# taz.de -- Argentinischer Film „Kill the Jockey“: Ein eigenwilliger Galopp
       
       > Der Regisseur Luis Ortega bürstet im Film „Kill the Jockey“ so einiges
       > gegen den Strich. Er bietet Surrealismus, logische Brüche und viel
       > Popmusik.
       
 (IMG) Bild: Tanzen, einfach so: Remo Manfredini (Nahuel Pérez Biscayart) und Abril (Úrsula Corberó) in „Kill the Jockey“
       
       Wer Jockey werden will, entscheidet sich für das Risiko, verletzt zu
       werden. Wer Jockey werden kann, das ist vor allem eine Frage des Körpers.
       In den Sattel darf nur, wer ein exaktes Gewicht hält, das punktgenau
       gewogen wird. Drogen sind für Jockeys natürlich tabu, nicht jedoch bei Luis
       Ortega, der in „Kill the Jockey“ das Reiter*innenleben so entgrenzt
       zeigt, wie es wohl selten zu sehen war.
       
       Klischees von Sportler*innen als Adrenalinjunkies lässt er in besonders
       exzentrischen Figuren, erzählerischen Eskapaden und einem unberechenbaren
       Popmusikmix aufgehen, um in immer ironischeren dramaturgischen Finten die
       Grauzonen zwischen Leben und Tod, Trance und Wachkoma, Humor und Tragik zu
       erkunden.
       
       Remo und Abril sind ein Liebespaar und reiten für Rubén – einen Verbrecher,
       der mit einer kleinen Bande von Kriminellen alle Zügel ihres Lebens in der
       Hand zu halten scheint. Remo wohnt in einer Scheune und wird von Rubéns
       Leuten bewacht, obwohl er im ganzen Land bekannt ist und als Star der
       argentinischen Jockeyszene gilt.
       
       Seinem Ruf entsprechend benimmt er sich und hält mit Drogen nicht hinterm
       Berg: Ketamin mit Whisky und einer Kippe sind sein Warm-up vor dem ersten
       Rennen des Films, seine erfolgreichsten Tage scheinen hinter ihm zu liegen.
       Abril holt mittlerweile die Siege und sorgt bei den Bossen für gute
       Stimmung – nicht jedoch bei Remo, der sich mehr Zuneigung von ihr wünscht.
       
       Als ob Abrils schwindende Liebe für Remo nicht tragisch genug wäre,
       verliert die Verbrecherbande auch noch die Geduld und setzt Remo ein
       Ultimatum: Er soll wieder zu seiner alten Form zurück, sonst wird er bei
       der nächsten Gelegenheit kaltgemacht. Für eine Million holen die Geldhaie
       ein Pferd namens Mishima aus Japan und hoffen auf den Gewinn ihres Lebens.
       Remo setzen sie auf Entzug, alles scheint nach Plan zu laufen. Doch schon
       kurz nach dem Start des großen Rennens gerät es aus den Fugen: Ein Unfall
       setzt Remo außer Gefecht und lässt ihn völlig verändert auferstehen, um
       zurück unter den Lebenden zu wandeln.
       
       ## Abgründe und Absurditäten
       
       Ortega lässt „Kill the Jockey“ in einem Milieu des korrupten
       Leistungssports spielen, wo Gewichtskontrollen, mentaler Stress,
       Prekarität, Ausbeutung und Geschäftsinteressen den Ton angeben. Bei den
       Reitturnieren seines Films sollen junge Männer und Frauen sich größten
       Gefahren für Leib und Leben aussetzen, nur um reichen Leuten eine
       unterhaltsame Show und einen Anlass zu ihren Sportwetten zu liefern. Aus
       den Abgründen und Absurditäten des Settings entspinnt er eine fiebrige,
       rastlose Unterwelt voller schillernder Stilblüten.
       
       Statt Pferderennen zu präsentieren, zeigt Ortega lieber die Uniformen der
       Reiter*innen, wendet sich immer wieder gegen Erwartungen, lässt erst den
       Realismus auf der Strecke bleiben, dann die Logik. „Kill the Jockey“
       entwickelt sich über wild zusammengewürfelte Versatzstücke aus Sozialdramen
       und Charakterstudien, aus Gangsterfilmen, Musikvideos, Geistergeschichten
       und absurden Komödien zielstrebig zu einer doppelbödigen filmischen
       Auseinandersetzung mit Stillstand, Hoffnung und Weiterentwicklung in
       einer Welt, die tragisch wäre, wenn der Film sie weniger absurd und
       leichtfüßig erzählen würde.
       
