# taz.de -- Osteuropa zwischen EU und Russland: Kann die Diaspora die Demokratie retten?
       
       > Je ein Viertel der Moldauer und Rumänen arbeitet im Ausland, viele davon
       > in Deutschland. Das wirkt sich auf die Wahlen in ihren Heimatländern aus.
       
 (IMG) Bild: Die Twitter-Revolution von 2009: Protestierende hissen die EU-Flagge auf dem moldauischen Präsidentenpalast
       
       Christian Ursu keltert Trauben in einer hölzernen Weinpresse und nippt an
       einem Pappbecher voller Most – oder Vin tânăr, wie er auf Rumänisch heißt.
       Seine Partnerin Nicoleta Grițco lächelt und macht Fotos von ihm. Die
       inoffizielle Hymne der Rumänischsprachigen weltweit, O-Zones viraler Hit
       „Dragostea din Tei“, dröhnt aus den Lautsprechern: „Maia hii, maia huu …“
       Die Popmusik vermischt sich mit den Techno-Beats aus dem nahe gelegenen
       Club, die einzige Erinnerung daran, dass wir uns nicht in Chișinău oder
       Bukarest befinden, sondern in Berlin. An diesem Abend wird hier im
       Biergarten das in der Republik Moldau und in Rumänien traditionelle
       Erntedankfest gefeiert. Die Veranstaltung wird von der Akademie Rapsodia
       Berlin organisiert, einer NGO, die rumänischsprachige Migranten bei der
       Integration in die deutsche Gesellschaft unterstützt.
       
       Ursu und Grițco sind in Moldau geboren und vor drei Jahren nach Berlin
       gezogen. Er ist Koch, sie arbeitet im Catering. Um mit ihren Wurzeln in
       Verbindung zu bleiben, organisieren sie Veranstaltungen – und nehmen an
       Wahlen in ihrem Heimatland teil. Am 28. September 2025 haben sie „für eine
       europäische Zukunft“ gestimmt, wie die beiden sagen. „Für uns ist das wie
       ein Fest“, sagt Nicoleta Grițco. „Ich treffe so viele Bekannte in der
       Schlange!“ Die schlimmsten Warteschlangen gab es 2020 während der
       Präsidentschaftswahlen, erinnert sich Ursu. Damals lebte er noch in
       Rumänien. „Es war ein kalter November. Ich stand in der ersten Runde acht
       Stunden lang in der Schlange und in der zweiten Runde zehn Stunden.
       Tausende Menschen warteten darauf, ihre Stimme abzugeben.“ [1][In diesem
       Jahr wurde die EU-freundliche Kandidatin Maia Sandu Präsidentin und setzte
       sich gegen den pro-russischen Oppositionsführer Igor Dodon durch]. „Es hat
       sich gelohnt, wir haben es geschafft“, sagt Christian Ursu.
       
       Bei der jüngsten Wahl gewann die von Sandu gegründete Partei der Aktion und
       Solidarität (PAS) 55 der 101 Sitze im Parlament und regiert damit für vier
       weitere Jahre. Die Partei verspricht die europäische Integration bis 2028,
       an der sie nun arbeiten kann, ohne Koalitionen mit Parteien eingehen zu
       müssen, die weniger westlich orientiert sind. Bei der Wahl in Moldau war
       die Unterstützung der Diaspora entscheidend und verhalf der PAS zur
       parlamentarischen Mehrheit.
       
       Nach der Wahl wurden in den sozialen Medien Memes geteilt: Sie zeigen, wie
       der Propagandawagen Putins vom Zug der Diaspora überrollt wird. Es war
       nicht das erste Mal, dass die moldauische Diaspora eine Entscheidung in
       ihrer Heimat beeinflusste. Im Jahr 2024 hielt Moldau ein Referendum ab, um
       den pro-europäischen Kurs in der Verfassung des Landes zu verankern.
       Zukünftige Regierungen sollten ihn nicht mehr ändern können. Die Abstimmung
       fiel dank etwas mehr als 10.000 Stimmen aus der Diaspora positiv aus. Nicht
       alle sind darüber glücklich.
       
       ## Im Schatten der sowjetischen Vergangenheit
       
       Kurz vor der Wahl im September schlug der Block der Kommunisten und
       Sozialisten Änderungen am Wahlgesetz vor, die Moldauer im Ausland daran
       hindern sollten, mit abgelaufenen Ausweispapieren zu wählen. Der Vorschlag
       wurde nicht angenommen. Möglicherweise, weil die Verbindung zwischen der
       Diaspora und der Wahlentscheidung viel tiefer geht. Im Jahr 2017 verfasste
       der auf Migration spezialisierte Ökonom Toman Barsbai gemeinsam mit anderen
       einen Artikel, in dem er argumentiert: „Migranten nehmen im Ausland neue
       politische Normen, Praktiken und Informationen auf, die sie dann an ihre
       Heimatgemeinden weitergeben.“ Dieser Prozess war bereits die Grundlage für
       die sogenannte Twitter-Revolution von 2009, als junge Demonstranten eine
       EU-Flagge auf einem Regierungsgebäude in Chișinău hissten, die letzte
       kommunistische Regierung in Europa stürzten und den Weg für einen
       potentiellen EU-Beitritt ebneten.
       
