# taz.de -- Geschichten aus Peking von Hu Anyan: Worauf unser Reichtum basiert
       
       > Schreiben als Selbstverwirklichung: Hu Anyan richtet mit „Ich fahr Pakete
       > aus in Peking“ den Blick auf die namenlose Masse an
       > Niedriglohnarbeiter:innen in China.
       
 (IMG) Bild: Ein Lieferfahrzeug hält in einem traditionellen Hutong-Quartier in Peking
       
       Ein Titel wie von einem Kinderbuch: „Ich fahr Pakete aus in Peking“. Als
       werde hier Kindern die Würde einfacher Arbeit für die Bildung einer
       sozialistischen Persönlichkeit nahegebracht. Und in der Tat schimmert immer
       wieder das maoistische Erbe in Hu Anyans Buch durch. Da muss der
       Paketdienstmitarbeiter, dessen Kunde sich über ihn beschwert hat, drei Tage
       lang von Depot zu Depot ziehen und vor versammelter Mannschaft einen Text
       mit Selbstkritik vortragen.
       
       Oder der Autor wagt es nicht, sich in einem Park in ein Teehaus zu setzen,
       das von lauter „alten Herrschaften“ frequentiert wird. „Leute in meinem
       Alter sollten unermüdlich damit beschäftigt sein, die Gesellschaft
       voranzubringen.“
       
       1979 in Guangzhou geboren, begann Hu Anyan gleich nach der Schule zu
       arbeiten. Während der Covid-Pandemie postete er im Internet erste Texte
       über seine Arbeitserfahrungen, aus denen „Ich fahr Pakete aus in Peking“
       hervorging. Inzwischen hat sich das Buch in China millionenfach verkauft
       und wird in fünfzehn Sprachen übersetzt.
       
       Anyan beginnt mit einem Bericht über seine Arbeit in einem Logistikzentrum
       in Foshan. Sieben Monate war er dort als Ladungskontrolleur angestellt,
       ausschließlich in der Nachtschicht von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens, bei
       zwei freien Tagen im Monat. Das Hauptproblem, schreibt er, sei aber nicht
       die lange Arbeitszeit gewesen, sondern tagsüber zu schlafen. Nach
       verschiedenen Versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen, greift er
       zum „altbewährten Mittel“: Alkohol.
       
       ## Kämpfe um die besten Touren
       
       In der titelgebenden Geschichte als Paketbote in Peking beginnen die
       Schwierigkeiten gleich zu Anfang, als Anyan nur ein altes elektrisches
       Transportdreirad zur Verfügung gestellt bekommt. Es lässt sich schlechter
       beladen und kostet ihn Zeit, die ihm nicht bezahlt wird.
       
       Die Kämpfe um die besten Touren, bei denen mit wenig Aufwand möglichst
       viele Pakete verteilt werden können, gewinnen meist die alten Hasen. Und
       immer wieder gibt es Kunden, die sich einfach nicht vorstellen können, dass
       ein höherer Zeitaufwand für einen Boten sofort zu einem geringeren
       Einkommen führt.
       
       Doch Jammern liegt Hu Anyan fern. Der Grund dafür sei sein Charakter,
       schreibt er, aber wohl auch seine spätere Erfahrung als Kleinunternehmer,
       der den gnadenlosen Konkurrenzkampf unter den Bekleidungsgeschäften in
       einem Shoppingcenter erlebt hat. „Aber glücklicherweise existieren auf
       dieser Welt Werte, die die utilitaristischen Regeln von Gewinn und Verlust,
       denen wir schon so lange Glauben schenken, transzendieren.“ Hinzu kommt,
       dass sich die Arbeitsbedingungen in China in den letzten zwanzig Jahren in
       vielen Firmen verbessert hätten.
       
       „Ich fahr Pakete aus in Peking“ ist neben dem Einblick in die brutale
       chinesische Arbeitswelt, auf der ein großer Teil unseres Reichtums in
       Europa basiert, ein Entwicklungsroman. Hu Anyan liest viel – vor allem
       Schriftsteller aus dem Westen – und denkt über sein Schreiben nach. Manche,
       wie [1][Raymond Carver,] die ihn am Anfang begeistert haben, genügen ihm
       später nicht mehr. Er beginnt Autoren der klassischen Moderne zu lesen,
       Musil, Joyce und [2][Kafka.]
       
       Für sein eigenes Schreiben übernimmt er von Hemingway die Theorie des
       Eisbergs, wonach in einem literarischen Text nur ein Achtel erzählt werden
       sollte, während sieben Achtel unsichtbar unter Wasser, also unerzählt
       blieben. Die so entstehenden Leerstellen bildeten Freiräume [3][für die
       Fantasie des Lesers] – eine Technik, die Hu Anyan in seinem eigenen Buch
       gekonnt anwendet.
       
       ## Schreiben ist Freiheit
       
       Schreiben, das ist für Anyan Selbstverwirklichung, ist Freiheit. Wobei
       Freiheit für ihn eher eine Frage des Bewusstseins ist, nicht etwas, das man
       besitzt. „Ein Bauer mit einem niedrigen Bildungsniveau wird sich kaum
       unfrei fühlen, obwohl der landwirtschaftliche Kalender den Rhythmus seines
       Jahres vorgibt, aber je gebildeter ein Mensch ist, desto komplexer ist sein
       Denken und desto schwieriger wird es ihm fallen, sich in seiner Arbeit frei
       zu fühlen.“
       
       „Ich fahr Pakete aus in Peking“ ist beides: Erzählung menschenunwürdiger
       Arbeitsbedingungen und Geschichte einer intellektuellen Emanzipation. Hu
       Anyans erzähltes Ich ist dabei eine Mischung aus dem charakterlosen
       chinesischen Menschen, wie ihn Franz Rosenzweig in seinem Buch „Stern der
       Erlösung“ klassisch von Konfuzius verkörpert sah, der „über alle mögliche
       Besonderheit des Charakters“ hinwegwischt, und dem westlichen Individuum,
       das sich im Lesen und Schreiben selbst verwirklicht. Es ist nicht zuletzt
       die Spannung zwischen diesen beiden Polen, die „Ich fahr Pakete aus in
       Peking“ so interessant macht.
       
       3 Dec 2025
       
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