# taz.de -- Marketingprofessor über Nährwerte: „Edeka, Lidl und Co sollten den Nutri-Score anbringen“
> Immer weniger Lebensmittelhersteller nutzten die Nährwertkennzeichnung,
> sagt Marketingprofessor Spiller. Deshalb müssten die Supermärkte
> einspringen.
(IMG) Bild: Nutri-Score im gelben Bereich: Viele Hersteller lassen die Nährwertkennzeichnung lieber weg
taz: Herr Spiller, der Nutri-Score zeigt seit fast genau 5 Jahren auch in
Deutschland an, wie gesund Lebensmittel sind. Die Nährwertkennzeichnung
reicht von einem A auf dunkelgrünem Grund bis zu einem E auf rotem Grund.
Aber die meisten Nahrungsmittel haben das Label immer noch nicht. Woran
liegt das?
Achim Spiller: Vor drei Jahren trugen nur 40 Prozent der verarbeiteten
Lebensmittel [1][den Nutri-Score]. Inzwischen müsste der Wert sogar
geringer sein, weil eine ganze Reihe von Herstellern in jüngerer Zeit
ausgestiegen sind. Der offensichtlichste Grund ist, dass Unternehmen den
Nutri-Score meiden, wenn zu viele ihrer Produkte schlecht bewertet werden,
also mit Rot oder auch Gelb.
taz: Warum häufen sich die Ausstiege gerade jetzt?
Spiller: Es hat eine Veränderung der Nutri-Score-Berechnung durch die
wissenschaftliche Kommission gegeben, die von den sieben teilnehmenden
europäischen Ländern gegründet wurde. Zum Beispiel zählt nun der
Ballaststoffgehalt stärker, so dass sich Vollkornmehl positiver auswirkt.
Das hat dazu geführt, dass viele Backwaren jetzt negativer bewertet werden,
denn wir haben in Deutschland einen Vollkornanteil von unter 10 Prozent in
den Backregalen. Die neue Bewertung ist wissenschaftlich gut begründet,
weil es sehr gute Studien zu den Vorteilen eines hohen Ballaststoffgehalts
gibt. Nun ist aber fast die ganze Brotindustrie aus dem Nutri-Score
ausgestiegen.
taz: Auffällig ist, dass gerade Markenprodukte wie Coca-Cola, Landliebe
oder Barilla keinen Nutri-Score haben. Warum gerade diese „Premium“-Ware?
Spiller: Es sind fast nur noch die Handelsmarken der vier großen
Supermarktkonzerne durchgängig gelabelt. Wenn jetzt die Herstellermarken
auch labeln würden, würde offensichtlich, dass sie vielfach gesundheitlich
genauso zu bewerten sind wie die Handelsmarke, die direkt daneben liegt und
30 bis 40 Prozent weniger kostet. Daran haben die Herstellermarken
natürlich kein Interesse, wenn man mal von Ausnahmen wie Nestlé und Dr.
Oetker absieht.
taz: Es gab auch immer wieder Kritik an angeblich unsinnigen Bewertungen.
Ist das auch ein Grund, dass sich dieses System bisher nicht so
durchgesetzt hat?
Spiller: Der Nutri-Score berücksichtigt keine Zusatzstoffe, keine
Geschmacksverstärker und Ähnliches. Das kritisiert zum Beispiel die
Biobranche, die bestimmte Zusatzstoffe nicht nutzen darf. Manche
Öko-Hersteller sehen sich benachteiligt, weil sie beispielsweise Zucker
nicht durch mehr Geschmacksverstärker oder Ähnliches ersetzen können. Das
ist verständlich. Aber der Nutri-Score ist ein wissenschaftlich
entwickeltes System und die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit hat den
Zusatzstoffen mithilfe von wissenschaftlicher Erkenntnis attestiert,
unschädlich zu sein.
taz: Ist es auch ein Problem, dass offenbar viele Verbraucher den
Nutri-Score nicht richtig verstehen?
