# taz.de -- Roman von Marbel Sandoval Ordóñez: Rückkehr nach La Vega
       
       > Die ehemalige Journalistin Marbel Sandoval Ordóñez erzählt in „An einem
       > Seitenarm des Río Magdalena“ von einer Mädchenfreundschaft in der
       > kolumbianischen Provinz.
       
 (IMG) Bild: Am Ufer des Rio Magdalena in Kolumbien
       
       Die Freundinnen Paulina und Sierva María sind zwei ungleiche
       Außenseiterinnen in der höheren Schule der Nonnen. Beide Mädchen wachsen
       ohne Vater in Barrancabermeja am Ufer des Rio Magdalena auf. Es ist eine
       schmutzige Industriestadt im Norden Kolumbiens, die durch den Ölboom groß
       geworden ist
       
       Doch während die schüchterne zwölfjährige Sierva María mit ihrer
       alleinerziehenden Mutter, einer Schneiderin, ein relativ geregeltes Leben
       führt, hat sich Paulinas Mutter mit den Kindern mittellos in die Stadt
       geflüchtet. Damals, nur wenige Wochen nach der Ermordung des Vaters, waren
       auf dem Land in Vuelta Acuña bewaffnete Gruppen aufgetaucht. Zusammen mit
       den Nachbarn verließ die Familie Hals über Kopf ihre bescheidene Finca La
       Vega.
       
       Aus der Perspektive von Paulina und Sierva María erzählt Marbel Sandoval
       Ordóñez’ Roman „An einem Seitenarm des Río Magdalena“ von einem Massaker,
       das am 12. Januar 1984 nicht weit entfernt von Barrancabermeja in Vuelta
       Acuña von Paramilitärs begangen wurde. Von den realen Ereignissen ausgehend
       rückt die 1959 in Bogotá geborene Schriftstellerin das Leben der Frauen und
       Kinder in dem Jahrzehnte andauernden bewaffneten Konflikt ins Zentrum ihrer
       fiktiven Erzählung. Zwischen 1970 und 2015 „verschwanden“ in Kolumbien mehr
       als 60.000 Personen.
       
       In ihrem literarischen Debüt, das unter dem Originaltitel „En el brazo del
       río“ in Kolumbien 2006 erschien, gibt die ehemalige Journalistin den
       Tausenden Verschwundenen in Gestalt ihrer Protagonistin Paulina eine
       Stimme. Deren Schicksal nimmt die Autorin im ersten Satz vorweg: „Paulina
       Lazcarros Leiche wurde nie gefunden.“
       
       ## Historisches Abkommen
       
       Erst 2016 erzielte Kolumbien nach Jahren zäher Verhandlungen [1][einen
       endgültigen Waffenstillstand zwischen Regierung und Farc-Guerilla.] Das
       historische Abkommen sollte endlich die Gewalt im Land beenden. Doch die
       vereinbarten Maßnahmen wurden lange verschleppt. Erst 2022 kündigte die
       linksgerichtete Regierung von Gustavo Petro an, den Friedensvertrag
       vollständig umzusetzen. Doch die Widerstände der traditionellen Eliten
       erschweren den Prozess und dissidente Guerillagruppen, Paramilitärs und
       Drogenkartelle sind weiterhin aktiv.
       
       Im Roman schildert Paulina, die personale Erzählerin, im Wechsel mit der
       jüngeren Freundin Sierva María rückblickend die Ereignisse bis zu ihrem
       gewaltsamen Tod und sogar darüber hinaus.
       
       Nach ihrer überstürzten Flucht war die Familie im Haus der Großmutter in
       Barrancabermeja unterkommen. Die Mutter arbeitet nun als Dienstmädchen.
       Doch das Geld ist knapp und Paulina verkauft nach der Schule frisch
       zubereitete Arepas und Empanadas im Park. Aber wenn sie bei Sierva María zu
       Besuch ist, wartet dort oft schon ein Mittagessen. Dann gibt es Limonade,
       Telenovelas und Brettspiele.
       
       Gemeinsam besuchen die Freundinnen samstags die Katechismusgruppe von Pater
       Eduardo. Besonders Paulina folgt seinem unkonventionellen Unterricht
       interessiert und ist begeistert von der Idee einer Kirche der Befreiung.
       Sie will später studieren und Anwältin werden, „um die Armen zu
       verteidigen.“ Es wird anders kommen und diese Gewissheit verleiht selbst
       den unbeschwerten Passagen der Erzählung eine beunruhigende Intensität.
       Erich Hackl, der österreichische Schriftsteller, hat den Roman stimmig mit
       ein paar Austriazismen übersetzt.
       
       ## Aussichtslose Lage
       
       In den großen Ferien, drei Jahre nach ihrer Flucht, wagt es Paulinas Mutter
       schließlich, mit der ältesten Tochter für eine Woche nach La Vega
       zurückzukehren. Von Honorio, ihrem Nachbarn, hatte sie erfahren, dass er
       inzwischen regelmäßig mit dem Boot flussaufwärts fuhr, um Orangen und
       Mangos auf seiner Finca zu ernten, die er in der Stadt verkaufen konnte. Er
       bot ihr an, sie mitzunehmen.
       
       Endlich in Vuelta Acuña angekommen, richten Mutter und Tochter die
       verlassenen Räume ihres Zuhauses wieder her. Gemeinsam inspizieren sie die
       umliegenden Felder und Paulina fragt: „Glaubst du, dass wir wieder hier
       leben können, Mama?“ „Erst müssen wir sehen, wie die Lage ist.“ Doch am
       Abend des 12. Januar, als sie mit den Nachbarn zusammensitzen, hören sie
       die näher kommenden Schnellboote auf dem Fluss. Die Lage ist aussichtslos.
       
       Marbel Sandoval Ordóñez Erzählung gelingt es literarisch überzeugend, die
       Wunden, das Leid und den Verlust in Erinnerung zu rufen, die barbarische
       Gewalt, Willkür und Straflosigkeit in der jüngsten Geschichte Kolumbiens
       verursacht haben.
       
       Minutiös beschreibt Paulina nach dem Überfall der Paramilitärs deren
       Exzesse, die eigene Vergewaltigung und den herbeigesehnten Tod. Sierva
       María hingegen stößt bei ihren Nachforschungen zum Schicksal der
       verschwundenen Freundin auf Desinformation und Schweigen. „An einem
       Seitenarm des Río Magdalena“ ist der erste Band einer Triologie gegen das
       Vergessen.
       
       4 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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