# taz.de -- Comic über Islam und Christentum: Tausendundeine Macht
       
       > Craig Thompsons "Habibi" ist die Graphic Novel des Jahres. Über 600
       > packende Seiten zwischen Orient und Okzident, Realität und Imagination.
       
 (IMG) Bild: Dodola, die "Geisterkurtisane" als Sklavin im Harem des Sultans. Szene aus: Craig Thompson, "Habibi".
       
       Ein Boot, "weit draußen auf einem Meer aus Sand", ist die Zufluchtstätte
       des Mädchens Dodola und des kleinen Jungen Zam. Sie sind entlaufene
       Sklaven. Dodola ist Araberin und wurde als Kind von einen Schriftgelehrten
       (zwangs)geehelicht.
       
       Ihr Ehemann, der ihr Vater respektive Großvater hätte sein können,
       entjungfert die Minderjährige, lehrt sie aber auch Lesen und Schreiben. Er
       ist Kopist religiöser Schriften. Dodola erfährt bei ihm also nicht nur die
       Schrecken des uneingeschränkten Patriarchats, sondern auch Respekt,
       erkundet so die philosophische Weiten intellektueller Überlieferung und
       Tradition.
       
       Sie hat von der Frucht der Erkenntnis kosten dürfen, bevor sie arabischen
       Sklavenhändlern in die Hände fällt. Diese haben das Haus des
       Schriftgelehrten überfallen, ihn ermordet und das Mädchen geraubt.
       
       Die jugendliche Dodola erweist sich nun als eine außergewöhnliche
       Heranwachsende, willensstark und voller Entschlossenheit. Sie entflieht dem
       Sklavenmarkt, nicht ohne dabei auch den dreijährigen Zam zu befreien. Der
       kleine schwarzafrikanische Junge, Sohne einer Sklavin, war als nutzloser
       Esser dem Tode geweiht.
       
       ## Ornamentales Spiel
       
       Zwischen Dodola und Zam entspannt sich eine geschwisterlich-mütterliche
       Beziehung, eine fürsorgliche Liebe, wie sie sich nur auf einer Arche Noah
       in der Wüste oder einer Ranch in Wyoming entwickeln kann. Doch Craig
       Thompson wäre nicht Craig Thompson, so er nicht das Boot des Glücks auch
       von Gefahren umgeben sähe. Seine Wüstenlandschaft wird durchzogen mit Adern
       des Lebens, und dort lauern sie.
       
       Thompson mag immer wieder ab- und ausschweifen, sein Plot ist von einer
       rasanten Spannung, die sich noch durch jedes ornamentale Spiel mit der
       Kalligrafie zieht. Dodola wird zur sagenumwobenen "Geisterkurtisane", die
       ihren Körper gegen Nahrung an die rauen Männer der durchziehenden
       Handelskarawanen verkauft.
       
       Dank dessen wächst der ahnungslose Zam wohlgenährt in der von Dodola streng
       gehüteten Märchenwelt heran. Thompson lässt Zam in der Abgeschiedenheit der
       Wüste zu einem seine Ersatzmutter begehrenden Jungen heranreifen, seine
       gezeichnete Dodola ist tatsächlich von begehrenswerter Attraktivität.
       
       So vielschichtig die Beziehung zwischen Kindern und Eltern sein kann, so
       vielschichtig sind in "Habibi" die Charaktere insgesamt angelegt. Thompson
       arbeitet mit Rückblenden und Zeitsprüngen, erweitert das Geschehen um
       Traumsequenzen, parabelhafte Religionsgeschichten und vermengt ländliches
       Mittelalter mit städtischer Moderne.
       
       Das Herz der ungemein spannend erzählten Ereignisse bleibt die
       Liebesgeschichte von Dodola und Zam. Auch sie ist von Thompson sehr komplex
       gedacht. Der immer wieder von Dodola getrennte Zam neigt zum Nihilismus und
       zur Selbstverachtung. Er überhöht Dodola und wähnt sich im "Kampf gegen
       sein niederes Selbst".
       
       In den Aspekten der jugendlichen Existenz- und Emanzipationsgeschichte
       erinnert "Habibi" an die früheren Comics der Brüder Hernandez oder an Ulli
       Lusts "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens".
       
       Wie bei den Genannten verrät Thompsons malerischer Schwung popkulturellen
       Humor, Pathos und Leichtigkeit. Zur zeichnerischen Könnerschaft tritt - und
       das ist im Comic selten genug - die große erzählerische Begabung.
       
       Der 1975 im US-amerikanischen Bundesstaat Michigan Geborene gehört
       zweifellos zu den herausragenden Autoren der zeitgenössischen Comicszene.
       Sein gleichzeitig in den USA und Europa erschienenes Epos "Habibi" ist die
       Graphic Novel des Jahres 2011.
       
       ## Ninjas und Beduinen
       
       Bereits 2004 brachte Thompson das "Tagebuch einer Reise" heraus. Es vermag
       heute einen Einblick zu Hintergrund und tatsächlicher Absicht des Autors
       von "Habibi" geben. Thompson recherchierte damals für sein nun in Jahren
       ausgearbeitetes Werk "Habibi" in Marokko und Europa.
       
       In Skizzen und kleineren Comicsequenzen hielt er seine damaligen Eindrücke
       fest. "Die Beduinenfrauen sehen aus wie Ninjas!", notierte er neben
       entsprechende Entwürfe. In "Habibi" hat er die Beobachtungen konsequent und
       mit leichten Rollenvertauschungen fiktionalisiert. Hier erinnern die mit
       Turbanen und Staubbrillen ausgestatteten Wachen des Sultans an eine
       Mischung aus Ninja und der früheren Leibgarde Ghaddafis.
       
       "Habibi" ist die Auseinandersetzung eines westlichen Intellektuellen mit
       der orientalischen Welt. Mit ihren Traditionen, Geheimnissen, Verlockungen,
       aber auch mit ihren bis heute andauernden Rätselhaftig- und
       Rückständigkeiten. Fiktion und Übertreibung sind für Thompson geeignete
       Möglichkeiten, um sich mit kräftig ausgeprägter Autorensubjektivtät den
       Mythen von Gegenwart und Vergangenheit zu nähern.
       
       So treibt er seine Hauptfiguren Zam und Dodola wie auf einer Drehbühne vom
       Mittelalter in die Moderne, in das fiktive Land namens Wanatolien, in der
       die wahren Herrscher die Wasserkonzerne sind und der eingeborene Mensch in
       und aus der Kloake lebt. Während der Palast des Sultans mitsamt seinen
       Sexsklavinnen umgeben von Hochhäusern inmitten der architektonischen
       Moderne weiterexistiert. Verschwunden ist das Schiff in der Wüste als
       Rückzugsort vom Beginn von Thompsons Parabel.
       
       Am Ende entlässt uns der Autor mit einer leicht hippiesk anmutenden Welle
       der Liebe aus seiner Geschichte: Metaphysik, Haltung und Negation als
       Ursprung neuer Hoffnung.
       
       9 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Graphic Novel
       
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