# taz.de -- Sozialpolitik von Union und SPD: So nicht!
> Bundeskanzler Merz hat einen „Herbst der Reformen“ zur Neuaufstellung des
> Sozialstaates angekündigt. Dies läuft aber nur auf ein konzeptionsloses
> Herumfuhrwerken in den Systemen hinaus.
(IMG) Bild: Orientierungslos in der Regierung: Die SPD-Spitze um Klingbeil (links), Bas (rechts) und Klüssendorf (hinten) verpasst es, bei der Sozialpolitik progressive Akzente zu setzen.
## „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir
volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“
– Bundeskanzler Merz am 23. August
[1][taz FUTURZWEI] | Etwa 200 Milliarden Euro, fast die Hälfte des
Bundeshaushalts in Höhe von 483 Milliarden Euro, fließen in die sozialen
Sicherungssysteme, die [2][Renten], die Gesundheitsversorgung, die
[3][Pflege] und anderes.
Die Milliarden aus den Steuereinnahmen decken die Defizite in den
Einzelsystemen, die durch die Beiträge nicht auskömmlich finanziert werden
können. Sie finanzieren darüber hinaus Transferleistungen, etwa das
[4][Bürgergeld] oder auch das [5][Wohngeld].
Jetzt sei es mal genug, die konsumptive Sause der letzten Jahrzehnte sei
vorbei, der Schlendrian oder das ambitionslose „Weiter so“ müssten
aufhören, tönt es in den Medien. Der [6][Sozialstaat] habe sich schon lange
von seinem subsidiären Grundgedanken verabschiedet, nämlich der
Unterstützung von Hilfebedürftigen nur dort, wo es aus eigener Kraft
überhaupt nicht mehr geht.
Stattdessen habe er sich zu einem bürokratischen Monster entwickelt, das
von Arbeitsscheuen, Sozialschmarotzern und nicht integrationswilligen
Flüchtlingen missbraucht würde.
## Philosophisch klingende Bürgerbeschimpfung
Dann gibt es noch eine eher philosophisch klingende Variante dieser
Bürgerbeschimpfung. „Bindet man die Demokratie an den Wohlstand als
Voraussetzung, bindet man sie an das Reich der Notwendigkeit zurück. Und
dies steht im Konflikt mit der Freiheit.“
In der Bundesrepublik glaube man daran, dass „die eigentliche
Existenzsicherung der Republik darin bestehe, eine Wohlstandsmaschine zu
sein“, schrieb der Publizist Thomas Schmid in der Zeit.
Wohlstand, soziale Sicherheit werden hier als Einschränkung der
Selbstverantwortung jedes Einzelnen, sowie des Weltgestaltungswillen der
innovativen CEOs gesehen, von deren freier Entfaltung in diesem Denken die
Zukunft des [7][Kapitalismus], der [8][Demokratie] und des Sozialstaates
abhängen.
Diese freie Entfaltung des Kapitals soll nun mit den Leistungskürzungen bei
den Transferleistungen befördert werden.
Mit einem Mix aus diesen Kürzungen am Sozialstaat, aus Steuersenkungen für
die Unternehmen, aus der Deregulierung der angeblich überbordend
bürokratisch geregelten Verfahren in der [9][Umwelt]-, [10][Wirtschafts]-
und [11][Energiepolitik] und mit staatlichen Subventionen in neue
Technologien auf Schuldenbasis, soll der Unternehmerfreiheit eine Schneise
geschlagen werden, selbstverständlich im Interesse der gesamten
Gesellschaft.
„Steuern, Beiträge und Gebühren sollen so ausgestaltet werden, dass
möglichst wenige Verzerrungen privater Investitions-, Arbeitsangebots- und
Konsumentscheidungen auftreten“, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler
Lars Feld in der FAZ.
## Streichen, kürzen, abschaffen
Die Ausgaben für das Bürgergeld, die Grundsicherung für alle
Arbeitsuchenden, sollen mit strengeren Sanktionen, bis hin zu völliger
Leistungsverweigerung, um 6 Milliarden Euro gesenkt werden. Der
Vermittlungsvorrang von Fördermaßnahmen für jeden Einzelnen soll
abgeschafft werden. Zumutbare Arbeit soll verpflichtend werden, unabhängig
von den Ausbildungsvoraussetzungen des Arbeitssuchenden. Die Karenzzeit von
Vermögen in den Familien der Arbeitssuchenden in Höhe von 80.000 Euro soll
gestrichen werden.
