# taz.de -- Der Hausbesuch: Berlin am Bodensee
       
       > Juliette Hathaway lebt dort, wo andere nach Ruhe und Entspannung suchen.
       > Bequem macht sie das nicht.
       
 (IMG) Bild: Juliette Hathaway ist Sozialarbeiterin, Mutter, „Schwester im Staub“ – und Rückkehrerin nach Lindau
       
       Als Juliette Hathaway zurück nach Lindau zog, behielt sie als Erinnerung an
       Berlin die Sehnsucht. Vielleicht geht sie irgendwann wieder zurück? „Wer
       weiß, was in 15 Jahren ist.“
       
       Draußen: Das glitzernde Wasser des Bodensees und das sich darin
       reflektierende Licht hellen die graugrüne Farbe des Hauses auf. Es liegt
       direkt am Lindauer Inselhafen. Menschen flanieren die enge Straße entlang,
       vorbei an Platanen und Kübelpalmen hin zur Seepromenade mit ihrem alten
       Leuchtturm. Ein steter Lautteppich liegt in der Luft. Sprachfetzen,
       Kofferrollen, Raunen, das Tuten einfahrender und ausfahrender
       Touristenschiffe und das mitunter scheppernde Spiel der Musizierenden am
       Straßenrand. „Bella ciao, ciao, ciao.“ Dazu schlägt jede Viertelstunde die
       Uhr des mit historischen Szenen bemalten Alten Rathauses. Davor stehen
       Autos und der Lindaviabrunnen, die weibliche Personifizierung der Stadt mit
       Lindenzweig in der Hand. Im Hintergrund Alpenpanorama. Direkt da also, wo
       eine touristische Sehnsuchtskulisse sich weitet, wohnt Juliette Hathaway
       mit ihren Kindern und dem Hund, den sie meist „German“ ruft, gesprochen:
       „Dschermen“, du Deutscher.
       
       Drinnen: Wild verteilt hängen in der ganzen Wohnung Plakate, Fotos,
       Grafiken, Bilder, Postkarten und Texte – alle mit einer Geschichte. Da sind
       Porträts, von Freundinnen gezeichnet. Ein Plakat der Künstlerin [1][Valie
       Export] mit Knarre in der Hand, zwischen ihren Beinen sind die Jeans
       ausgeschnitten, sodass man ihre Vulva sieht. Ein mahnender Spruch neben dem
       Bett: „Besser leben ohne Macker“. Jemand habe mal gesagt, die
       zusammengewürfelte Einrichtung sehe aus wie in einer Berliner WG, erzählt
       Hathaway. Gegen Berlin hat sie nichts. Hinter dem Esstisch, auf dem die
       Wiesenblumen und Rosen stehen, die sie tags zuvor zum Geburtstag geschenkt
       bekam, hängt ein großes Gemälde. Schemenhaft erkennbar ein paar Frauen, die
       auf einem Dach sitzen. Drum herum noch mehr Dächer und Schornsteine.
       
       Berlin: „Ja, das bin ich“, sie zeigt auf das Bild hinter ihr, „mit
       Freundinnen beim Frühstück auf dem Dach in der [2][Rigaer Straße] in
       Friedrichshain.“ Fünf Jahre lang lebte sie nach dem Studium in dem Berliner
       Bezirk. Nicht im damals besetzten Haus in der Nummer 94, sondern daneben.
       „Wir waren solidarische Nachbarinnen.“ Das Pulsierende der Stadt hat sie
       eingenommen. „Ich habe mich treiben lassen.“ Es gefällt ihr, dass sie in
       der Anonymität untergeht und trotzdem immer was los ist. Sie kann sich
       vorstellen, irgendwann wieder in der Großstadt zu wohnen. Wobei, der
       [3][Klimawandel], meint sie. „Hier am Bodensee regnet es wenigstens.“
       Außerdem werde sie noch eine Weile als Mutter gefragt sein, ihre Kinder
       sind sieben und neun Jahre alt. Auf der Insel aufwachsen zu können, sei für
       Kinder pure Freiheit. Sie hat es selbst erlebt.
       
       Lindau: Sie ist 1983 in der Stadt am Bodensee geboren. Im Haus, in dem sie
       jetzt wohnt, lebte schon ihr Großvater. Anders als seinen älteren,
       gebildeteren Brüdern – einer saß 18 Jahre als Abgeordneter für die SPD im
       Bundestag – versagten die Nazipädagogik und der Krieg ihm eine solide
       Schulbildung. Er wurde Zöllner. Das scheint ein Thema gewesen zu sein beim
       Großvater – dass er es nicht weiter gebracht hatte. Wenn Hathaway und er
       miteinander redeten, waren sie selten einer Meinung. Sie habe dem
       „Aggro-Mann“ Einhalt bieten wollen. „Opa, so kannst du das doch nicht
       sagen.“ Vor Besuchen sei ihr eingeschärft worden, bloß den Mund zu halten.
       Das sei ihr schwergefallen. Trotzdem kamen sie und ihr Großvater
       miteinander aus. Als er pflegebedürftig wird, wird Hathaway in den
       Mietvertrag aufgenommen. Eine ihrer Freundinnen meinte mal, das Besondere
       sei doch, dass auf der Insel Leute mit Immobilien reich werden, die sie
       dann ihren Kindern vererben. Hathaway aber erbte so etwas wie einen
       Mietvertrag. Das Haus gehört dem Bund. Hier zu wohnen, sei ein Sechser im
       Lotto.
       
