# taz.de -- WDR-Hörspiel über Gewalt in Beziehung: Die Abgründe von Nähe
       
       > „Nixe“ erzählt von einer queeren Beziehung, die gewalttätig wird. Ein
       > Porträt über die Autorin Tia Morgen und warum sie diesem Tabu eine Stimme
       > gibt.
       
 (IMG) Bild: Für sie ist Schreiben eng mit Lesen verbunden: Autorin Tia Morgen
       
       Irgendwo zwischen Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen wohnt Tia Morgen – ihre
       „Oase“, wie sie sagt. In der Küche bereitet sie Matcha Latte zu, wiegt das
       Pulver ab, verrührt eine cremige Paste, erzählt. Von diesem Glücksgriff auf
       dem Berliner Wohnungsmarkt, seit einem Jahr lebe sie nun mit ihrer
       Beziehungsperson hier.
       
       Tia Morgen gibt eine Tour, im Flur vorbei an etwa 14 Paar kniehohen
       Stiefeln in mannigfaltigen Farben und Lacken. Ordentlich stehen sie
       aufgereiht auf dem Boden.
       
       „Hier ist unser Studio“, sagt Morgen und zeigt in einen großen Raum mit
       einem Laptop und geöffnetem Schnittprogramm, Kabeln und Boxen sowie einer
       großzügigen Kleidernische. Vom letzten Video-Shooting liegen noch seidige
       Stoffe auf dem Boden – nixenhaft schimmernd.
       
       In kreativen Phasen schläft sie manchmal nur bis vier oder fünf Uhr, weil
       Projekte wie „Nixe“ in ihrem Kopf kreisen, sie aufstehen und arbeiten will.
       „Dann sitze ich im Pyjama und mit Tee hier.“ Kernstück war für sie immer
       das Schreiben. Schon als Kind schrieb sie, in der Schule gewann sie einen
       Schreibwettbewerb. Daran geglaubt, dass sie davon beruflich leben könnte,
       hatte sie nicht.
       
       „Ich kannte keine künstlerisch arbeitenden Menschen in meiner Kindheit.“
       Aufgewachsen ist Tia Morgen im ländlichen Raum Bayerns, sie war die erste
       in der Familie, die auf ein Gymnasium ging. „Meine Eltern haben mir
       vorgelebt, dass Sicherheit im Job das Allerwichtigste ist.“ Sie aber
       studierte Psychologie, Anthropologie und Gender Studies in Dresden und
       Wien.
       
       ## Zwei Coming-outs
       
       Als Morgen mit 29 nach Berlin zog, fand sie Anschluss an die kreative Szene
       und die queere Community. „Ich hatte ein queeres Begehren, das ich lange
       nicht benennen konnte. Queer und künstlerisch zu arbeiten, das waren zwei
       Coming-outs“, sagt sie. Es sei mit viel Scham verbunden gewesen, weshalb
       sie in ihrer Arbeit dagegen anschreibt – auch in „Nixe“. Darin folgt sie
       Jara, gesprochen von Shari Asha Crosson.
       
       Jara ist Anfang 30, recherchiert für ihren Podcast über physische und
       emotionale Gewalt in queeren Beziehungen und begegnet dabei ihrer ersten
       Liebe Tonia (Hannah Müller). Während sie Betroffene interviewt, erfährt sie
       ihre Geschichten mit Tonia selbst. So erzählt das Hörspiel auf mehreren
       Ebenen von einem tabuisierten Thema – und macht die Scham sagbar.
       
       Im Wohnzimmer ein großes Bücherregal, bunte Vasen, Acryltische. Tia Morgen
       zieht ein Buch raus: „Kennst du das? ‚In the Dream House‘ von Carmen Maria
       Machado.“ Eine Geschichte über Gewalt in einer queeren Beziehung. Für
       Morgen ist Schreiben eng mit Lesen verbunden.
       
       „Ich bin durstig nach guten queeren Geschichten, die es in Fülle so nicht
       gibt.“ Die Recherche für „Nixe“ zeigte das deutlich, bis sie Machados Buch
       fand. „Das Buch hat ‚Nixe‘ sehr beeinflusst“, sagt sie, betrachtet das
       orangene Cover.
       
       Bereits in ihrer Hörspielserie „Desire“ war das Thema präsent. Dort ging es
       um Erfahrungen queerer Sexarbeiter*innen. „Mich interessiert die
       Auseinandersetzung mit kollektiven Erfahrungen, die immer auch singuläre
       sind.“
       
       Auf dem rosa Sofa nippt sie an ihrem grünen Getränk und überlegt, warum
       Gewalt in lesbischen Beziehungen selten thematisiert wird: Frauen gelten
       weniger als Täterinnen, eher als sanftmütig und im schlimmsten Fall „zu
       dramatisch“. Außerdem steht die queere Community unter starken Vorurteilen,
       weshalb solche Geschichten oft verschwiegen werden.
       
