darf bleiben.
       
       ## Das Trauma geht nicht von alleine weg
       
       Dass er einige Monate früher gekommen ist, habe einen großen Unterschied
       gemacht, glaubt Muhannad. Das System, auf das sie treffen, ist noch nicht
       so überlastet, wie später. Im Brandenburgischen Neuruppin, wo sie eine
       Wohnung bekommen, kümmern sich Sozialarbeiter*innen um die beiden.
       Muhannad findet Freund*innen, die mit ihm Englisch sprechen und ihm helfen,
       sich im deutschen System zurechtzufinden. Er fängt an zu arbeiten, plant
       seine Zukunft. Zurück denkt er erst mal nicht. Mit seinem Leben in
       Deutschland ist er ausreichend beschäftigt.
       
       Ungefähr eineinhalb Jahre dauert es, bis die Albträume kommen. In seinen
       Nächten wird Muhannad jetzt gejagt, manchmal festgenommen. Wenn er
       aufwacht, rast sein Herz. Einmal hört seine Mutter ihn im Schlaf schreien.
       Ein Freund, der Psychotherapeut ist, sagt ihm: „Das ist ein Trauma, du
       musst dich darum kümmern, das geht nicht von alleine weg.“ Muhannad glaubt
       ihm erst nicht, versucht sich mit Filmen und Fernsehen abzulenken. Aber auf
       Dauer klappt das nicht. Muhannad macht nun doch einige Termine aus: Er
       findet eine Gruppentherapie und eine Therapeutin, die mit ihm seine
       Traumata konfrontieren und das Sprechen über Gefühle üben. Mehrere Jahre
       ist er in Behandlung.
       
       Das alles hilft, nach und nach geht es Muhannad besser. Für ihn war es
       leichter, die notwendige Behandlung zu bekommen, als für viele andere:
       Muhannad durfte arbeiten und hatte deshalb auch eine reguläre
       Krankenversicherung. Bis 2023 mussten Geflüchtete außerdem nur 18 Monate
       warten, bis sie Anspruch auf reguläre Behandlungen erhielten – heute sind
       es 3 Jahre.
       
       Muhannad beschäftigt seine Flucht jetzt nur noch selten. Und er ist selbst
       Psychologe geworden. Den Beruf hat er sich auch wegen seiner Erfahrungen
       als Sprachmittler ausgesucht. Bei therapeutischen Sitzungen merkt er
       nämlich manchmal, dass die deutschen Therapeut*innen auf eine Art
       fragen, die er nicht ganz passend findet. „So würde man es bei uns nicht
       formulieren, so fragt man das nicht“, denkt er. Psychotherapie ist etwas
       Kulturelles, stellt er fest, und entschließt sich, selbst diesen Beruf zu
       ergreifen.
       
       ## „Meine Kinder weinen“
       
       Vieles ist jetzt wie früher, als Muhannad in Aleppo lebte: Nach der Arbeit
       trifft er seine Freunde, geht zum Sport oder kocht syrisches Essen.
       Inzwischen aber vegetarisch, so gut das eben geht. Als am 8. Dezember 2024
       in [4][Syrien das Assad-Regime] fällt, ist das für Muhannad überwältigend.
       Zehn Jahre lang konnte er nicht mehr in sein Heimatland. „Es ist, als wärst
       du jahrelang in einem verschlossenen Raum gewesen. Und jetzt ist nicht
       einfach eine Tür aufgegangen, es sind alle Wände weg“, beschreibt er das.
       
       Mit einigen syrisch-deutschen Psycholog*innen und Ärzt*innen sucht er
       jetzt eine Möglichkeit, Syrer*innen auszubilden – erst mal aus der
       Ferne, übers Internet. Denn klinische [5][Psycholog*innen gibt es in
       Syrien bislang kaum]. Obwohl der Bedarf nach Jahren des Kriegs und Assads
       Folterregime riesengroß sein muss, glauben Muhannad und seine Mitstreiter.
       
