# taz.de -- EU-Abgeordnete über Behindertenpolitik: „Wenn du immer nur nett bist, kommst du hier nicht weit“
       
       > Die Grünen-Politikerin Katrin Langensiepen ist die einzige Abgeordnete
       > mit sichtbarer Behinderung im EU-Parlament. Ein Gespräch über ihre Arbeit
       > und Ableismus.
       
 (IMG) Bild: „Nicht alle schaffen es hierhin, weil Ableismus so stark wirkt“: Katrin Langensiepen (Grüne) im EU-Parlament
       
       Wir treffen uns vor dem Saal des EU-Parlaments in Strasbourg, wo kurz zuvor
       über die EU-Strategie zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen
       debattiert wurde. Katrin Langensiepen hielt eine emotionale Rede, beginnend
       mit einem flammenden Plädoyer gegen den Faschismus.
       
       taz: War die Rede in der Form heute vorbereitet oder spontan? 
       
       Katrin Langensiepen: Ich bereite meine Reden nie vor. Ich habe kein Skript.
       Ich höre zu und reagiere. In diesem Fall wollte ich der Fake-Solidarität
       meiner Vorrednerin etwas entgegensetzen. Es gibt einige Leute im Parlament,
       die meinen: Hätten wir weniger Geflüchtete, hätten wir mehr Geld für
       Menschen mit Behinderung. Das konnte ich ihr nicht durchgehen lassen.
       
       taz: Reden Sie immer frei? 
       
       Langensiepen: Mit Anfang 20 hätte ich mich nicht auf so eine Bühne
       gestellt. Das ist natürlich auch viel Übung. Viele belegen Rhetorikkurse,
       wie man richtig steht, dieses Männlichkeitsgetue, Ärmel aufkrempeln. Das
       ist bei mir ja sowieso Quatsch. Das sieht scheiße aus in meinem Fall, also
       lasse ich das. Ich arbeite viel mit meiner Stimme, hatte auch
       Gesangsunterricht. Und ich spreche vor allem zu Themen, bei denen ich mich
       gut auskenne und bei denen ich Emotionen habe.
       
       taz: Ihre Emotion hat man gespürt. 
       
       Langensiepen: Wenn du immer nur nett und freundlich bist, kommst du hier
       nicht weit. Ich teste das auch mal. Mittlerweile kann ich mir das erlauben.
       Ich mache den Job seit sechs Jahren, da habe ich ein gewisses Standing.
       Deshalb ist es so wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in
       Machtpositionen kommen. So hätte ich in einem Kommunalparlament gar nicht
       sprechen können, da hätten sie gesagt: Was ist das denn für ’ne
       Durchgeknallte? Ich bin hier auch sehr privilegiert. Ich kann hier laut
       sein. Und damit möchte ich andere auch ermutigen.
       
       taz: Andere Menschen mit Behinderung? 
       
       Langensiepen: Genau. Vielen Menschen mit Behinderung wird gesagt: Du wirst
       nie selbstständig einen Liter Milch kaufen können. Ich möchte zeigen, was
       alles möglich ist. Niemand ist verpflichtet, in die große Politik zu gehen.
       [1][Aber es sollte allen möglich sein.] Ich wünsche mir, dass sich niemand
       einreden lässt, etwas nicht zu können. Sondern sich überlegt: Wie schaffe
       ich es, in meinem Umfeld die Stimme zu erheben? Das ist leichter gesagt als
       getan, vor allem, wenn man von anderen Menschen abhängig ist. Ich möchte
       zeigen: Deine Stimme ist wichtig.
       
       taz: Sie sind die einzige Frau mit sichtbarer Behinderung im
       Europaparlament. 
       
       Langensiepen: Ich werde hier vom Gefühl her nicht als Frau wahrgenommen.
       Ich bin hier die Abgeordnete mit Behinderung. Ins Europäische Parlament bin
       ich mit sozialpolitischem Profil gekommen. Ich habe nie gesagt: So, jetzt
       mache ich Behindertenpolitik. Das ist einfach so passiert. Und heute wenden
       sich viele verschiedene Menschen an mich.
       
       taz: Im Parlament? 
       
       Langensiepen: Ja, auch Mitarbeitende aus der Verwaltung, die zum Beispiel
       Eltern behinderter Kinder sind. Die wollen, [2][dass das Schulsystem in
       Belgien und Frankreich inklusiver wird]. Im Parlament kämpfen wir aktuell
       um Gebärdensprachdolmetschung. Das ist aufgrund der Sprachenvielfalt ein
       bisschen schwierig. Aber eben auch nicht unmöglich. Da muss man ein
       bisschen treiben. Von allen Seiten wenden sich Menschen mit Behinderung und
       ihre Angehörigen an mich. Ich bin die eierlegende Wollmilchsau von New York
       bis Brüssel.
       
       taz: Wenn eine Person mit Behinderung unser Gespräch liest, was würden Sie
       ihr sagen, was tun Sie hier ganz konkret für sie? 
       
       Langensiepen: So funktioniert Repräsentanz nicht. Wir sind
       Volksvertretungen. Ich vertrete Leute, die mich gewählt haben. Es ist nicht
       die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern, dein individuelles Leben
       nach deinen Wünschen zu gestalten. Diese politische Macht habe ich nicht.
       
       taz: Aber Macht haben Sie ja schon. 
       
       Macht habe ich. Ich habe die Sichtbarkeit. Das darf man nicht
       unterschätzen. Wenn wir nicht hier wären, würde gar nichts funktionieren.
       Und gleichzeitig sehen natürlich nicht alle Abgeordneten mit Behinderung
       alles so wie ich. Es fehlen progressive Stimmen von Menschen mit
       Behinderungen. Es ist ja schön, eine gehörlose Person zu haben, die sich
       für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Aber wenn sie
       gleichzeitig die Rechte von queeren Menschen negiert oder Geflüchtete am
       liebsten sterben sehen möchte, dann habe ich persönlich damit ein Problem.
       
       taz: Dieses Interview wird zum 3. Dezember erscheinen, dem Tag der Menschen
       mit Behinderungen. Wie stehen Sie zu solchen Tagen? 
       
       Langensiepen: Ich arbeite auch am 2. Dezember und am 4. Dezember für
       Inklusion. Wenn dann [3][am 3. Dezember ein paar mehr Leute hingucken],
       okay. Ein Feuerwerk mache ich aber nicht. Hätten wir solche Tage allerdings
       gar nicht, hätten wir noch weniger Aufmerksamkeit.
       
       taz: Wie anstrengend ist Ihr Job? 
       
       Langensiepen: Ich bin nicht ohne Grund die einzige Frau mit sichtbarer
       Behinderung im Europäischen Parlament. Nicht alle schaffen es hierhin, weil
       Ableismus so stark wirkt. Und nicht alle können es durchhalten.
       
       taz: Jetzt ist es 19 Uhr. Schon ziemlich spät. 
       
       Langensiepen: Ja, das ist kein Nine-to-five-Job. Das Konstrukt hier ist:
       „Alter, weißer Mann ohne Familie geht in die Politik. Wir rangieren sie
       nach Brüssel aus.“ Das Programm hier ist ausgerichtet an diesen alten
       weißen Männern ohne Familie. Und entweder du schaffst es hier – oder du
       schaffst es nicht.
       
       3 Dec 2025
       
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