       ## Wie ein Gespräch unter Freund*innen
       
       Selbst das Outing könne traumatisierend sein, das Leben in einer queeren
       Beziehung eine Entscheidung gegen die gesellschaftliche Normalität. „Dann
       noch zu sagen: ‚Meine Freundin hat mich geschlagen‘, erscheint vielen fast
       unmöglich. Man will keine Nestbeschmutzerin sein.“
       
       Tia Morgen serviert Schokowaffeln. Draußen ist der Novembertag blau und
       wolkenlos. Es geht um „Nixe“. Morgen wollte die Produktion selbst
       übernehmen. Vom Casting, bei dem sie ausschließlich queere Stimmen wählte,
       über Regie bis Schnitt – und das hören wir. Es klingt wie ein Gespräch
       unter Freund*innen.
       
       Der Sound wirkt verletzlich und unmittelbar. „Nixe zu konzipieren war
       intensiv“, sagt sie. Ähnlich wie ihre Protagonistin führte auch Morgen
       Interviews mit etwa zehn Betroffenen. Diese Erzählungen berührten sie, es
       seien Gefühle, die sie kenne.
       
       Jara liebt Wasser. So wie Morgen als Kind. Damals war sie eine Wasserratte,
       machte sogar das Schwimmabzeichen Silber. Heute ist Wasser für sie etwas
       Angstbesetztes. Schwimmen im See empfindet sie als unangenehm, weil sie
       nicht weiß, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Eine diffuse Angst, die
       auch Jara in ihrer Beziehung zu Tonia spürt.
       
       Tonia ist nicht nur Jaras Schwimmtrainerin, sondern auch gefestigt in ihrem
       Queersein. Jara ist ihrem Begehren unerfahren, verletzlich. Tonia zeigt ihr
       eine neue Welt. Heftig verliebt ziehen sie schnell zusammen und tauchen in
       eine Beziehung ein, die zu einem von der Außenwelt isolierten Kosmos wird.
       Anfangs überredet Tonia Jara, eine Verabredung mit ihrem besten Freund
       Henri abzusagen, später gibt Jara wichtige Jobtermine auf, obwohl sie für
       ihre Arbeit eigentlich brennt.
       
       Morgen erklärt, ein Warnsignal für Gewalt in einer Beziehung sei oft die
       Befürchtung einer Eskalation, spürbar als dumpfes Bauchgefühl, ein Riss in
       der Stimmung. Im Hörspiel wird diese Angst von Wassergeräuschen begleitet:
       fließendes Rauschen oder ein undichter Wasserhahn, den Jara zu hören
       glaubt. „Wasser kann einen gefährlichen Sog bilden und dir zugleich aus den
       Fingern gleiten“, sagt Morgen.
       
       ## Die Notwendigkeit der Eskalation
       
       Weniger unterschwellig zeigen sich kleinere, dann größere Wutausbrüche, in
       denen Tonia impulsiv wird und Geschirr zertrümmert. Vor Henri versucht
       Jara, Tonias Verhalten mit ihrer schwierigen Vergangenheit zu
       rechtfertigen. In „Nixe“ braucht es die Eskalation, damit Jara aus dem
       Beziehungssystem ausbricht, das sie zunächst schützen wollte.
       
       Nach dem zweiten Teil will man wissen, wie Jara die Spuren dieser Erfahrung
       trägt und wie sich die Verletzungen in neuen Beziehungen manifestieren. Auf
       dem Sofa stellt sich die Frage, wer in der Geschichte eigentlich die Nixe
       ist. Tia Morgen erwidert: „Das ist die Frage, wer ist eigentlich die Nixe
       von beiden?“
       
       Nixen können vieles sein. Die Vorstellung einer verführerischen Sirene, die
       Männer in das Verderben zieht, führt zu anderen Schlüssen als „Die kleine
       Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen. Morgen las die Geschichte als
       Kind und erfuhr erst später von seiner queeren Lesart: „Es wird vermutet,
       dass Andersen schwul war“, meint Morgen.
       
       Im Buch verliert die Meerjungfrau ihre Stimme, um Mensch zu werden und bei
       ihrem Prinzen zu sein. Auch Jara opfert sich, um Tonia nahe zu sein, und
       verliert sich dabei selbst.
       
       5 Dec 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cynthia Cornelius
       
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