       Shakespeare: Juliette Hathaway – der Name ist eine schöne Mischung aus
       Französisch und Englisch. Wobei das mit dem Französischen nur ein
       Schreibfehler gewesen sei. Es sollte die englische Schreibweise sein,
       „Juliet“. [4][Romeo und Juliet] schwebt über dem Ganzen, Romeo der Vater.
       Der Nachname kommt von ihm, einem Engländer auf Reisen. In Lindau dann der
       Flirt. Hathaways Mutter war 22, als sie schwanger wurde, der Vater blieb,
       war Maschinenschlosser bei Dornier. Er sei später gerne Lindauer geworden,
       so nah am Wasser. „Er angelte gern.“ Was aber ihren Vornamen angeht, der
       wurde bald zu Julie.
       
       Sprachen: Zweisprachig sei sie nicht aufgewachsen. Ihre eineinhalb Jahre
       jüngere Schwester habe jedes Mal einen Schreianfall bekommen, sobald ein
       Wort auf Englisch zu ihr gesagt wurde. Da habe der Vater das sein lassen.
       Wobei es Juliette Hathaway schon klar ist, dass eine deutsch-britische
       Herkunft trotz allem so etwas wie Bikulturalität de luxe ist.
       
       Nestflucht: Nach dem Abitur verlässt sie Lindau, studiert Sozialarbeit erst
       in Würzburg, dann in Nürnberg. Nürnberg schon wilder als Würzburg. Zum
       Wilden zieht es sie hin. Das Studienfach aber sei „eher eine
       Verlegenheitsentscheidung“ gewesen. Wobei sie in der sozialen Arbeit in
       Berührung mit vielen Tiefen des menschlichen Erfahrens kommt. „Ich habe in
       der Jugendhilfe gearbeitet, dann in der Flüchtlingshilfe, jetzt in Lindau
       in einer psychiatrischen Tagesklinik.“
       
       Widersprüche: Von Nürnberg macht sie sich auf nach Berlin. Sie sucht das,
       wo es zur Sache geht, das, wo die soziale Realität Reibung erzeugt. „Aber
       wenn ich heute am Hermannplatz bin, frage ich mich, wie ich das je
       ausgehalten habe.“ Der Hermannplatz ist ein Obdachlosigkeits- und
       Drogenbrennpunkt. „Man drückt die Armut und Verwahrlosung weg. Kopfhörer
       auf.“ In Lindau dagegen sehe sie das Gegenteil, sehe das Unsoziale des
       Reichtums. Und sie kämpft für Alternativen zur Klassenfrage und zu
       traditionellen Rollenbildern. Obwohl sie das Stereotype selbst mal suchte,
       mit Ehemann und Kindern. Aber so weit war es in Berlin noch nicht. Dort
       springt sie erst einmal auf den ravenden Zug, nimmt alles mit, was es gibt,
       Partys, Demos, lange Nächte.
       
       Weltreise: Sich treiben lassen in einem Umfeld, das sie kennt, ist das
       eine. Es in einem Umfeld zu tun, das sie nicht kennt, ist dagegen eine
       Herausforderung. Nach fünf Jahren Berlin geht sie auf Südamerikareise,
       trifft in Bolivien ihren zukünftigen Ehemann, einen Lindauer, der schon mit
       ihr auf der Schule war. Seit 2018 lebt sie wieder in Lindau. Ein Kind
       kommt, ein zweites auch, aber in der [5][Coronazeit] geht die Beziehung
       kaputt. Die traditionellen Vorstellungen des Ex-Partners, die nämlich, dass
       sie als Frau die Sorgearbeit übernimmt, zeigen sich immer deutlicher und
       passen ihr nicht. „Das hat das Patriarchat gut eingerichtet, dass die
       Hausarbeit an den Frauen hängen bleibt.“
       
       Das Mutterdasein: Seit vier Jahren ist sie alleinerziehend. Sie nennt es
       lieber „getrennt erziehend“. Sie arbeitet daran, dass sie und ihr Partner
       die Trennung nicht über die Kinder spielen. Ihr Alltag ist getaktet.
       Morgens der Job mit psychisch Kranken, dann geht sie mit dem Hund Gassi,
       versucht dabei die Touristen nicht zu sehen, kocht, dann kommen die
       lebenshungrigen Kinder und fordern sie. „Wir sind Schwestern im Staub“, das
       ist das Fazit einer ebenfalls alleinerziehenden Freundin. „Ich wollte
       Kinder. Aber jetzt frage ich mich, ob ich nicht einfach einer klassischen
       Vorstellung aufgesessen bin, der von Mann und Kind und Hund. Eine Zeitlang
       war ich glücklich so.“
       
       Antrieb: Ihren Drive hat sie nicht verloren. Sie will eine andere Welt,
       eine mit weniger Reichtum und Armut, eine mit echter Inklusion, eine ohne
       Backlash, wenn es um Frauen- und Menschenrechte geht, sie will gelebte
       Offenheit, gelebte Toleranz und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sie
       engagiert sich im [6][Pfanne e. V]., der inklusives Leben am Bodensee
       praktiziert; sie geht auf Demos gegen rechts; sie hat am DIY-Skatepark auf
       der hinteren Insel mitgemacht, sie organisiert einmal im Monat Raves mit,
       es geht um Kultur und Musik ohne Profit.
       
       Menschlichkeit: Und dann die Enttäuschung: „Wenn ich Merz höre, wie er
       sagt, dass er beim Sozialen sparen möchte, stockt mir der Atem.“ Sie zeigt
       auf das Nachbargebäude. Es ist die Bundespolizei. „Seit die Regierung
       steht, sind die Grenzen dicht.“ Plötzlich sind mehr Leute stationiert,
       fahren mehr Polizeibusse vor, sieht sie mehr gedemütigte Menschen, von
       Polizisten begleitet. Sie will das nicht. „Guckt auf das, was euch
       verbindet“, steht auf einer Postkarte, die am Spiegel in ihrem Flur hängt.
       
       8 Jul 2025
       
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