       Fast ein Viertel aller Moldauer lebt außerhalb des Landes. Moldau gilt als
       eines der ärmsten Länder Europas und ist stark vom Geld abhängig, das
       Auswanderer nach Hause schicken. Das zwischen Rumänien und der Ukraine
       gelegene Land mit 2,4 Millionen Einwohnern lebt im Schatten seiner
       sowjetischen Vergangenheit. Bei der Wahl im September gab es den Vorwurf
       einer Einmischung Russlands. Der Krieg des Kremls in der Ukraine schürt die
       Befürchtung, Moldau könne das nächste Ziel sein. Deshalb engagiert sich die
       Diaspora so aktiv im politischen Leben ihres Heimatlandes, sagt Christian
       Ursu. „Wir wissen, wie es ist, unter russischer Herrschaft zu leben.“
       Deshalb wollen sie alles Mögliche tun, um eine Wiederholung der Geschichte
       zu verhindern.
       
       Aber Moldau ist die Ausnahme, nicht die Regel. Das Nachbarland Rumänien
       sorgte für internationale Schlagzeilen, als die erste Runde der
       Präsidentschaftswahl im November 2024 annulliert wurde. Russland soll die
       Wahl zugunsten des Siegers [2][Călin Georgescu] beeinflusst haben. Ein
       Pro-Putin-Nationalist und Verschwörungstheoretiker, der in den sozialen
       Medien an Popularität gewonnen hatte. Die Wahl wurde verschoben – eine
       Entscheidung, die Proteste auslöste und, wie einige argumentieren, zu einer
       besonders hohen Wahlbeteiligung bei der neu angesetzten Wahl im Mai führte.
       
       Rumäniens Flirt mit extremistischen Ideen hat Antuanela Stancă schockiert,
       sie ist mit ihrer Familie zum Erntedankfest gekommen. Die Anwältin aus
       Bukarest ist vor zweieinhalb Jahren nach Berlin gezogen, weil ihrem Mann
       ein Job angeboten wurde. „Es gibt so viele Tastaturkrieger im Internet, die
       von ihren bequemen Sofas aus unerklärliche Kommentare abgeben“, sagt sie.
       Verschwörungstheorien über die Pandemie, Pro-Kreml-Narrative, die
       behaupten, es gäbe keinen Krieg. Das sei alles sehr surreal.
       
       ## „Gute“ und „beschämende“ Migranten
       
       Das war nicht immer so, erklärt Elena Stancu, eine rumänische Journalistin,
       die über die Diaspora berichtet. 2019 packten sie und ihr Partner ihre
       Kameras und Aufnahmegeräte in ein Wohnmobil, um die Diaspora-Gemeinden in
       der EU zu besuchen. Für ihr Projekt [3][Teleleu] sprachen sie vor allem mit
       Arbeitern. Damals war alles anders, erinnert sie sich. „Es herrschte
       Hoffnung“, sagt Stancu. Massive Proteste gegen Korruption sowohl in ihrer
       Heimat Rumänien als auch im Ausland versprachen ein neues Kapitel. Doch
       während der Parlamentswahlen 2020 gewann eine neue Partei an Anhängern. Es
       war die Allianz für die Union der Rumänen (AUR) – populistisch,
       rechtsgerichtet, konservativ. „Da habe ich zum ersten Mal die Spaltung der
       Gesellschaft gespürt“, sagt Stancu.
       
       Mehr als 4,6 Millionen Rumänen leben im Ausland – das entspricht einem
       Viertel der Bevölkerung, was sie zu einer der größten Diasporagruppen
       innerhalb der Europäischen Union macht. Einige kommen aus privilegierten
       Verhältnissen und wünschen sich bessere berufliche Möglichkeiten oder eine
       bessere Ausbildung für ihre Kinder. Diese Menschen würden in den
       rumänischen Mainstream-Medien als „Erfolgsgeschichten“ oder „Rumänen, auf
       die wir stolz sein können“ dargestellt, sagt Stancu. Es gibt jedoch auch
       Rumänen, die ganz andere Erfahrungen mit der Migration gemacht haben. Sie
       wollten ihre Heimat und ihre Familien nie verlassen, hatten aber keine
       andere Wahl. Stancu spreche immer wieder mit Menschen, die ausgewandert
       seien, weil sie Schulden abbezahlen, die Zinsen für Haushaltsgeräte
       bezahlen oder einfach nur ein Badezimmer bauen wollen. Im ländlichen
       Rumänien gibt es, genau wie in Moldau, immer noch viele Haushalte mit
       Toiletten im Hinterhof.
       
