# taz.de -- Parlamentswahlen in Norwegen: Wo alle miteinander reden
       
       > Auch wenn Rechts gegen Links kämpft, die Gräben in der norwegischen
       > Gesellschaft sind nicht so tief wie anderswo. Woran liegt das?
       
 (IMG) Bild: Will die nächste Regierungschefin Norwegens werden: die Vorsitzende der rechten Fortschrittspartei, Sylvi Listhaug
       
       Oslo taz | Drei junge Frauen und sechs junge Männer, politisch ganz rechts
       bis ganz links, in einem großen Menschenknäuel: Gruppenumarmung im
       Kulturzentrum Salt in Oslo. Nicht, dass das Alltag wäre. Diese Debatte der
       politischen Jugendorganisationen Norwegens wird von der Komikerin St.
       Sunniva geleitet. Sie darf so etwas – die Kontrahenten, die sich gerade
       noch verbal bekämpft haben, zum Abschlusskuscheln auffordern.
       
       Dass die das mitmachen, ist nicht überraschend. Der Ton wird in diesen
       Tagen von allen Seiten gesetzt: Der Vorsitzende der rechten
       Fortschrittspartei-Jugend sagt es während der Debatte. Eine
       Wahlkampfhelferin der linksradikalen Rødt sagt es an ihrem Wahlstand. Eine
       konservative Bekannte sagt es, die in ihrem Lesezirkel plötzlich eine
       Rødt-Wählerin entdeckt: Wie schön ist es doch, dass wir in Norwegen alle
       miteinander reden können.
       
       Gerade debattieren sie im Akkord, denn am 8. September sind
       Parlamentswahlen.
       
       Ja, sie lieben dieses Land, so beginnt auch [1][ihre Nationalhymne].
       Zerfurcht und vom Wetter gezeichnet, rage es aus dem Wasser empor. Die
       Norweger haben noch eine zweite Hymne, inoffiziell: „Mein kleines Land, ein
       kleiner Ort, eine Handvoll Frieden, hingeworfen über Weiten und Fjorde.“
       Ein Song, eigentlich aus der EU-Beitrittsdebattenzeit der 1990er Jahre –
       nach den rechtsextremen Terroranschlägen vom 22. Juli 2011 bekam er eine
       neue Rolle. Das trauernde Land nahm [2][Maria Menas Version] als eine Art
       heimliche Nationalhymne an.
       
       Fortschritt, Wohlstand und der immense staatliche Geldvorrat gehören längst
       zu den Markenkernen Norwegens, Öl und Gas sei Dank.
       
       ## Selbst die Rechtspopulisten sind im Vergleich moderat
       
       Dazu die übertrieben schöne Landschaft. Sie ist nicht neu, wird aber mit
       immer luxuriöseren Ferienhäusern bebaut und von immer mehr internationalen
       Reisenden bewundert. Trotzdem ist Norwegen etwas von dem Alten geblieben,
       das sich auch in „Mein kleines Land“ widerspiegelt. Die Natur ist groß, der
       Mensch klein, die Wege sind weit, die Winter dunkel, das Leben kann hart
       sein und die Feinde übermächtig. Aber wir bleiben ruhig und halten
       zusammen, trotz allem ist es ja nirgendwo schöner als hier.
       
       Das ist natürlich eine stilisierte Deutung. Aber der bewährte Umgang mit
       Widrigkeiten schwingt weiter mit, auch im neuen Tesla-Norwegen, wo
       Hightechtunnel nach und nach die alten, gefährlichen Bergstraßen ersetzen.
       
       Er schwang nicht zuletzt auch mit in der Antwort auf Utøya. Mehr Offenheit,
       mehr Demokratie lobte der damalige Ministerpräsident und aktuelle
       Finanzminister Jens Stoltenberg aus, nachdem der Rechtsterrorist Anders
       Behring Breivik im Jahr 2011 im Regierungsviertel von Oslo und im
       Sommerlager der sozialdemokratischen Arbeiterpartei-Jugend 77 Menschen
       getötet hatte.
       
       Zur Antwort gehörten auch die Rosenumzüge, ein Meer aus einzelnen roten
       Rosen, hochgehalten bei stillen Demonstrationen in Oslo. Sie stärkten das
       Selbstgefühl: Wir gehen selbst mit einer solchen Terrorkatastrophe auf
       unsere eigene Art und Weise um.
       
       So etwas prägt. Die Gräben in der Gesellschaft sind nicht so tief wie
       andernorts. Selbst die Fortschrittspartei (FrP) sei im Vergleich zu allen
       anderen rechtspopulistischen Parteien – wie den Schwedendemokraten und vor
       allem der AfD – moderat. Das sagt unter anderem der norwegische
       Wahlforscher Johannes Bergh.
       
       ## Entstanden als Protestpartei
       
       „Wag es nicht, uns mit der AfD zu vergleichen!“, sagt auch Simen Velle, der
       Vorsitzende der FrP-Jugend, bei der Podiumsdiskussion im Kulturzentrum. Ein
       Kontrahent hatte da gerade erwähnt, dass die AfD da groß geworden sei, wo
       die Arbeitslosigkeit nach der Wende am höchsten war. Er hatte das im
       Zusammenhang mit Kritik an der FrP gesagt, die staatliche Subventionen für
       Offshore-Windkraft und Grüne Industrie ablehne und damit künftige
       Arbeitsplätze gefährde.
       