Spiller: Ja, es gibt einiges an Irrglauben, der etwa durch die sozialen
Medien wabert. Vielfach wird kolportiert, man könne nur direkt innerhalb
von Warenkategorien vergleichen: also etwa nur einen Schinken mit einem
anderen Schinken. Das stimmt nicht. Der Score wird im Wesentlichen für drei
Produktgruppen gleich berechnet: erstens Getränke, zweitens Öle und Fette
und drittens der ganze Rest. Ich kann sehr wohl damit einen Käse mit einer
Wurst und einem Veggieaufstrich vergleichen. Ernährungswissenschaftliche
Studien zeigen grundsätzlich: Die Menschen, die den Nutri-Score beachten,
ernähren sich auch deutlich eher nach den Empfehlungen zum Beispiel der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung.
taz: Könnte das nicht auch daran liegen, dass sich diese Menschen sowieso
gesünder ernähren?
Spiller: Die Studien belegen auch, dass der Nutri-Score insbesondere den
Menschen hilft, die sich nicht so intensiv mit Ernährung beschäftigen. Der
Nutri-Score ist die beste Gesundheitskennzeichnung, die wir haben. Auch
wenn sie noch verbessert werden könnte.
taz: Wie denn?
Spiller: Bekanntestes Beispiel sind Tiefkühlpommes. Die sind berechnet ohne
das Nachsalzen durch den Verbraucher nach dem Erhitzen. Jetzt kann man
darüber diskutieren: Sollte bei solchen Produkten nicht die Menge Salz, die
der Durchschnittsverbraucher dazugibt, einkalkuliert werden? Die
Kommunikation des Lenkungsausschusses, den sich die beteiligten Länder für
den Nutri-Score gegeben haben, muss deutlich besser werden. Sie muss den
Herstellern mehr erklären, warum sie die Regeln geändert haben und
Bevölkerung besser informieren.
taz: Was muss passieren, damit sich der Nutri-Score stärker durchsetzt in
Deutschland?
Spiller: Auf reine Freiwilligkeit der Industrie zu hoffen, war naiv. Am
klarsten wäre es, die EU würde den Nutri-Score verbindlich für alle
Mitgliedsländer einführen. Das ist am Widerstand von Italien, Ungarn und
Co. und ihrem Gastropopulismus gescheitert. Die Italiener haben eine sehr
populistische Diskussion hochgezogen, dass ihre traditionellen
Spezialitäten wie Parmesan-Käse oder Olivenöl nicht gut abschneiden würden.
Da der Nutri-Score aus Frankreich kommt, wurde behauptet: Die Franzosen
wollen uns unser Essen vorschreiben. Am Ende zog die EU-Kommission ihren
Vorschlag zurück, so dass die europaweit verbindliche Einführung im Moment
erst mal vom Tisch ist.
taz: Also?
Spiller: Deshalb wäre meine Empfehlung für Deutschland, zu prüfen, ob eine
nationale Pflichtkennzeichnung rechtlich möglich ist. Das französische
Parlament hat im November beschlossen, den Nutri-Score national verbindlich
zu machen.
taz: Und falls Deutschland die Kennzeichnung nicht allein vorschreiben
darf?
Spiller: Die großen Supermarktketten wie Edeka, Lidl und Co sollten den
Nutri-Score selbst anbringen an allen Lebensmitteln: zum Beispiel auf den
elektronischen Preisanzeigen, die jetzt zunehmend kommen. Der größte
holländische Händler, Albert Heijn, zeigt das Label schon für so gut wie
alle Lebensmittel an. Sogar für frische Produkte wie Kohl oder Äpfel.
Bisher macht Albert Heijn das nur in Schwarz-Weiß. Aber das ist auf jeden
Fall ein guter Schritt in die richtige Richtung.
taz: Gut möglich, dass dann wieder von rechts der Einwand kommt: „Die“
wollen uns sagen, was wir essen müssen.
Spiller: Aber man schreibt doch gar nichts vor. Man schafft nur
Transparenz, ein Grundelement einer freien Marktwirtschaft.
taz: Dann könnte es heißen: Der Nutri-Score bedeutet mehr „Bürokratie“.
Spiller: Das Label ist ja simpel zu berechnen aus den sieben
Nährwertangaben, die sowieso schon auf den Packungen stehen, aber eben in
einer Form, die für Laien nicht so leicht verständlich ist. Und den
zusätzlich für die Berechnung notwendigen Gehalt an Ballaststoffen, Obst
und Gemüse et cetera kennen die Hersteller ganz genau. Der Handel redet
jedes Jahr mit den Herstellern und kann sich diese Informationen von ihnen
natürlich geben lassen. Da entstehen keine großen Kosten.
3 Dec 2025
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(DIR) Jost Maurin
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