# taz.de -- Zukunft der Bibliotheken: Rettet die Zettel!
> Die Berliner Staatsbibliothek will ihre Zettelkästen mit Millionen von
> Karteikarten wegwerfen. Es ist nicht nostalgisch zu sagen: Das darf auf
> keinen Fall passieren.
(IMG) Bild: Der Zettelkasten ist eine besondere Kulturtechnik. Hier Auszüge aus dem Kasten des Soziologen Niklas Luhmann.
[1][taz FUTURZWEI] | Die Berliner Staatsbibliothek, liebevoll Stabi
gerufen, ist der Zentralort der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Seit
1990 ist sie in zwei Baudenkmälern an der Potsdamer Straße und Unter den
Linden wieder zusammengeführt. Hier gibt es Lesesäle, die sich als Orte des
Studierens und des Forschens tief ins Lebensbewusstsein von Studenten und
Wissenschaftlern eingraben.
In ihrer Mitte finden sich die Zettelkästen mit Millionen Karteikarten, das
wohlgeordnete Abbild menschlichen Wissens, die Dokumentation der deutschen
Wissenschaftsgeschichte.
Seit dem Jahr 1500 wurden in diesen Zettelkästen die Daten aller
Neuerscheinungen im deutschen Sprachraum mit ihrem Verfügungsort
aufgeschrieben. 1995 hat der [2][Bundestag] die bis dahin geltende Pflicht
für die Verleger aufgehoben, von jeder Neuerscheinung ein Exemplar der
Stabi kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Heute muss die Stabi alle Zukäufe aus ihrem jährlichen Etat stemmen. Wegen
der Haushaltskürzungen kann sie die neuesten Ausgaben wissenschaftlicher
Fachzeitschriften oft nicht beschaffen.
Bewacht und fortgeschrieben werden die Zettelkästen von den Bibliothekaren.
Auf den Karteikarten finden sich Name, Autor und Erscheinungsdatum, aber
auch andere Zeichen und Hinweise, die weiterführen und einordnen.
Die Bibliothekare haben mit den von ihnen händisch gepflegten Zettelkästen
eine überschaubare Ordnung allen menschlichen Wissens geschaffen.
## Digitalisierung und Karteikarten
Nun ist es aber so, dass die Digitalisierung auch vor dieser
jahrhundertealten, analogen Institution nicht Halt macht. Achim Bonte, seit
Herbst 2021 Generaldirektor der Stabi, will im Rahmen einer bevorstehenden
Sanierung alle Zettelkästen mit Millionen von Karteikarten wegschmeißen.
(Siehe dazu auch FAZ vom 18. August.)
Zwar gibt es schon seit Jahren neben den Zettelkästen einen elektronischen
Katalog, der gegen Datenverluste, [3][Hacker] und Stromausfall als
gesichert gilt, der aber die ergänzenden Hinweise auf den Karteikarten
nicht übernommen hat.
In Gutachten, die die Mitarbeiter der Stabi erstellt haben, werden
überschaubare Kosten und ausreichend Platz für den Erhalt der Zettelkästen
auch im Rahmen der millionenschweren Sanierung nachgewiesen. Das hat Bonte
freilich bisher ignoriert. Dabei könnten sich Zettelkasten und E-Katalog
sinnvoll ergänzen.
Die Zettelkästen fördern wegen der möglichen Verknüpfung von Notizen und
anderen Zeichen neue Ideen und Netzwerke für gelingendes,
wissenschaftliches Arbeiten, während der E-Katalog die auf
Erscheinungsdaten reduzierte Informationssammelstelle ist und bleibt.
Die Library of Congress in [4][Washington], die größte Bibliothek der Welt,
die Nationalbibliothek in [5][Paris], die bayerische, die österreichische
Staatsbibliothek und andere halten an den Zettelkästen neben ihren
E-Katalogen fest. Hier wird nichts weggeschmissen.