       Ortega entwickelt seinen Film vor allem körperlich, lässt seinen
       Hauptdarsteller [1][Nahuel Pérez Biscayart] schwitzend durch die
       verwinkelten Gänge einer Pferderennbahn jagen, immer auf der Suche nach dem
       nächsten Rausch, wirbelt ihn durch die Luft wie im Slapstick, lässt ihn
       tanzen, keuchen, starren, rauchen, filmt ihn oftmals aus nächster Nähe. Ein
       sonderbarer Verband ziert in einem Teil des Films seinen Kopf, verdeckt
       eine Wunde und erweitert den Schädel zu einem Ei oder Kokon, eine seiner
       Pupillen verformt sich beim Unfall, fortan schminkt er sich, dann wechselt
       sein Geschlecht, schließlich auch sein Name, von Remo zu Dolores.
       
       ## Launenhafte Welt der Geschwindigkeit
       
       Bald verliert sein Körper das Gewicht, ist nicht mehr zu wiegen, nicht mehr
       greifbar, nicht mehr definierbar, widersetzt sich der Schwerkraft,
       transformiert sich schließlich ganz und gar in eine neue Form. Ortega
       spielt durch, was vorstellbar und unvorstellbar ist in seiner launenhaften
       Welt der Geschwindigkeit und des Verbrechens, nimmt dabei keine Situation
       so ernst, dass man sie wirklich mit der Realität verwechseln könnte.
       
       „Kill the Jockey“ ist ein Film mit durch und durch eigenem Regelwerk und
       Zeichensystem, der sich am Sport, an der Popkultur und an queeren
       Körperpolitiken umfassend bedient, aber in der Summe seine Verbindlichkeit
       der Welt gegenüber aufkündigt.
       
       Aus der argentinischen Independent-Filmszene hat sich Luis Ortega seit
       seinem Regiedebüt von 2002 zu einem gefragten Regiestar in der Kino- und
       TV-Branche seines Lands entwickelt. Mit „Kill the Jockey“ wurde er kürzlich
       bereits zum zweiten Mal ins Rennen um den Preis für den besten
       internationalen Film geschickt, zuvor 2018 mit „El Ángel“. Mit beiden
       Filmen wurde er zu den Wettbewerben der größten europäischen
       Filmfestivals in Cannes und Venedig eingeladen. Damit verbunden:
       unterschiedlichen Erwartungen an seine Kunst und eine umso größere
       Herausforderung, den Sinn für einen eigenen Stil zu bewahren.
       
       ## Verschiedene Ideen von Kino prallen aufeinander
       
       Mit „El Ángel“ gab er sich dem geradlinigen Erzählkino hin und drehte einen
       geistreichen, aber gefälligen Film über Schönheit, Jugend und Verbrechen,
       der es dem Publikum auffällig leicht machte. Nun hat er sich für eine
       künstlerische Kehrtwende entschieden und lässt ganz verschiedene Ideen von
       Kino auf unwahrscheinliche Weise aufeinanderprallen. Immer wieder wechselt
       er den Modus zwischen sinnlichen Szenen mit überbordendem und überdeutlich
       illustrativem Musikeinsatz und rätselhaften, komischen und symbolischen
       Momenten.
       
       Am stärksten ist „Kill the Jockey“, wenn Ortega sich mit einem platten Witz
       oder einem schrägen Kommentar der posenhaften Eleganz entgegenstellt, die
       im Programm zahlreicher europäischer Filmfestivals heute Hochkonjunktur
       hat. Auf spezialisierten Veranstaltungen wie dem FIDMarseille oder dem
       Locarno Film Festival kommt besonders gut ein Kino an, in dem
       Akademiker*innen die Welt kritisch-reflektiert durchschauen, moralisch
       auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und ihre Selbstkritik gleich
       mitliefern. Programmentscheidungen internationaler Kurator*innen werden
       immer gleichförmiger.
       
       Ortega hingegen grenzt sich mit seinem Film merklich vom über jeden Zweifel
       erhabenen, intellektuellen Festivalkino ab und sucht Zuflucht vor
       geschlossenen Perspektiven in der Wildheit des Surrealismus, in den
       Zeichenspielen des Musikfilms, in der scharfzüngigen Schamlosigkeit und
       radikalen Empathie der Dragszene. Er macht sich lustig über den
       hyperspezialisierten Menschen – den Jockey, der seine Berufskleidung wie
       eine zweite Haut trägt und zur Karikatur und zum popkulturellen Rätsel
       wird. Er verweigert Psychologisierungen und Annahmen über Personen aufgrund
       ihrer sozialen Klasse oder ihres Geschlechts.
       
       Die einzig feste Größe seines Films ist der unaufhörliche und unerhörte
       Wandel, die Abkehr von Sicherheiten, Deutungshoheiten und Konventionen.
       Stattdessen: ein eigenwilliger Galopp mit unbestimmtem Ziel, getrieben von
       der Hoffnung, dass das Schicksal seinen Sinn für Ironie nie verlieren möge.
       Und immerzu die hypnotischen Augen von Nahuel Pérez Biscayart.
       
       16 Sep 2025
       
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