# taz.de -- Neues Buch von Boualem Sansal: Die Islamisierung der Gesellschaft
       
       > In „2084 – Das Ende der Welt“ entwirft der algerische Schriftsteller
       > Boualem Sansal das dystopische Bild des fiktiven islamistischen Landes
       > Abistan.
       
 (IMG) Bild: Dort könnte 2084 Abistan sein
       
       Boualem Sansal entwirft in seinem neuestem Werk „2084 – Das Ende der Welt“
       eine völlig kontrollierte Gesellschaft. Der Träger des Friedenspreises des
       Deutschen Buchhandels nimmt den Faden seines berühmten Kollegen George
       Orwell auf und spinnt ihn gekonnt ein ganzes Stück weiter. Was dabei
       entsteht, ist „Abistan, ein wahrer Wahn“. Der algerische Schriftsteller
       Sansal beschreibt ein düsteres Reich, einen Überwachungsstaat, der keine
       Technik braucht. Denn es ist die Religion, die für die Herrschenden alles
       regierbar macht und dafür sorgt, dass alle regierbar bleiben.
       
       „Ich glaube, dass das Zeitalter der Politik an ihr Ende gekommen ist. Wir
       sind längst in die Zeit der Religion eingetreten“, sagt Sansal, danach
       gefragt, was ihn dazu bewegte, diesen Roman zu schreiben. „In der
       muslimischen Welt hat die Religion die Politik und alles, was von ihr
       abhängt, wie Wirtschaft und Soziales, bereits verdrängt.“ In „2084“ nehmen
       Sansals Befürchtungen aus dem Essay „Allahs Narren – Wie der Islamismus die
       Welt erobert“ weiter Form an. „ ‚2084‘ erzählt davon, dass die Religion der
       Politik den Krieg erklärt hat und alle Möglichkeiten hat, ihn zu gewinnen“,
       sagt Sansal.
       
       Anders als in Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ findet die
       Islamisierung der Gesellschaft bei Sansal nicht als unterschwelliger,
       allmählicher Prozess statt, sondern durch ein gewalttätiges
       Aufeinanderprallen der gesellschaftlichen Entwürfe. Der Char – der letzte
       große und globale Heilige Krieg – bringt die Welt von 2084 hervor. Alle
       huldigen Yöllah und seinem Entsandten Abi. Dieser ist der Gründer der
       „Gerechten Brüderlichkeit“, die das Reich Abistan mit seinen 60 Provinzen –
       eine für jeden Abschnitt des Korans – regiert.
       
       Zunächst scheint niemandem die Bedeutung der Jahreszahl 2084 so richtig
       klar zu sein. Ist es das Datum, an dem der Char gewonnen wurde? Hat sie mit
       dem Leben Abis zu tun? „Wie auch immer“, so heißt es in dem Roman, „2084
       war ein Gründungsdatum für das Land, auch wenn niemand wusste, worauf es
       verwies.“
       
       Die Zahl wird in der Fiktion heilig, überhöht wie in Sansals wirklich
       existierendem Nordafrika die Jahrestage der Befreiung vom Kolonialismus.
       „Man addiert, subtrahiert, multipliziert“ – der Zahlenkult in Sansals Roman
       erinnert nicht von ungefähr an die Verherrlichung der 7 in Tunesien und
       damit des 7. November 1987 – des Tages, an dem der Diktator und das erste
       Opfer des Arabischen Frühlings, Ben Ali, einst die Macht an sich riss.
       
       ## Neusprak Abilang
       
       Abi und das von ihm auf Geheiß Yöllahs verfasste Heilige Buch Gkabul formen
       das Weltbild der Bewohner Abistans. Sie reden die Sansal’sche Neusprak
       Abilang, sammeln Punkte für eiferndes Verhalten, denunzieren Nachbarn und
       Kollegen. Das Reisen ist außer bei Wallfahrten verboten. Einziges
       Freizeitvergnügen sind die großen Gebete, Opferfeste, Selbstauspeitschungen
       und Massenhinrichtungen von Renegaten und Ungläubigen im Stadion. Riesige
       Bilder Abis hängen überall.
       
       Diese Welt richtet sich – ähnlich wie die von „1984“ – nach Leitsätzen. Dem
       Orwell’schen Glaubensbekenntnis – „Krieg ist Frieden“ „Freiheit ist
       Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“ fügt Sansal eigene Leitsätze
       hinzu: „Tod ist Leben“ – „Lüge ist Wahrheit“ und „Die Logik ist das
       Absurde“.
       
       In dieser Welt der absoluten Kontrolle und Gehirnwäsche beginnt Ati, ein
       Beamter aus der Hauptstadt Qodsabad, dennoch zu zweifeln. Weit ab, in einem
       isolierten Sanatorium in den Bergen, wo er eine Krankheit auskuriert, hat
       er viel Zeit nachzudenken. Er hört die Gerüchte von einer verbotenen Straße
       über die Berge und einer Grenze. Das wirft sein gesamtes Weltbild um. „Die
       Existenz einer Grenze war erschütternd. Die Welt war also geteilt. [. . .]
       Was gibt es auf der anderen Seite?“
       
       Einmal dem Zweifel und der Reflexion verfallen, sieht Ati überall Zeichen,
       die belegen, dass nicht alles stimmen kann, an was er bisher glaubte. Wieso
       gibt es Ghettos mit Renegaten? Woher kommt die Technik zur Kriegsführung
       gegen eben sie und woher die Fahrzeuge der Mächtigen und Reichen, wenn sie
       doch niemand in Abistan produziert?
       
