# taz.de -- Neal Stephensons Buch „Error“: Der Nerd mit dem Röntgenblick
       
       > Lektionen in Goldfarming: Im dicht recherchierten Actionthriller „Error“
       > analysiert Neal Stephenson virtuos die Mechanismen der digitalen Welt.
       
 (IMG) Bild: Diablo-III-Spieler: Freizeitspaß oder Goldfarming?
       
       Die letzten 100 Seiten herrscht Krieg. Ein kleinteiliger, zermürbender
       Stellungskrieg im schroffen Grenzgebirge zwischen British Columbia und
       Idaho, mit gerade einmal rund zwanzig Beteiligten. Dschihadisten,
       christlich-fundamentalistische US-Hinterwäldler, Geheimdienstmitarbeiter
       und mehrere durch eine Verkettung von Zufällen in diesen Schlamassel
       geratene Personen, darunter ein ungarischer Programmierer und eine
       chinesische Teeverkäuferin, kämpfen in dieser Schlacht, die mit
       überwältigender Präzision beschrieben wird, wie so vieles in diesem Buch.
       
       Die Ursache für das blutige Finale von Neal Stephensons „Error“ ist ein
       Phänomen, das sich Goldfarming nennt – und das es wirklich gibt. Es ist
       eines dieser vielen irren Geschäftsmodelle, die nur die evolutionäre, alle
       Nischen ausnutzende Energie des Kapitalismus hervorbringen kann: In
       Multiplayer-Online-Games, das bekannteste davon ist „World of Warcraft“,
       erspielen sich Menschen – zu bedeutenden Teilen asiatische Teenager – in
       Akkordarbeit Gold und Gegenstände, um das alles dann in der echten Welt für
       echtes Geld zu verkaufen. Fünf Dollar für eine seltene Axt sind für Gamer
       in den USA, die in ihrer knappen Zeit ihren Spielspaß optimieren wollen,
       ein Taschengeld. Für einen Chinesen sind sie ein Tageslohn.
       
       Heute soll sich das jährliche Goldfarming-Marktvolumen im dreistelligen
       Millionenbereich bewegen. Die Spielehersteller dulden das Phänomen
       allenfalls als Nebeneffekt, die chinesische Regierung wollte es schon 2009
       unterbinden. Schlagzeilen, laut denen chinesische Häftlinge von ihren
       Wärtern zum Goldfarmen gezwungen wurden, sind sicher mit dafür
       verantwortlich. In den USA verbot eBay 2007 den Verkauf von
       World-of-Warcraft-Gütern.
       
       Definitiv ein Thema für ein Buch. Bereits vor zwei Jahren legte Cory
       Doctorow, Autor, Digital-Rights-Aktivist und in den USA populärer Blogger
       bei [1][boingboing.net], seinen Jugendroman „For the Win“ vor. Darin
       beschreibt er, wie sich ausgebeutete Goldfarmer gegen ihre Bosse erheben,
       eine Gewerkschaft gründen und gleichzeitig die Spielefirmen reinlegen. „For
       the Win“ ist rasant geschrieben, mit vielen klugen Einblicken in
       ökonomische Zusammenhänge, leidet aber unter etwas zu viel Pathos und
       deutlich zu wenig sprachlicher Finesse.
       
       Da spielt „Error“, das am Dienstag auf Deutsch erscheint, schon einige
       Gewichtsklassen höher. Autor Neal Stephenson wurde Anfang der neunziger
       Jahre dank „Snow Crash“ und „Diamond Age“ zu einem der wichtigsten
       Vertreter des Cyberpunks, jenem düsteren, antiutopischen Subgenre der
       Science-Fiction, das vor rund einem Vierteljahrhundert seine kurze
       Blütezeit hatte und beispielsweise William Gibsons Roman „Neuromancer“ und
       Ridley Scotts Film „Blade Runner“ hervorbrachte.
       