Die Struktur des Sozialstaates soll gestrafft, das Wohngeld und das
[12][Kindergeld] ins Bürgergeld einbezogen und als selbständige
Sozialleistung abgeschafft werden. Die Verrechnung von Löhnen, was bisher
das Bürgergeld mindert, soll abgeschwächt werden, was das Arbeiten mit
Billiglöhnen stärkt, die Rückkehr in dauerhafte Beschäftigung aber
behindert.
Bei den Renten werden vorerst direkte Kürzungen ausgeschlossen. Im
Gegenteil, der bisher geltende Demographie-Faktor in der Rentenformel, der
die Zunahme der Renten dämpft, soll bis 2031 ausgeschaltet werden. Die
[13][Mütterente] wird zum dritten Mal erhöht, was insgesamt Mehrkosten aus
dem Bundeshalt in Höhe von 14 Milliarden Euro jährlich zur Folge hat.
Eine Erhöhung des Renten-Eintrittsalters steht bisher nicht auf der Agenda.
Für die Finanzierung dieser Rentenpolitik werden allgemeine
[14][Steuerhöhungen] erwogen. Dieses Vorgehen verwundert nur deshalb nicht,
weil hier wohl die überproportionale Dominanz der Alten im Elektorat
entscheidungsleitend berücksichtigt wird.
In der Krankenversicherung sollen weitere Beitragssteigerungen vermieden
werden. Deshalb müssen die Kosten des Gesundheitssystems sinken, was nur
mit Leistungsbeschränkungen und höheren privaten Beteiligungspflichten der
Kranken an den Kosten, die sie verursachen, möglich wird.
Zur Absicherung der Finanzierung der Gesundheitskosten wird die Erhöhung
der Beitragsbemessungsgrenze diskutiert, was die CDU aber strikt ablehnt.
In der Pflege ist die Idee einer Ausweitung über die aktuelle
Teilkasko-Pflegeversicherung hinaus hin zu einer Pflege-Bürgerversicherung
für alle in der Diskussion. Zu ihrer Finanzierung sollen alle und alle
Einkommensarten herangezogen werden, was trotzdem zu höhere Beiträgen für
die Pflegeversicherung führen wird. Zusätzlich sind pflichtige private
Zusatzpflegeversicherungen im Gespräch.
## Und die SPD?
Dieses von Bundeskanzler Merz großspurig als „Herbst der Reformen“
angekündigte Programm zum Neuaufstellen des Sozialstaates kann als
konzeptionsloses Herumfuhrwerken in den Systemen des aktuellen
Sozialstaates qualifiziert werden.
Das Ziel, damit die Sozialleistungen so zu kürzen, dass die Wirtschaft
daraus wesentliche Einsparungen für ihre Investitionen generieren kann,
wird ebenso wenig erreicht, wie das dringend notwendige Neujustieren des
Sozialstaates für die nächsten Jahrzehnte.
Diese Neujustierung ist aber auch ohne substantielle Kürzungen der
Leistungen, nur moderaten Erhöhungen der Beiträge und der Fortsetzung des
Defizitausgleichs aus dem Bundeshaushalt möglich, wenn die Strukturen des
Sozialstaates nutzerorientiert und evidenzbasiert effektiv neu aufgestellt
würden.
Wie das funktionieren kann, hat Ex-Gesundheitsminister [15][Karl
Lauterbach] ([16][SPD]) hat mit seiner [17][Krankenhaus-Reform] gezeigt,
der Schließung von viel zu kleinen Krankenhäusern bei gleichzeitiger
Verbesserung der Versorgungsqualität gezeigt. Die SPD hat ihren primär
strukturpolitisch denkenden Vorzeige- und Fach-Minister Lauterbach ohne Not
in der zweite Reihe geschickt.
Sie signalisiert damit, dass sie ihre Sozialpolitik weiter auf eine
monetäre Absicherung der Höhe aktueller Sozialleistungen ausrichtet und
sonst nichts. Was sie zu Kompromissen mit der [18][CDU] zwingt, die sich
dann doch nur als ordinäre Sozialkürzung erweisen.
Beispiel: Sozialministerin Bärbel Bas hat bereits eine zweite Nullrunde,
das meint den Verzicht auf einen Inflationsausgleich beim Bürgergeld
angekündigt.
Die Arbeitenden in der Bundesrepublik haben in vielen Jahrzehnten mit ihren
[19][Gewerkschaften] einen soliden, keinesfalls luxuriösen Sozialstaat
erkämpft. Warum statt einer Effizienzrevolution des Sozialstaates sie nun
Verschlechterungen ihrer sozialen Versorgung hinnehmen sollen, zugunsten
der Investitionen von Unternehmern und deren Profitabilität, ist überhaupt
nicht nachzuvollziehen.
🐾 Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI
N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ [20][gibt es jetzt im taz Shop].
1 Sep 2025
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