# taz.de -- Psychiatrie-Chefarzt über Kündigung: „Ich habe das Ausmaß des Widerstands in Bremen unterschätzt“
       
       > Martin Zinkler wurde vor drei Jahren nach Bremen geholt, um die
       > Psychiatriereform wieder in Gang zu bringen. Jetzt verlor er den
       > politischen Rückhalt.
       
 (IMG) Bild: Zwang in der Psychiatrie: Es fehlt der wissenschaftlich fundiert Hinweis darauf, dass das hilft
       
       taz: Herr Zinkler, Sie sind als erklärter [1][Gegner von Zwangsmaßnahmen in
       der Psychiatrie] nach Bremen geholt worden. Dafür wurden Sie oft
       angegriffen und haben zuletzt den politischen Rückhalt verloren. 
       
       Martin Zinkler: Wenn ich eine ambulante Psychiatrie mache wie es die Bremer
       Bürgerschaft 2013 beschlossen hat, werden weniger Leute in der Klinik
       eingesperrt. Dann beschweren sich Polizisten, rechtliche Betreuer oder
       Richter. Dann fragt die Lokalzeitung: „Ist die geschlossene Psychiatrie
       noch sicher?“ Das ist anfangs überall so. Dahinter stecken alte Ängste vor
       den gefährlichen Menschen mit psychischen Erkrankungen.
       
       taz: Das sind nicht nur Ängste. [2][Es gibt Übergriffe], innerhalb und
       außerhalb der Psychiatrie. 
       
       Zinkler: Innerhalb der Psychiatrie haben die immer dieselbe  Ursache:
       Menschen werden gegen ihren Willen eingesperrt.
       
       taz: Der Weser Kurier hat suggeriert, die Übergriffe außerhalb der Klinik
       hätten seit Ihrem Dienstantritt zugenommen.
       
       Zinkler: Ich kenne keine Zahl, die das belegt. In den Artikeln wurde nur
       eine Anzahl der Polizeieinsätze genannt. Aber das ist nicht dasselbe wie
       Übergriffe. Die Zahl der Aufnahmen in die Notaufnahmen aufgrund von
       Polizeieinsätzen ist gesunken.
       
       taz: Welchen Fehler haben Sie gemacht? 
       
       Zinkler: Ich hätte von Anfang an die Widersprüche klar benennen müssen:
       „Wenn wir die Rechte der Betroffenen stärken, wird es Protest geben.“
       
       taz: Haben Sie das Ausmaß des Widerstands in Bremen unterschätzt? 
       
       Zinkler: Ja. Es gab keine Geschlossenheit über die Ausrichtung der
       psychiatrischen Dienste in Bremen. Unterschiedliche Auffassungen darüber
       waren der Grund, warum wir das Arbeitsverhältnis aufgelöst haben.
       
       taz: Worin bestehen die Unterschiede? 
       
       Zinkler: Es reicht nicht zu sagen, wir wollen eine regionale, ambulante,
       nichtdiskriminierende Psychiatrie. Man muss die andere Seite auch vertreten
       können.
       
       taz: Und das hat die Bremer Gesundheitssenatorin nicht getan? 
       
       Zinkler: Nein, am Ende nicht.
       
       taz: Was müsste in Bremen geschehen, um dem Ziel einer Psychiatrie, [3][wie
       sie die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt], näherzukommen? 
       
       Zinkler: Man müsste weitere Betten am zentralen Standort Bremen Ost abbauen
       und sie in die Regionen verlagern. Bisher gibt es das nur in Bremen Nord.
       Die Bremer Psychiatrie ist momentan eine Chimäre. Auf der einen Seite gibt
       es eine ambulante dezentrale Versorgung wie zum Beispiel im Bremer Süden,
       wo man denkt, wunderbar, genau so muss eine gemeindenahe Psychiatrie sein.
       Auf der anderen Seite sind wir eine ziemlich traditionelle psychiatrische
       Klinik mit geschlossenen Stationen, mit Regeln, mit institutionellen
       Bedingungen, die gerade diesen personenzentrierten Ansatz, den wir
       eigentlich verfolgen sollten, torpedieren.
       
       taz: Was ist das Problem mit traditionellen psychiatrischen Kliniken? 
       
