# taz.de -- Historiker über Vertriebenen-Streit: "Da kann ich als Pole nicht helfen"
> Polen und Deutsche haben sich längst versöhnt, sagt der polnische
> Historiker Tomasz Szarota. Jetzt geht es um die Versöhnung der Deutschen
> mit sich selbst.
(IMG) Bild: Erinnern an die Vertreibung der Deutschen: Erika Steinbach in der Ausstellung "Erzwungene Wege".
taz: Herr Szarota, sind Sie sehr verbittert?
Tomasz Szarota: Verbittert? Nein, gar nicht. Wieso?
Sie wollten an einem Museumsprojekt in Berlin mitarbeiten, das sich - neben
den Themen "Flucht, Vertreibung" - die "Versöhnung" zum Ziel gesetzt hat.
Szarota: Ja, ich wollte zeigen, dass wir Polen uns durchaus in das
Schicksal derjenigen Deutschen hineinfühlen können, die 1945 ihre Heimat im
Osten verloren haben. Die zu den letzten Opfern Hitlers gehörten und für
den Krieg bezahlen mussten, den die Deutschen selbst begonnen hatten.
Warum haben Sie dann nun das Handtuch geworfen?
Ich habe nicht das Handtuch geworfen! Mir ist nur klar geworden, dass es
bei dem Projekt gar nicht um die Versöhnung mit den Polen geht. Diese Phase
haben wir ja auch längst hinter uns. Nein, es geht um die Versöhnung der
Deutschen mit sich selbst. In Deutschland gibt es Menschen, die bis heute
das Gefühl haben, als Flüchtlinge und Vertriebene in eine "kalte Heimat"
gekommen zu sein. Sie fordern von der Mehrheitsgesellschaft Mitleid ein. Da
kann ich als Pole nicht helfen. Das müssen die Deutschen schon unter sich
ausmachen.
Aber Sie wurden doch als Pole eingeladen. Also geht es den Deutschen doch
um die deutsch-polnisch Versöhnung?
Ich dachte das zunächst auch. Hans Ottomeyer, der Direktor des Deutschen
Historischen Museums, dachte das sicher auch, als er mich im Juli 2009 bat,
Mitglied des Wissenschaftlichen Beraterkreises zu werden. Schließlich
wissen alle, dass ich mich mein ganzes Leben lang für die Versöhnung mit
den Deutschen eingesetzt habe. So wie auch schon meine Mutter und meine
Großmutter. Dabei war das nicht selbstverständlich. Die Deutschen
erschossen gleich zu Kriegsbeginn meinen Vater, sodass ich ihn nie
kennengelernt habe. Ich bin in den Ruinen von Warschau aufgewachsen. Schon
als Kind wusste ich, dass die Deutschen fünf bis sechs Millionen polnische
Staatsbürger ermordet hatten. Dennoch habe ich Deutsch gelernt, bin
Spezialist für den Zweiten Weltkrieg und die deutsch-polnischen Beziehungen
geworden.
Wann haben Sie bemerkt, dass es bei der Stiftung "Flucht, Vertreibung,
Versöhnung" gar nicht um die deutsch-polnische Versöhnung geht?
Auf der ersten Sitzung des Beirats. Bis auf die Publizistin Helga Hirsch
kannte ich dort niemanden. Es war kein einziger Wissenschaftler da - weder
von den jüngeren noch von den älteren -, mit dem ich bisher
zusammengearbeitet hatte.
Das muss ja noch nichts heißen.
In diesem Fall doch. Denn in diesem neunköpfigen Kreis sitzen lauter
Deutsche, die auch dem Wissenschaftlichen Beirat des Zentrums gegen
Vertreibungen angehören. Die also dem Bund der Vertriebenen (BdV)
nahestehen. Sogar Hans Maier, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen
Beraterkreises, ist offizieller Unterstützer des BdV-Zentrums. Ebenso
Krisztián Ungváry oder Peter Becher. Da sitzt kein einziger Forscher, der
sich kritisch mit dem verqueren Geschichtsbild, den überhöhten Opferzahlen
oder der braunen Vergangenheit vieler BdV-Funktionäre beschäftigen würde.
Es ist einfach so: Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist ein
Klon des Zentrums gegen Vertreibungen.
Und Sie wollten nicht das Feigenblatt sein?
Genau. Mit dem Versöhnungskonzept des BdV kann ich nichts anfangen.
Wie sieht das aus?
Es beruht auf der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August
1950. Darin verzichten die Flüchtlinge auf "Rache und Vergeltung". So als
hätten sie ein Recht auf Rache. Dabei haben die Deutschen den Krieg
begonnen. 1945 mussten Deutsche und Polen ihre Heimat im Osten verlassen -
als Folge des von den Deutschen angezettelten Krieges. Abgesehen von all
den Verbrechen, die die Deutschen während des Krieges begangen haben, heißt
es dann noch in der Charta: "Die Völker der Welt sollen ihre
Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid
dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden." Das ist einfach nur
zynisch, wenn man bedenkt, was die Deutschen den Juden, Polen, Russen und
vielen anderen Opfern angetan haben.
Schon der Publizist Ralph Giordano hat die Vertriebenen-Charta kritisiert.
Und hat den Unterstützerkreis des Vertriebenenzentrums verlassen, ebenso
wie die Historiker Micha Brumlik vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt und
Mosche Zimmermann von der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Wussten Sie das nicht, als Sie Ihre Teilnahme am Wissenschaftlichen
Beraterkreis zugesagt haben?