       Für Uthman ist es anders. Obwohl auch er sich freut, dass Assad jetzt weg
       ist, schließen sich für ihn die Türen, auf die er so sehr gehofft hatte.
       Deutschland entscheidet wenige Tage nach Assads Sturz, den Familiennachzug
       aus Syrien zu stoppen. Und im Juni 2025 beschließt die Bundesregierung, den
       [6][Familiennachzug für Menschen unter subsidiärem Schutz] in Deutschland
       für zwei Jahre auszusetzen. Das betrifft Uthman – und viele Syrer*innen,
       die in Deutschland leben. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn dürfen
       erst mal nicht zu ihm kommen. Uthman geht mit anderen Syrer*innen zu
       einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude, vor der Brust trägt er ein
       Schild. „Meine Kinder weinen“ steht darauf.
       
       Trotzdem hofft und wartet er weiter – auf eine Arbeitserlaubnis, darauf,
       dass er aus der Unterkunft ausziehen darf. Er belegt Sprachkurse, lernt
       lesen und schreiben, macht ein bisschen Ehrenamt: Müll sammeln, Ausflüge
       organisieren, solche Sachen. Manchmal schreibt er Gedichte, die er mit
       seiner Deutschlehrerin übersetzt. Und er spielt Schach und Tischtennis mit
       den anderen Männern aus der Unterkunft. Nur Fußball traut er sich nicht
       mehr zu. Das, glaubt er, macht sein Herz nicht mehr mit.
       
       16 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Fluechtlingslager-in-Eisenhuettenstadt/!6094971
 (DIR) [2] https://www.baff-zentren.org/publikationen/versorgungsberichte-der-baff/
 (DIR) [3] /Kommentar-Fluechtlingspolitik/!5233701
 (DIR) [4] /Sturz-des-Assad-Regimes/!6054210
 (DIR) [5] /Ein-Syrischer-Arzt-kehrt-zurueck/!6087230
 (DIR) [6] /Familiennachzug-ausgesetzt-/!6096907
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Luisa Faust
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Trauma
 (DIR) Flüchtlingspolitik
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Flüchtlingssommer
 (DIR) Syrischer Bürgerkrieg
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Migration
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Traumatisierte Geflüchtete: CDU und SPD wollen noch weniger psychotherapeutische Hilfe
       
       Nur ein Bruchteil der 990.000 Geflüchteten mit Traumafolgestörungen wird in
       Deutschland behandelt. Jetzt wird die Förderung noch einmal halbiert.
       
 (DIR) Zehn Jahre Welcome Dinner in Hamburg: Zusammen isst man weniger allein
       
       Seit 2015 bringt der Verein Welcome Dinner Menschen mit und ohne
       Fluchterfahrung an Esstischen zusammen – trotz der ablehnenden
       Migrationsdebatte.
       
 (DIR) Ankommen in Deutschland als Geflüchtete: Liebe auf den dritten Blick
       
       Geflüchtet sind sie vor rund zehn Jahren, aus Syrien, aus Afghanistan, aus
       dem Nordirak. Gelandet sind sie in Deutschland. Wie geht es ihnen heute?
       
 (DIR) Gewalt in Südsyrien: Syrien hat Suweida nicht im Griff
       
       Nach einer Woche Krieg mit über 900 Toten scheinen die Kämpfe beendet. Doch
       das Kernproblem bleibt ungelöst: Wer hat das Sagen – Staat oder Milizen?
       
 (DIR) Drusengebiet im Süden von Syrien: Syrische Armee beginnt mit Abzug aus Suwaida
       
       Nach Kämpfen, bei denen es wohl mehr als 350 Tote gab und Israel zugunsten
       der Drusen eingriff, verkündet US-Außenminister Rubio eine Waffenruhe.
       
 (DIR) Familiennachzug ausgesetzt: „Grausame Symbolpolitik“
       
       Für zwei Jahre dürfen bestimmte Geflüchtete ihre Familien nicht mehr
       nachholen. Die SPD tat sich schwer, aber stimmte am Ende zu – mit zwei
       Ausnahmen.
       
 (DIR) Deutsch-syrische Klinikpartnerschaften: Gesundheit für Syrien
       
       Nach dem Sturz Assads ist der Zustand der Krankenversorgung im Land
       desaströs. Kooperationen mit deutschen Partnern sollen helfen.
       
 (DIR) Syrische Ärzte in Deutschland: Sie werden dringend gebraucht
       
       Über 6.000 syrische Ärzt:innen arbeiten in Deutschland. Mit dem Sturz des
       Assad-Regimes wächst die Sorge der Krankenhäuser, dass sie zurückkehren.
       Ein Ortsbesuch.