# taz.de -- Tagebuch aus der Ukraine: Wenn Oma nicht mit Opa beigesetzt werden kann
       
       > Viele Menschen haben Angst, in der Ferne begraben zu werden. Die
       > Großmutter unseres Autors wurde auf einem anderen Friedhof als ihr Mann
       > beerdigt.
       
 (IMG) Bild: Abschied von geliebten Menschen: Friedhof in Kiew, Februar 2025
       
       Manchmal scherze ich düster, dass mein Vater doch großes Glück hatte, den
       Beginn des [1][großen Krieges in der Ukraine] nicht mehr erlebt zu haben.
       Ich musste ihn nicht überreden wegzugehen. Und ihm helfen, sich an einem
       neuen Ort einzuleben, musste ich auch nicht. Der [2][Friedhof], auf dem
       mein Vater begraben liegt, ist mit Gras bewachsen, Fliegerangriffe und
       Kanoneneinschlag sind nicht zu befürchten.
       
       Ich habe das Grab meines Vaters ein einziges Mal besucht, seit die Russen
       uns aus unserer Heimatstadt im Osten der Ukraine vertrieben haben. Sein
       Grabmal auf dem Friedhof sah viel besser aus als unser Haus.
       
       Meine Großmutter hatte viel weniger Glück. Ich konnte sie erst im zweiten
       Kriegsjahr, 2023, zur Evakuierung überreden. Zu diesem Zeitpunkt waren fast
       alle Fenster ihres Hauses zerbrochen. Ich glaube, sie wusste, dass sie das
       Haus, in dem sie ein halbes Jahrhundert gelebt hatte, für immer verlassen
       musste. Wenn man über 80 Jahre alt ist, kann man kaum noch auf Besseres
       hoffen. Ich wäre in einer solchen Situation auch nirgendwo hingegangen.
       
       Im April dieses Jahres ist sie gestorben. In ihren letzten Jahren konnte
       sie fast nichts mehr sehen, ging schlecht und war auf Hilfe angewiesen. In
       den kritischsten Momenten, als sie fast bewusstlos war, bat sie darum, nach
       Hause gebracht zu werden. In die zerstörte Straße, in die kalte Hütte – nur
       dorthin, wo alles vertraut war. Schließlich konnte sie von dort, obwohl sie
       fast blind war, noch das Grab ihres Mannes finden. Jetzt trennen sie fast
       200 Kilometer.
       
       Es sollte nicht sein. Sie musste auf dem [3][Friedhof] einer fremden Stadt
       beerdigt werden, unweit des blau-gelben Meeres, zwischen den Gräbern
       ukrainischer Soldaten.
       
       ## Der Tod in der Ferne
       
       Ich habe mit meiner Großmutter nie über den [4][Zweiten Weltkrieg]
       gesprochen, und sie erinnerte sich wahrscheinlich kaum daran, aber ich
       bedaure aufrichtig, dass sie einen neuen Krieg erleben musste.
       
       Es wird oft erzählt, dass vor allem ältere Menschen sich weigern, ihre
       Häuser zu verlassen, um zu fliehen. Das ist aber nicht so überraschend: Mit
       der Rente kommt man nicht weit. Und es ist zudem unwahrscheinlich, dass sie
       sich in einem neuen Leben zurechtfinden werden.
       
       Aber es gibt auch noch ein weiteres Motiv zu bleiben: Es gibt Menschen, die
       Angst haben, weit weg von zu Hause zu sterben. Sie wissen, dass ihr Sarg
       vermutlich nicht in ihre Heimat zurückgeführt werden wird – vor allem, wenn
       diese vom Krieg zerstört ist oder hinter der Frontlinie liegt.
       
       Meine Großmutter wurde eines von Tausenden stillen Opfern des
       russisch-ukrainischen Krieges. Sie hatte ein langes Leben, hätte aber ohne
       den Krieg noch viel länger leben können: Wenn ein russischer Panzer nicht
       die Bäume vor ihrem Haus zerstört hätte. Wenn es in ihrem Haus Strom
       gegeben hätte und wenn die Fenster noch intakt wären. Wenn wir alle
       zusammen wären und nicht über die ganze Welt verstreut.
       
       Ich bin nicht religiös und glaube daher nicht an ein Leben nach dem Tod.
       Aber ich denke, dass die Unmöglichkeit, wenigstens tot nach Hause
       zurückkehren zu können, vielen Menschen als Hölle erscheint. Es ist schade,
       dass viele von uns dort landen werden.
       
       [5][Vasili Makarenko] ist freier Autor aus Kyjiw und war Teilnehmer eines
       [6][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung]. 
       
       Aus dem Russischen von [7][Tigran Petrosyan].
       
       18 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
 (DIR) [2] /Alltag-in-der-Ukraine/!5881858
 (DIR) [3] /Friedhofsgeschichte-in-der-Ukraine/!5959902
 (DIR) [4] /Schwerpunkt-Zweiter-Weltkrieg/!t5007883
 (DIR) [5] /Archiv/!s=&Autor=Vasili+Makarenko/
 (DIR) [6] /taz-Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/
 (DIR) [7] /Tigran-Petrosyan/!a22524/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Vasili Makarenko
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) taz Panter Stiftung
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
 (DIR) Kolumne Krieg und Frieden
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Tagebuch aus der Ukraine: Heute Nacht schlafe ich
       
       Warum die Menschen in Kyjiw​ mehr den Sommer spüren als den Krieg. Eine
       Stadt erkämpft sich das Recht auf ein normales Leben.
       
 (DIR) Tagebuch aus der Ukraine: Vorurteile, die auch der Krieg bestehen lässt
       
       Kateryna Mykhalko ist Managerin in der Rüstungsindustrie. An ihrer Arbeit
       gibt es keine Kritik. Aber sie ist 24 Jahre alt, und sie ist eine Frau.
       
 (DIR) Tagebuch aus Aserbaidschan: Frei schreiben, um nicht mehr unfrei zu leben
       
       Schon seit Jahren unterdrückt das Regime in Baku Presse- und
       Meinungsfreiheit. Jüngstes Opfer: der unabhängige Onlinedienst Abzas Media.
       
 (DIR) Tagebuch aus Georgien: Die zu vielen Augen von Tblisi
       
       In der georgischen Hauptstadt kommt eine beängstigende Überwachungstechnik
       zum Einsatz. Sie dokumentiert nicht nur, wer auf eine Demonstration geht.
       
 (DIR) Tagebuch aus Kasachstan: Das Urteil lautet: Schweigen, und zwar überall
       
       In Almaty musste der Journalist Temirlan Yensebek vor Gericht. Sein Delikt:
       eine Satire. Seine Strafe: er darf sich nirgends öffentlich äußern.
       
 (DIR) Belarussische Geflüchtete in Lettland: Was will der fremde Arzt von mir?
       
       Unsere Autorin stammt aus Belarus und lebt in Lettland. Angst hat sie, wenn
       sie sich in medizinische Behandlung begibt. Denn Verständnis ist selten.
       
 (DIR) Tagebuch aus der Ukraine: Es ist Krieg, machen wir was draus
       
       Unter den russischen Bombardements leidet die Stadt Charkiw besonders. Doch
       gerade hier tobt wieder das pralle Leben. Aus Trotz und für die Freiheit.
       
 (DIR) Tagebuch aus der Ukraine: Kurze Geschichte über eine Traktoristin zu Kriegszeiten
       
       Warum unsere Autorin in Odesa​​ nicht mehr von Akkordeonklängen geweckt
       wird. Und weshalb ihre Nachbarin nun für die Landwirtschaft ausgebildet
       wird.