Ich hatte einen gewissen Verdacht, aber mir war nicht klar, dass sich die
Bundesregierung das Geschichtsbild des BdV so sehr zu eigen gemacht hat,
dass Personal und Konzept des Zentrums gegen Vertreibungen einfach
übernommen werden. Manfred Kittel, der Direktor der Stiftung, hat dies vor
kurzem im Spiegel-Interview ganz klar gesagt. Es geht um die Gestaltung der
deutschen Erinnerungskultur. Er selbst hat ein Buch geschrieben mit dem
Titel "Vertreibung der Vertriebenen?". Das sagt doch alles.
Was für eine Rolle spielte der offene Brief des CDU-Europaabgeordneten
Daniel Caspary an Außenminister Guido Westerwelle?
Der Brief ist einer der Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten.
Außer Caspary haben diesen widerlichen Brief 16 EU-Parlamentarier der
CDU/CSU unterschrieben. Caspary fragt darin, ob der Bundesregierung
"Erkenntnisse" vorliegen über "mögliche Taten, Aktivitäten oder Äußerungen"
der künftigen polnischen Partner der Stiftung. Und ob diese Taten einer
Zusammenarbeit mit den Deutschen entgegenstehen könnten. Das ist infam und
antipolnisch.
Wie soll es jetzt weitergehen?
Die Deutschen haben sich mit dieser Stiftung in eine Sackgasse manövriert.
Ob mit Steinbach oder ohne - das künftige Museum wird Schaden in den
deutsch-polnischen Beziehungen anrichten. Vor allem als staatliches Museum.
In der heutigen Situation wäre es am besten, der Forderung von Steinbach
nachzugeben und die Stiftung aus dem Verbund mit dem Deutschen Historischen
Museum herauszunehmen. Soll doch der BdV sein eigenes kleines Museum in
Berlin bauen!
Zurück an den Start? Das wäre doch die Rückkehr zum Zentrum gegen
Vertreibungen?
Der Protest der Polen hat den Deutschen klargemacht, dass an dem
Geschichtsbild des Vertriebenenbundes etwas nicht stimmen kann. Wir haben
unsere Aufgabe erfüllt. Nun müssen sich alle Deutschen fragen, wer
eigentlich die "vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen" sind. Die
Deutschen selbst? Oder doch die Juden? Die Polen, die Russen? Vielleicht
wäre ein Museum in Berlin gar nicht schlecht, in dem die Deutschen mit sich
selbst ins Reine kommen könnten. Die Ausstellung des Deutschen Historischen
Museums "Flucht, Vertreibung, Integration" könnte als Vorbild dienen. Auch
für den Namen des künftigen Museums übrigens. Das Wort "Versöhnung" sollte
man streichen. Es ist missverständlich. "Integration" ist viel
angemessener. Diejenigen Polen und Deutschen hingegen, die sich schon lange
versöhnt haben, könnten das "Europäische Netzwerk Erinnerung und
Solidarität" aktivieren und gemeinsame Veranstaltungen planen. Auch das in
Danzig geplante Museum des Zweiten Weltkriegs wäre ein idealer Ort für eine
gute Zusammenarbeit.
Was aber, wenn die Deutschen dem Einfluss des BdV erliegen und tatsächlich
zu dem Schluss kommen, dass die Deutschen neben den Juden die eigentlichen
Opfer des Zweiten Weltkriegs sind?
Niemand auf der ganzen Welt würde diese Sicht teilen. Aber schon jetzt
weckt der deutsche Opferdiskurs die Erinnerung der Opfer im ehemals
nazibesetzten Europa. Sie sehen, dass Berlin den Tätern und Opfern, die im
BdV organisiert sind, Millionen an Steuergeldern zuschanzt. Da fragen sich
die Griechen, die Italiener, die Polen natürlich: Und was ist mit uns?
Irgendwann werden auch die Russen Forderungen stellen, die Ukrainer und
alle anderen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Das ist nur gerecht.
Was ist eigentlich das Hauptproblem in der deutsch-polnischen
Erinnerungsdebatte?
Das Hauptproblem ist die richtige Gewichtung. Die Deutschen reden immer
öfter von einem "Jahrhundert der Vertreibung". Sicher ist der Verlust der
Heimat eine Tragödie. Aber es gibt etwas Schlimmeres. Das ist die
Vertreibung aus dem Leben. Es ist ein Unterschied, ob die Deportationszüge
im Vernichtungslager Auschwitz hielten oder im Grenzdurchgangslager
Friedland. Die einen gingen in den Tod, die anderen in eine neue Heimat.
Mein Vater wurde von den Deutschen erschossen, während Erika Steinbach mit
ihrer ganzen Familie nach Hanau zurückkehrte. Sie kann mir nicht die Hand
reichen und sagen: "Ich vergebe Ihnen, Herr Szarota."
19 Jan 2010
## AUTOREN
(DIR) Gabriele Lesser
(DIR) Gabriele Lesser
## TAGS
(DIR) Fluchtursachen
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Vertriebenenmuseum in Berlin eröffnet: Fallen vermieden, Irritation bleibt
Das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zeigt die
Flucht von Menschen aus vielen Jahrzehnten – und sorgt für kontroverse
Debatten.
(DIR) Kommentar Rat der Vertriebenenstiftung: Empathie über alles
Die Prämissen der Stiftung nähren den Verdacht, der spezifische Kontext mit
der Expansions- und Ausrottungpolitik Nazi-Deutschlands werde ausgeblendet.
(DIR) Erika Steinbach: Verhärtete Front, ferner Kompromiss
BDV-Chefin Erika Steinbach gibt sich im Streit mit der Bundesregierung
unnachgiebig. Die Fronten sind verhärtet, ein Kompromiss scheint kaum
möglich.