## In eine Krise der Bibliotheken?
Warum will die Stabi das nicht auch tun und warum schlägt diese deutsche
Geschichtsvergessenheit keine Wellen? Sicher, es gibt wegen der aktuellen
Kriege, der schwierigen, ökologischen Transformation, der demographischen
Krise des [6][Sozialstaates] Probleme, die mehr Aufmerksamkeit verlangen.
Das Wegsehen ändert nichts daran, dass sich hier eine in der Wirkung der
Bilderstürmerei vergleichbare Gleichgültigkeit gegenüber allem Denken Bahn
bricht, das sich analoger Techniken bedient.
Wenn das so weitergeht, dann werden [7][Bibliotheken], die heute noch
Wissenstürme, Studien- und Kommunikationsorte sind, zu
Bücheraufbewahrungshäusern.
Das wären aber nur Sekundarfolgen viel tiefgreifenderer Veränderungen in
den Denkstrukturen der Gesellschaft. Die Digitalisierung aller
Lebensbereiche entzieht den Menschen mehr und mehr die Fähigkeiten, in
eigener sinnlicher Erfahrung die Welt nachdenkend mitzugestalten.
Das gesamte öffentliche Leben, alle zwischenmenschlichen Beziehungen, das
Lernen, Denken und Gestalten verschwinden in virtuellen Welten. Es wird
nicht ernst genommen, dass Daten und Informationen in diesen virtuellen
Welten Machtmittel und Herrschaftsinstrumente sind.
## Einzug der Tech-Milliardäre
Die privaten Herrscher über die Daten zeigen sich immer unverfrorener als
neue Fürsten einer digital-feudalen Weltordnung. Was als gewinnbringende,
technische Innovation für den Zugang zu allem Welt- und Zukunftswissen
begonnen hat, wird für die Mehrheit immer deutlicher zu einem Instrument
der Unterdrückung ihrer zivilen Bedürfnisse und führt zu ihrer digital
kontrollierten Einbindung in autoritär bestimmte politische Systeme.
Das mag apokalyptisch oder nostalgisch den untergehenden analogen Welten
hinterhertrauernd klingen, hat aber einen harten Kern historischer
Erfahrung. Freies Denken in einer ansonsten totalen Diktatur gibt es dann
nur noch in Nischen.
Zum Beispiel bei den Zettelkästen in der Bibliothek, einem Netzwerk mit
einander verbundener Informationen. Der Zettelkasten in der Stabi in
Ostberlin war während der [8][DDR]-Herrschaft ein solcher Ort des nahezu
ungestörten Übertretens der [9][SED]-Leseverbote.
Die Verweise auf die Weltliteratur, die Ausleihverbote auf den Karteikarten
boten Hinweise darauf, sich das verbotene Wissen selbst zu erschließen. Die
Zettelkästen waren ein Fenster ins Offene.
Mit der Vernichtung aller Zettelkästen würde dieser potentielle Freiraum
für immer verschlossen. Daher muss man fragen, warum die Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, der Kulturstaatsminister und der Verein der
Freunde der Stabi, dessen Vorsitzender der ehemalige Wirtschaftsminister
[10][Peter Altmaier] ([11][CDU]) ist, Herrn Bonte bisher ohne jeden
Widerspruch gewähren lassen.
Wer Zettelkästen wegschmeißt, wird irgendwann auch Bücher wegschmeißen, wer
braucht sie, es gibt ja das E-Book.
Lesen, das lustvolle Umblättern der Seiten, der Geruch langsam älter
werdender Bücher, die in ihnen lebendigen Welten ihrer Gedanken und
Geschichten, werden in der digitalen Welt von Morgen nicht mehr gebraucht.
🐾 Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe unseres Magazins taz FUTURZWEI
N°33 mit dem Titelthema „Wer bin ich?“ [12][gibt es jetzt im taz Shop].
25 Aug 2025
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