       In „Snow Crash“ skizzierte Stephenson mit dem Multiversum eine 3-D-basierte
       Online-Community und griff dem 15 Jahre später gehypten Second Life vor –
       auch die Verwendung von „Avatar“ für das Online-Selbst geht auf das Buch
       zurück. Neben einer actionreichen Story um einen
       Pizzalieferanten/Schwertkämpfer steigt Stephenson hier tief in Linguistik,
       Meme-Theorie und sumerische Mythologie ein.
       
       ## Turing-Maschinen und Nanotechnologie
       
       „Diamond Age“ handelt von einer interaktiven Kinderfibel, aber auch von
       Turing-Maschinen, Nanotechnologie, Materie-Compilern und der Macht der
       Informationsfreiheit. In beiden Büchern wird überdies eine
       anarchokapitalistische Gesellschaftsform beschrieben, in der Staaten nicht
       mehr aus zusammenhängenden Territorien bestehen, sondern aus vielen
       winzigen, über den ganzen Erdball versprengten Einzelteilen.
       
       Eine derart visionäre Kraft hat „Error“ bei weitem nicht, ist nicht einmal
       Science-Fiction im klassischen Sinne, sondern spielt in einem alternativen
       Jetzt. Dort beginnt das Buch mit einer wuchtigen Ouvertüre, einer
       Schießübung am Rande einer Thanksgiving-Familienfeier im ländlichen Iowa,
       bei der mit Richard und Zula Forthrast die beiden wichtigsten der diversen
       Hauptfiguren eingeführt werden.
       
       Richard, Endfünfziger, hochintelligenter Einzelgänger und Entrepreneur, ist
       das schwarze Schaf des Forthrast-Clans. In den Siebzigern floh er vor
       seiner Armeeeinberufung nach Kanada und wurde durch Haschischschmuggel
       reich, inzwischen besitzt er ein Schloss mit angeschlossenem Skiresort und
       hat mit T’Rain eines der erfolgreichsten Online-Rollenspiele überhaupt
       erfunden – ein Spiel, in dem der Nebeneffekt des Goldfarmings zum
       Hauptprinzip gemacht wird.
       
       Zula, Richards Nichte, wurde als eritreisches Flüchtlingskind vom
       Forthrast-Clan adoptiert und kommt nach der Familienfeier bei T’Rain als
       Programmiererin unter. Sie ist ein stolzer und in vielerlei Hinsicht
       starker Frauencharakter – nicht der einzige in diesem Buch und in
       Stephensons Romanen überhaupt.
       
       ## Decodierung gegen Cash
       
       Auslösendes Element für rund tausend Seiten Spannung ist nun ein
       Computervirus – „Reamde“, so lautet übrigens auch der englische
       Originaltitel des Buches. Reamde hackt sich via T’Rain in die Rechner der
       Spieler ein und verschlüsselt dort Dateien. Das Lösegeld für eine
       Decodierung, T’Rain-Gold im Wert von 73 Dollar, muss persönlich im Spiel
       hinterlegt werden.
       
       In der T’Rain-Welt hat das zur Folge, dass auf einmal Zehntausende Spieler
       in ein eigentlich unscheinbares, von einer Gruppe Chinesen kontrolliertes
       Gebirge aufbrechen. Natürlich kommen bald auch Räuber dorthin, die den
       Spielern das Lösegeld vorher abnehmen wollen, und Söldner, die den Spielern
       wiederum anbieten, sie vor den Räubern zu schützen, und im ganzen
       Durcheinander bekommt ein ohnehin tobender Koalitionskrieg in T’Rain eine
       neue Wendung.
       
       In der echten Welt gelangt das Virus derweil auf den Rechner eines
       russischen Mafioso. Der schwört, die Verursacher zu töten, und setzt so
       eine Kettenreaktion in Gang, die neben Zula und Richard noch rund ein
       Dutzend weiterer Haupt- und Nebencharaktere bis zur letzten Seite in Atem
       hält. Nicht alle werden überleben.
       