       Zurück in Qodsabad, beginnt Ati nachzuforschen, trifft auf einen Sammler
       von Gegenständen aus der Zeit vor Abistan. Dieser pflegt Gebräuche und
       frönt Genüssen längst vergangener Zeiten. Ati lernt einen Archäologen
       kennen, der die Ruinen eines Dorfes erforscht, das – obwohl vom Regime
       geschickt umgedeutet – aus einer anderen Kultur stammen muss. Ati dringt
       schließlich in die verbotene Stadt mit ihrem Regierungsbezirk und der von
       überall her sichtbaren, strahlenden Pyramide vor, blickt hinter die
       Kulissen und wird in Machtkämpfe der Clans um die Brüder aus der Führung
       verwickelt.
       
       ## Ein dicht gewobenes, philosophisches Essay
       
       „2084“ ist trotz dieser Handlung eines der nüchternsten Werke Sansals.
       Anders als „Der Schwur der Barbaren“ oder „Das verrückte Kind aus dem
       hohlen Baum“ fehlen die aus Lateinamerika entlehnten Stilmittel des
       magischen Realismus völlig. Über lange Strecken ist „2084“ viel mehr ein
       dicht gewobenes, philosophisches Essay, das der Frage nachgeht, wie
       Zweifel, wie Widerspruch entsteht und was diese Opposition – die im
       Sansal’schen Sinne immer Opposition zu allem zu sein hat – erreichen kann.
       
       Ati sinniert über Regime und Glauben und kommt zu erstaunlichen Schlüssen.
       Niemand wird zum Glauben gezwungen: „Man zwang [. . .] das Verhalten des
       perfekten Gläubigen auf, das ist alles.“ Es geht also nur um Formen, um
       Äußerlichkeiten und nicht um die Verfolgung des Unglaubens als solchen.
       Doch warum?
       
       Die Antwort, zu der Ati kommt, lässt sein gesamtes Weltbild wanken. „Der
       Mensch kann sich nur vom Glauben befreien, indem er sich auf einen anderen
       stützt. [. . .] Denn wenn man an eine Idee glaubt, kann man auch an eine
       andere glauben.“ Glauben kann also den Zweifel nähren. Denn „man kennt das
       Gute nur, wenn man vom Bösen weiß“. Der Gläubige führt – so die
       Schlussfolgerung Atis – ein „Leben im Gegensatz antagonistischer Kräfte“.
       Und das ist gefährlich für das Regime: Denn „in jedem wird ein seltsamer
       und widerspenstiger Geist eingepflanzt“. Ati entwickelt ein Gespür für
       Konzepte wie Freiheit und Demokratie.
       
       ## Ati erinnert an Sansal
       
       Dieser Ati in der Abgeschiedenheit des Sanatoriums erinnert nur allzu oft
       an den Beamten Boualem Sansal der 1990er Jahre – eingeschlossen in seinem
       Haus in der Kleinstadt Boumerdes in den Jahren des blutigen algerischen
       Konflikts. Damals, als die Gewalt überall drohte und er nicht zur Arbeit in
       das etwa eine halbe Autostunde entfernte Industrieministerium in Algier
       fahren konnte, entdeckte Sansal das Schreiben.
       
       Er nutze die Zeit zum Nachdenken, verarbeitete das, was sein Leben und
       damit sein bisheriges Erleben nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen
       Frankreich war: „Die Entwicklung Algeriens, nach der
       militärisch-polizeilichen Diktatur der 60er und 70er Jahre hin zur
       Explosion des Islamismus in den 80ern, dem Bürgerkrieg in den 90ern bis zum
       heutigen Hybridsystem, dem Ergebnis eines abgekarteten Spiels zwischen
       einem Polizeiregime, das den Staat in der Hand hält, und den Islamisten,
       die die Bevölkerung kontrollieren.“
       
       „Das Schlechte hat in Algerien gesiegt“, lautet Sansals Schlussfolgerung,
       die ihn seit damals zum Schreiben treibt. „ ‚2084‘ greift alle Themen auf,
       die wir in muslimischen Ländern vorfinden: Die Religion, die Clans, die
       Stammesstrukturen, die Gewalt, die Unordnung . . .“, erklärt Sansal und
       lässt auch Ati sich in dieser Welt der rivalisierenden Gruppen, dem
       ständigen Chaos, das doch für Stabilität sorgt, verstricken.
       
       ## Die Garantie, zu gewinnen
       
       „Für die Macht bestand das Mittel, ihren Konservatismus zu bewahren, darin
       [. . .] selbst diese Opposition zu schaffen und sie dann von echten
       Oppositionellen tragen zu lassen, die sie schaffen und notfalls ausbilden
       und sich dann damit beschäftigen würde, sich vor ihren eigenen Opponenten
       zu schützen, [. . .] Sein eigener Feind sein ist die Garantie, in jedem
       Fall zu gewinnen.“
       
       Sansal hat den Glauben an eine Veränderung hin zur Freiheit verloren. „Die
       Diktatur kann den Zweifel nicht verhindern, aber das Volk nutzt diese
       Fähigkeit, zu zweifeln, nicht immer in positiven Sinne“, begründet Sansal
       seinen Pessimismus, der in „2084“ zum Ausdruck kommt. „In der muslimischen
       Welt zweifeln die Menschen wie überall sonst auch, aber sie werfen sich
       dann der Religion noch mehr in die Arme, werden fanatisch.“
       
       So verwundert es nicht weiter, dass „2084“ im Literarischen keine wirkliche
       Lösung, keinen Ausweg für das Politische aufzeigt. Auch Sansals Figur Ati
       verliert schließlich die Hoffnung auf eine kollektive Veränderung und sucht
       die Grenze, den Weg in die Welt jenseits von 2084. Einen Schritt, den
       Sansal für sich persönlich bisher immer wieder verneint hat.
       
       2 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reiner Wandler
       
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