       Zinkler: Solche Anstalten sind entstanden, um die Bevölkerung vor den
       gefährlichen psychisch Kranken zu schützen – und nicht um diesen zu helfen.
       Das geht auf die preußischen Polizeigesetze zurück, also auf eine Zeit, in
       der es die Psychiatrie noch gar nicht gab. Nur hat das nie funktioniert.
       Stattdessen haben sich Menschen vom psychiatrischen System abgewendet, weil
       sie ihm nicht vertrauen konnten – wegen der Gefahr eingesperrt zu sein.
       Hinter dem wohlmeinenden Gesicht der Hilfe stand immer das der Kontrolle
       und der Unterdrückung.
       
       taz: Sie haben bis zum heutigen Tag eine solche Anstalt geleitet. Konnten
       Sie die Zwangsbehandlungen reduzieren?
       
       Zinkler: Zwischen 2019 und 2023 sank die Zahl der Fixierungen um 60
       Prozent, die der Zwangsmedikation um 70 Prozent.
       
       taz: Warum ist das gut? 
       
       Zinkler: Es gibt keinen wissenschaftlich fundierten Hinweis darauf, dass
       Zwang helfen würde. Es ist aber gut bewiesen, dass Zwang schadet, seelisch
       und körperlich verletzt, bis hin zu Todesfällen. Zwangsbehandlungen führen
       außerdem zum Drehtüreffekt. Menschen, die im Krankenhaus gegen ihren Willen
       Medikamente bekommen, setzen sie sofort ab, wenn sie entlassen werden.
       
       taz: Wann nehmen Menschen freiwillig Medikamente? 
       
       Zinkler: Wenn sie Vertrauen haben. Und das gelingt besser zu Hause oder in
       ambulanten Einrichtungen. Dort, wo die Psychiatrie die stationären
       Behandlungsplätze drastisch reduziert hat, wie in Lille oder Triest, hat
       die Psychiatrie ihren Schrecken verloren. Dort braucht es Zwang nur noch
       sehr, sehr selten.
       
       taz: Warum ging das in Triest und hier nicht? 
       
       Zinkler: Das war eine andere Zeit in Triest, zwischen 1971 und 1978, da gab
       es in der Gesellschaft eine Bereitschaft, solche Reformen durchzuführen.
       Heute ist Psychiatrie kein Thema.
       
       taz: Ich finde schon. Es wird viel über das Für und Wider von Zwang
       gesprochen. Und psychische Erkrankungen sind medial sehr präsent. 
       
       Zinkler: Ja, da gibt es eine emanzipatorische Bewegung, aber die kommt von
       den Leuten, die eher wenig Probleme haben.
       
       taz: Und umso mehr Hilfe bekommen? 
       
       Zinkler: In Ländern mit einem staatlichen Gesundheitssystem werden die
       Ressourcen solidarischer verteilt. Wer viel braucht, bekommt dort viel,
       also die Schwerkranken. Hier bekommen die am meisten, die am lautesten
       rufen. [4][Die anderen können das entweder nicht oder tun es nicht, weil
       sie kein Vertrauen ins System haben.]
       
       taz: Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Zinkler: Es landen sehr wenige Leute mit Psychosen bei Psychotherapeuten.
       Das ist weder mit der Häufigkeit dieser Störungen in Einklang zu bringen,
       noch mit den medizinischen Leitlinien.
       
       taz: Ein Argument für mehr Zwang ist, dass die Agressivität psychisch
       Kranker zugenommen hat. 
       
       Zinkler: Das stimmt ein Stück weit. Vor allem sind weltweit in den meisten
       Ländern die Unterschiede zwischen Arm und Reich deutlich größer geworden.
       
       taz: Armut macht psychisch krank? 
       
       Zinkler: Nein. Die Forschung ist ziemlich eindeutig: Krank machen die
       Unterschiede, sie bedingen auch die Raten von Suchtmittelmissbrauch.
       
       taz: Warum ist das so? 
       