       „Es ist nicht ganz richtig, zu sagen, dass diese Rumänen im Ausland leben“,
       sagt Stancu. „Sie leben in Rumänien, arbeiten aber im Ausland, manchmal für
       längere Zeiträume.“ Das bedeutet, dass sie in Unterkünften wohnen, die ihr
       Arbeitgeber bereitstellt, sie rumänische Lebensmittelgeschäfte besuchen,
       rumänische Pop-Folk-Musik hören und in orthodoxen Kirchen beten. „Ihre
       Gedanken sind in Rumänien“, sagt Stancu, „Sie möchten nach Hause
       zurückkehren, können das aber nicht, weil ihre Familien auf die
       Unterstützung angewiesen sind.“
       
       Und nicht nur ihre Familien brauchen ihre Arbeitskraft, auch die EU braucht
       sie. Die Covid-Pandemie hat gezeigt, wie viele Branchen in den
       Industrieländern auf Arbeitsmigranten angewiesen sind, um zu funktionieren.
       Stancu erinnert sich an ein Gespräch mit dem Manager eines Apfelbetriebes:
       „Wenn es eine schwere und unangenehme Arbeit zu erledigen gab, sagten sie
       immer: ‚Bittet die Osteuropäer, das zu machen‘.“
       
       ## Osteuropäer nicht als Bürger zweiter Klasse betrachten
       
       Die Medienberichte über die „guten“ Migranten im Gegensatz zu den
       „beschämenden“ schürten Ressentiments in der rumänischen Community. Und als
       ein charismatischer junger Politiker auftauchte und versprach, er würde sie
       stolz darauf machen, Rumänen zu sein, hörte die Diaspora zu. Diese Person
       war George Simion, der Vorsitzende der AUR, den manche als „rumänischen
       Trump“ bezeichnen. Seine ultranationalistische Rhetorik verschaffte ihm die
       Unterstützung der Diaspora-Wähler, vor allem in Italien, Deutschland und
       Spanien, und machte ihn zum Sieger der ersten Wahlrunde. Letztendlich
       endete der rumänische Politthriller mit dem Sieg seines liberalen Gegners
       [4][Nicușor Dan]. Der wandte sich an Simions Anhänger und sagte, sie
       müssten nun „unabhängig von politischen Entscheidungen gemeinsam ein Land
       aufbauen“.
       
       „Die EU sollte sich nicht auf Osteuropäer verlassen, um ihre Drecksarbeit
       zu erledigen, und sie gleichzeitig als Bürger zweiter Klasse betrachten“,
       sagt Stancu. „Sie sollte ihnen mit Empathie begegnen und sie als Menschen
       mit Geschichten und Familien betrachten, deren Stimmen letztendlich über
       das Schicksal Europas entscheiden.“
       
       Zurück beim Erntedankfest versucht Anwältin Antuanela Stancă, ihre
       fünfjährige Tochter einzufangen, die mit ihren Plüschtieren herumrennt.
       Musiker singen traditionelle rumänische Lieder – zwei Moldauer, die für
       diese Veranstaltung Hunderte von Kilometern zurückgelegt haben. Antuanela
       erzählt, dass der Wahlskandal in Rumänien wie eine kalte Dusche für sie
       war. Die Popularität extremistischer Ansichten und die mögliche Einmischung
       Russlands habe alle überrascht. Sie nimmt meine Hand und sagt: „Wir sollten
       besser von Moldau lernen, wie man damit umgeht.“
       
       29 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wahlen-in-Moldau-/!6116188
 (DIR) [2] /Praesidentschaftswahlen-in-Rumaenien/!6071564
 (DIR) [3] https://teleleu.eu/
 (DIR) [4] /Praesidentenwahl-in-Rumaenien/!6088896
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Natalia Sergheev
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Rumänien
 (DIR) Republik Moldau
 (DIR) Diaspora
 (DIR) GNS
 (DIR) Maia Sandu
 (DIR) Kolumne Grauzone
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Rumänien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wahlen in Moldau: Sieg der Pro-Europäer nach Zitterpartie
       
       Die westlich orientierte PAS-Partei von Präsidentin Maia Sandus erringt in
       der Republik Moldau eine Mehrheit. Pro-russische Gruppierungen rufen zu
       Protesten auf.
       
 (DIR) Wahlen in Moldau: Wenn Propaganda und Religion verschmelzen
       
       Vor den Wahlen in Moldau am 28. September präsentiert sich Glaube als
       politische Waffe. Die orthodoxe Kirche ist ein Instrument Russlands.
       
 (DIR) Präsidentenwahl in Rumänien: Nächste Niederlage für rechtsextremen Kandidaten Simion
       
       Der unterlegene rechtsextreme Präsidentschaftskandidaten wollte eine
       Annullierung der Stichwahl. Das Verfassungsgericht lehnt den Antrag nun ab.