       In seinem Wesen ist „Error“ also ein Actionthriller, doch Stephensons
       weitschweifende Nebengedanken geben dem Buch Tiefe. Neben den
       Hintergrundgeschichten seiner Protagonisten beschreibt er auch die
       Firmenpolitik von T’Rain äußerst detailliert und durchaus amüsant. So wird
       ein junger Autist mit Programmier- und Geologie-Kenntnissen ausfindig
       gemacht, der in der Lage ist, „echte“ Berge zu programmieren – also nicht
       Designerberge, bei denen unter einer dünnen Pixeltextur nichts mehr ist,
       sondern das Ergebnis einer Simulation von mehreren Milliarden Jahren
       Plattentektonik, vulkanischer Aktivität und Wetter. Und als zwei
       Fantasyautoren angestellt werden, um die noch leere Welt mit einer
       Geschichte zu füllen, zerstreiten sie sich schon beim ersten Treffen:
       Mehrere Seiten lang belehrt der Oxford-Professor den amerikanischen
       Pulp-Literaten über die korrekte Verwendung von Apostrophen in der fiktiven
       Sprache T’Rains.
       
       ## Rechercheintensives Detailreichtum
       
       Dieser rechercheintensive Detailreichtum ist typisch für den 52-jährigen
       Stephenson, der eine Art Universalgelehrter ist. Sein Vater war Professor
       der Elektrotechnik und seine Mutter Biochemikerin, er selbst studierte
       Physik und Geografie. In seinem über 3.000 Seiten starken „Barock-Zyklus“
       thematisierte Stephenson die Entstehung der Wissenschaften und des heutigen
       Geldverkehrssystems im ausgehenden 17. Jahrhundert, in „Cryptonomicon“
       widmete er sich den Kryptologiesystemen im Zweiten Weltkrieg. Für dieses
       Buch wurde eigens ein Verschlüsselungsalgorithmus entwickelt.
       
       Heute arbeitet Stephenson unter anderem als Wissenschaftsjournalist und
       beschäftigt sich in seinem Project Hieroglyph damit, wie Forscher und
       Science-Fiction-Autoren gemeinsam eine stärkere visionäre Kraft entwickeln
       können.
       
       In „Error“ geht es daher nie nur darum, wie die Dinge sind, sondern vor
       allem, wie sie funktionieren, seien es internationale Flugrouten,
       Farbschemata oder Schusswaffen, auch in die zahlreichen Actionsequenzen und
       Verfolgungsjagden wird immer noch eine zweite, analysierende Ebene
       eingezogen. Dieser Drang, immer die den Dingen zugrunde liegenden
       Mechanismen abzubilden, macht „Error“ so stark. Das – und die ambivalenten
       Charaktere, der wendungsreiche Plot und die Sprachmacht Stephensons.
       
       Neal Stephenson: „Error“. Aus dem Englischen übersetzt von Juliane
       Gräbener-Müller, Nikolaus Stingl Manhattan Verlag, 1.024 Seiten, 24,99 Euro
       
       16 Oct 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://boingboing.net
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Brake
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Mond
 (DIR) Serie
 (DIR) Punk
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neal Stephensons neuer Roman: 5.000 Jahre später
       
       Der Mond ist kaputt, die Erde wird unbewohnbar. In „Amalthea“ schickt Neal
       Stephenson die Überlebenden hoch hinaus und tief hinunter.
       
 (DIR) Online-Game und TV-Serie „Defiance“: Postapokalyptisches Multikulti
       
       Ein Novum: Die Serie „Defiance“ kommt auch als Online-Game auf den Markt.
       Doch überzeugend ist die Verquickung noch nicht.
       
 (DIR) Der Jungbrunnen des Punk: Es gibt kein Morgen
       
       Stürmisch, aber nicht grob: Kalifornische Künstler wie Ty Segall, Dum Dum
       Girls oder Thee Oh Sees befeuern die Energie des Punk.
       
 (DIR) Neues Spiel „Medal of Honor Warfighter“: Sauberer Pixel-Krieg
       
       Beim neuen Spiel „Medal of Honor“ arbeiten die Entwickler eng mit dem
       Militär zusammen. Sie verharmlosen damit den Krieg.