       Zinkler: Meine Vermutung ist, dass die einen krank werden aufgrund der
       Unzufriedenheit und Machtlosigkeit in ihrer marginalisierten Lage. Die
       anderen haben Angst davor, dass ihnen etwas genommen wird. Angst macht
       krank.
       
       taz: Was haben Sie in den dreieinhalb Jahren in Bremen erreicht? 
       
       Zinkler: Wir haben fünf gemeindepsychiatrische Zentren geschaffen, mit
       jeweils dem Sozialpsychiatrischen Dienst, einer Ambulanz, der Möglichkeit
       des Home Treatments und einer Tagesklinik vor Ort. Und wir haben die
       finanziellen Voraussetzungen für eine regionale ambulante Versorgung aus
       der Klinik heraus geschaffen, indem wir Verträge mit allen Kassen, auch für
       Privatversicherte, abgeschlossen haben. [5][Solche Regionalbudgets, die
       eine Versorgung nach dem individuellen Bedarf ermöglichen], gibt es so an
       nur 20 Orten in Deutschland, Bremen ist die einzige Großstadt.
       
       taz: Ich habe gehört, dass die Zentren fast nur Menschen aufnehmen können,
       die vorher stationär untergebracht waren. 
       
       Zinkler: Das stimmt nicht. Die Hälfte der ambulanten Aufnahmen ins Home
       Treatment kommen von der Station, die andere Hälfte sind Notfälle.
       
       taz: Aber es scheint Menschen zu geben, die Mitarbeitende für Notfälle
       halten und die sie vertrösten müssen. 
       
       Zinkler: Wer nicht so schwer erkrankt ist, dass eine stationäre Aufnahme
       droht, kann nicht von uns behandelt werden. Aber alle
       sozialpsychiatrischen Dienste haben offene Sprechstunden, wo man
       Informationen über Hilfsangebote bekommt und eine Beratung. Aber keine
       20-stündige Psychotherapie, die sofort beginnt.
       
       taz: Sind Sie eigentlich traurig, dass Sie gehen? 
       
       Zinkler: Ja, und wütend!
       
       taz: Was bleibt? 
       
       Zinkler: Wunderbare Begegnungen mit Mitarbeitenden und Menschen, die hier
       bei uns in der Klinik waren.
       
       taz: Haben Sie die als Chefarzt so oft erlebt? 
       
       Zinkler: Ja. Etwas Besonderes waren die Wochenenddienste. Bei den Visiten
       vormittags habe ich die Leute gesprochen, die nachts gekommen sind, alle
       mit der Polizei. Das erste, was ich denen gesagt habe, war: „Es tut mir
       leid, dass Sie hier mit der Polizei reingebracht wurden.“
       
       taz: Und das zweite? 
       
       Zinkler: „Was wünschen Sie sich von der Behandlung?“ Dann sagen natürlich
       viele: „Ich will gar nichts von Ihnen, ich will hier raus.“ Und dann habe
       ich gesagt: „Dann sollten wir uns darüber unterhalten, wie Sie möglichst
       schnell wieder entlassen werden können.“
       
       taz: Warum ist das wichtig? 
       
       Zinkler: Zum einen darf man nicht die Freiheit entziehen, ohne einen Weg
       zurück zu zeigen. Und man muss anerkennen, dass den Menschen etwas
       Schlimmes passiert ist.
       
       taz: Die Menschen sind nicht grundlos zwangseingewiesen worden… 
       
       Zinkler: Sie wurden als Gefährdung wahrgenommen. Aber es ist nichts
       Schlimmeres passiert. Sonst wären sie in der Forensik gelandet.
       
       taz: Der geschlossenen Unterbringung für Straftäter. 
       
       Zinkler: Das wird oft mit der geschlossenen Akutstation verwechselt. Auch
       in Medien.
       
       taz: Warum ist die Anerkennung des Erlebten wichtig? 
       
       Zinkler: Nur so öffnet sich die Tür zu einem Gespräch. An dem Punkt beginnt
       die psychiatrische Arbeit.
       
       taz: Setzen Sie die an anderer Stelle fort? 
       
       Zinkler: Ich bleibe in Bremen. Aber ich weiß noch nicht, was ich beruflich
       machen werde.
       
       20 Dec 2024
       
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