       Wofür die FrP steht: weniger Staat, keine Vermögenssteuer, mehr Polizei,
       Strafmündigkeit für Jugendliche runter von 15 auf 14, Asylverfahren (und
       die Menschen dahinter) ins Ausland auslagern. Damit gewann sie am
       vergangenen Dienstag schon die Schulwahl.
       
       Diese Tradition an norwegischen Oberstufen kurz vor der Parlamentswahl gilt
       als wichtiger Indikator – entsprechend selbstbewusst trat am Abend danach
       FrP-Chefin Sylvi Listhaug bei der letzten TV-Debatte auf. Sie will den
       sozialdemokratischen [3][Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre] ablösen und
       als Ministerpräsidentin eine Mitte-rechts-Regierung anführen.
       
       Entstanden ist die FrP in den 1970er Jahren als Protestpartei gegen zu hohe
       Steuern und Regulierungen. Sie hat eine lange Geschichte der rhetorischen
       Abwertung muslimischer Einwanderer. Das gilt offiziell als abgehakt, ebenso
       wie alte Tiraden von Parteichefin Listhaug etwa gegen die Ehe für alle. Bei
       den Gegnern auf der linken Seite ist das aber nicht vergessen, sie warnen
       vor gesellschaftlicher Kälte. So oder so: Längst ist die Partei als Teil
       des bürgerlichen Lagers akzeptiert – und in vielem der konservativen Høyre
       gar nicht mehr unähnlich, der sie massenweise Stimmen abnimmt.
       
       Gruppenumarmungen, eine gemäßigte Rechte und die überall mitschwingende
       Zuneigung zu Norwegens Besonderheiten ändern aber nichts daran, dass hier
       über dieselben Dinge Uneinigkeit herrscht wie überall.
       
       ## Wie viel Wohlfahrtsstaat?
       
       Wie viel fürs Klima tun? Alles, sagt auf der Bühne im Kulturzentrum die
       erst 19-jährige Grünen-Parlamentskandidatin Frøya Skjold Sjursæther. Jubel
       von den Bierbänken, es ist ein eher linkes Publikum.
       
       Wie auf kriminelle Jugendgangs reagieren? Mehr Integration und
       Sozialarbeit? Darüber lachen die doch nur, meint FrP-Velle. Wie mit Israel
       umgehen? Boykottieren, meinen Linke, Rechte sind da zurückhaltender. Wie
       die Vielfalt gestalten? Die Pride-Flagge sei zu politisch, sollte nicht an
       Schulen gehisst werden. Dabei bleibt der Vertreter der Christlichen
       Volkspartei-Jugend und erntet Buh-Rufe. Wie viel Wohlfahrtsstaat? Die
       Formel lautet: je weiter links, desto mehr kostenlose Zahnbehandlung.
       
       Rechtsextremismus war in diesem Jahr kein großes Wahlkampfthema – aber dann
       drängte es sich buchstäblich mit Gewalt auf: In der Nacht zum 24. August
       wurde in Oslo die 34-jährige Tamima Nibras Juhar getötet – während ihrer
       Nachtschicht in einer Jugendeinrichtung, wo sie allein ihrem rechtsextremen
       Schützling ausgeliefert war. Der 18-Jährige selbst sagte, er habe es getan,
       weil sie Einwanderin gewesen sei und Muslima. Ermittelt wird wegen einer
       terroristischen Tat.
       
       Drei Tage ist das erst her, als Komikerin St. Sunniva die Podiumsdebatte
       eröffnet. Rechtsextreme Gewalt ist nicht als eigener Diskussionspunkt
       eingeplant. Sie nimmt sich vorab einen Moment, spricht über das Opfer, den
       Schock, die Solidarität. Und sie lässt Gaute Børstad Skjervø zu Wort
       kommen, nur ihn. Der Vorsitzende der Arbeiterpartei-Jugend hat 2011 Utøya
       überlebt.
       
       ## Ein Problem für die Demokratie
       
       Es täte wahnsinnig weh, sagt er, dass Menschen in Norwegen immer noch
       Gefahr liefen zu sterben, weil es nicht gelänge, das Krebsgeschwür
       Rechtsextremismus loszuwerden. Er habe gehofft, dass das Land von den
       Rosenumzügen gelernt hätte. Eine Woche nach dem Mord wird ein neuer
       Rosenumzug – diesmal in Gelb, ihrer Lieblingsfarbe – an Tamima erinnern.
       
       Am Ende der Debatte erzählt die Vorsitzende der Roten Jugend, Amrit Kaur,
       von all den Beleidigungen und Bedrohungen, denen sie als nichtweiße, linke
       und nun in der Öffentlichkeit stehende Frau ausgesetzt sei. „Wenn
       Minoritätenfrauen sich nicht sicher fühlen können, ist das ein Problem für
       die Demokratie“, sagt sie. Dann scherzt sie sich aus dem ernsten Moment
       heraus. Immerhin lebe sie noch, obwohl sie Kommunistin sei. All das gehört
       zu dem, was die Norweger liebevoll ihr kleines Land nennen.
       
       6 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=2MYRRJ16Wc0&ab_channel=JRvideos
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=tOQAVXLKq2A&ab_channel=fin
 (DIR) [3] /Parlamentswahl-in-Norwegen/!6111954
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Diekhoff
       
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