# taz.de -- Reflexionen zum letzten Sommertag: Der süße Tod der Larve
       
       > Sonne am Seeufer, Insekten am Körper: In der kalten Jahreszeit sehnt sich
       > der Körper nach dem, was uns weich macht.
       
 (IMG) Bild: Letzter Sommertag am See – wonach der Körper sich im Winter sehnt
       
       Dezember. Die Kälte draußen entspricht der Kälte der Herzen. Die Deutschen
       sitzen im Kino und [1][feiern Stromberg] – weil er genauso ist wie sie. Mit
       Ironie kämpft er gegen die Angst, lächerlich zu wirken, weil er sich mehr
       für Gefühle schämt als für Gehorsam. Früher hieß es Abhärtung, heute
       Resilienz. Doch mein Körper sehnt sich nach dem, was uns weich macht: dem
       letzten Sommertag am See in Berlin.
       
       Wir liegen abschüssig zum Ufer, die Sonne scheint uns auf die Wangen. Es
       riecht nach 317 Jahren Anthropozän. Viele kleine Tiere haben es auf uns
       abgesehen. Ich lasse einige gewähren, einige streichle ich ab, manche
       verenden unnötig ob einer spontanen Bewegung des Unterarmes. Wie viele
       Wesen haben wir bereits umgebracht, nur um zu schwimmen und Joints zu bauen
       zwischen schönen Unbekannten, die so vertraut wirken, wie Figuren im ZDF um
       21.15 Uhr?
       
       Ich schaue hoch und zoome auf die Baumkrone. Krass, das Grün der Birken hat
       tausend Nuancen, wenn von greller Mittagssonne durchflutet. Kleine
       Lichtpunkte fallen auf meinen Körper, wie Reflexionen einer Discokugel.
       
       Eine Larve, groß wie eine Mini-Drohne, schleicht in Richtung meines Bauchs
       und ich denke nur: Was soll die Scheiße.
       
       Ich zoome wieder heraus, sehe es klar vor mir: Alles ist gemacht, auch die
       Bäume. Sie wurden vor rund 100 Jahren gepflanzt. Die UN gab es da noch
       nicht. Die meisten Nationen, die sich [2][gerade in New York versammeln],
       wurden in den letzten 200 Jahren von betrunkenen Männern mit steifen Kragen
       erfunden. Das Harper’s Magazine, in dem ich blättere, 1850.
       
       ## Der Arschloch-Marx
       
       „Geringverdiener“, brüllt ein Teenager seinem Kumpel entgegen. Es scheint
       ein übliches Schimpfwort zu sein. Die Philosophin formt Begriffe, der Pöbel
       schmiedet Mordwaffen daraus. Gibt es ein gefährlicheres Schwert in den
       Händen von Menschen als ein allgemeines Prinzip? Es ist die
       Arschloch-Version des Marx’schen Diktums: Wenn die richtige Idee die
       Menschen ergreift, wird sie zur materiellen Gewalt.
       
       Ein Flugzeug wabert über den See. Wie die Spiegelung einer Wespe im
       Glastisch meiner Kindheit. Es ist von der Firma Lufthansa. Ich hoffe, der
       Pilot ist gut drauf. Ich halte ihm einen Mittelfinger entgegen – ironisch
       wie in den 90ern. Es könnte sein, dass er dachte, ich hätte einfach
       gewunken und fühle mich besiegt.
       
       Ist dieses Sein hier gelebte Utopie? Wenn ich darauf vertrauen kann, dass
       andere auf meine Sachen aufpassen, wenn ich schwimmen gehe, ohne
       Gegenleistung? Geht Gesellschaft auch ohne Polizei? Frage ich den Freund in
       Vorfreude auf sein angewidertes Gesicht, das er zieht, sobald ich
       Hippie-Takes performe.
       
       Dennoch, denke ich, sage es nicht: Hier müssen verborgene Ressourcen am
       Werk sein, Reste von freiwilliger Gutmütigkeit.
       
       Ich lese eine Statistik. Faktor, um den die US-Polizei wahrscheinlicher
       linke Demonstrant*innen als rechte verprügelt: 2,3.
       
       ## Es kitzelt
       
       „Ey du Geringverdiener“, brüllt es aus dem Busch. Ich zucke kurz, weil es
       [3][empirisch auf mich zutrifft]. Erwachsen werden heißt, das Leben durch
       Pflichten einzuschränken, aus Angst vor den Versprechungen der Freiheit.
       Entfremdet sein und es lieben, oder?
       
       Die Larve ist inzwischen an meinem Hals angelangt und es kitzelt, haha, es
       kitzelt.
       
       Die Blätter tanzen träge im Wind. Das Ich, das sie anschaut, ist ihnen
       völlig egal.
       
       7 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.swr.de/kultur/filme-und-serien/stromberg-kinofilm-revival-100.html
 (DIR) [2] /New-York/!6111522
 (DIR) [3] /Inflation-und-steigende-Preise/!6116607
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Rhensius
       
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