# taz.de -- Pädagogin über patriarchale Gewalt: „Der entscheidende Faktor ist nicht, wie kurz der Rock war“
> Jana Baumann wurde im Arbeitsumfeld vergewaltigt. In ihrem Buch
> „Unsagbar“ erklärt sie, warum sexualisierte Gewalt ein gesellschaftliches
> Problem ist.
(IMG) Bild: Die Gesellschaft in die Verantwortung nehmen: Zitat von Gisèle Pelicot auf dem feministischen Kampftag in Hamburg
taz: Frau Baumann, warum fällt es Betroffenen von sexualisierter Gewalt so
schwer, darüber zu reden?
Jana Baumann: [1][Weil wir sexualisierte Gewalt nicht als
gesamtgesellschaftliches Problem begreifen], sondern als Ansammlung von
Einzelfällen. Sexualisierte Gewalt ist mit Schamgefühlen verbunden, sie
bleibt ein Tabu. Und Tabus zu brechen kostet Kraft – eine Kraft, die viele
Betroffene in dem Moment einfach nicht aufbringen können.
taz: Ist es bequemer, sexualisierte Gewalt zu individualisieren, als mit
der Ohnmacht leben zu müssen, dass man sich nicht vor ihr schützen kann?
Baumann: Ja. Ich hätte nie gedacht, dass mir das mal passiert. Ich bin 1,80
groß und ich agiere in den meisten Kontexten sehr selbstbewusst. Aber
[2][es kann eben jeder Person passieren]. Dass sich jemand entschieden hat,
Gewalt auszuüben und man selbst keine Mittel hatte, sich dagegen zu wehren
beziehungsweise sich jemand mit Macht und Brutalität darüber hinweggesetzt
hat, ist schwer auszuhalten. Wir haben als Gesellschaft viele
Vergewaltigungsmythen internalisisert, Mythen, die zur Täter-Opfer-Umkehr
führen.
taz: Was sind Vergewaltigungsmythen?
Baumann: Sie sind der gesellschaftliche Versuch, einfache Antworten auf
komplexe Fragen zu finden: der dunkle Park, der Minirock, Alkohol. Auch
beim Täterbild sind es oft rassistische Mythen, die immer wieder
reproduziert werden. Dabei ist die Realität, dass rund 80 Prozent der
Betroffenen den Täter kannten und das persönliche, nahe Umfeld für viele
der gefährlichste Ort ist. Der entscheidende Faktor ist nicht, wie kurz der
Rock war, sondern wie wenig Macht eine Person grundsätzlich oder in der
Situation hat. Je marginalisierter eine Person ist, umso höher ist die
Gefahr, dass sie von Gewalt betroffen ist.
taz: [3][Laut Statistiken werden nur circa zehn Prozent aller
Vergewaltigungen angezeigt]. Auch Sie haben sich gegen eine Anzeige
entschieden. Was läuft falsch im Rechtssystem?
Baumann: Im Rechtssystem spielen benannte Mythen und patriarchale
Überzeugungen leider noch eine große Rolle und äußern sich in Fragen, die
eine Mitschuld suggerieren. Für mich fühlt sich dieser Raum nicht wie ein
Schutzraum an. Und die [4][Chancen, dass es überhaupt zu einem Prozess
kommt, geschweige denn zu einer Verurteilung sind verschwindend gering].
All das ermutigt wenig. Insgesamt muss sich strukturell eine ganze Menge
verändern. Polizei, Justiz und auch medizinische Einrichtungen sind viel zu
wenig sensibilisiert. Auch [5][juristisch tragen wir viel zu wenig zum
Gewaltschutz bei].
taz: Diese sehr persönliche Aufklärungsarbeit leisten Sie neben Ihrem Job
als Unternehmensberaterin. [6][„Unsagbar“ haben Sie unter Ihrem Klarnamen
veröffentlicht] und Sie haben sogar auf Ihrem LinkedIn-Profil Posts darüber
gemacht. Das war sicherlich sehr unbequem für viele Menschen, insbesondere
für Sie. Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden?
Baumann: Es war ein langer Weg von der Betroffenen zur Autorin und dann zur
Aktivistin. Je mehr ich über die Tat und die juristische Realität gelernt
habe, desto klarer wurde mir: Wir müssen die Gesellschaft belasten, um
Betroffene zu entlasten. Und dafür müssen wir sprechen. Ich bin eine sehr
privilegierte Frau, das macht es mir möglich, zu sprechen. Viele andere
können das nicht. Mir war klar: Sobald ich das poste, liegt diese
Geschichte auf den Frühstückstischen meiner Kolleg*innen. Das hat
Überwindung gekostet. Aber sie ist eben Teil meines Lebens. Und ich kann
trotzdem ein glückliches Leben führen und meinen beruflichen Weg
weitergehen. Auch damit möchte ich aufräumen: mit der Vorstellung, wie
„Opfer“ zu sein haben. Letztendlich hat sich dieser Schritt unglaublich
befreiend angefühlt. Jetzt ist die Geschichte draußen. Sie liegt nicht mehr
nur auf meinen Schultern.
taz: Am 25. November ist der [7][Tag gegen patriarchale Gewalt]. Was muss
sich ändern?
Baumann: Lasst uns sexualisierte Gewalt endlich als
gesamtgesellschaftliches Thema begreifen. Wir brauchen Aufklärungsarbeit
darüber, wo Gewalt stattfindet und was sie verursacht. Wir müssen anfangen,
Gewalt ernsthaft zu verurteilen. Das fängt schon bei verbalen Belästigungen
und Erniedrigungen an, die oft noch weggelacht werden. Wir müssen auch
etwas gegen tradierte Rollenbilder tun, die patriarchale Strukturen weiter
stärken. Ein Grund, warum nur etwa fünf bis zehn Prozent der Betroffenen
sexualisierte Gewalt überhaupt anzeigen, liegt daran, dass die Strukturen
fehlen, die ihnen Sicherheit geben. Neben Prävention brauchen wir also
kostenlose, niedrigschwellig erreichbare Fachberatungsstellen und endlich
ausreichend Plätze in Frauenhäusern. Wir müssen da hinschauen, wo es
unbequem ist, sprechen, statt zu tabuisieren und als Gesamtgesellschaft
Verantwortung übernehmen.
23 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Gewalt-gegen-Frauen/!6128143
(DIR) [2] https://www.frauennotruf-hamburg.de/sexualisierte-gewalt/zahlen-und-fakten/
(DIR) [3] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-04/studie-vergewaltigung-anzeige-verurteilung
(DIR) [4] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/vergewaltigung-warum-niedrige-strafen-gerichte-100.html#:~:text=Betroffene%20f%C3%BChlten%20sich%20dann%20nicht%20ernstgenommen%20und,Vergewaltigungen%20in%20Deutschland%20wirklich%20eine%20Verurteilung%20erfolgt.
(DIR) [5] /Rechtsanwaeltin-ueber-Gewalt-gegen-Frauen/!6049470
(DIR) [6] https://www.penguin.de/buecher/jana-baumann-unsagbar/buch/9783442394357
(DIR) [7] /Protest-gegen-Femizide-in-Berlin/!6110497
## AUTOREN
(DIR) Amanda Böhm
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