# taz.de -- Buch über Pinochet und einen Altnazi: Herr der Krabben
       
       > Ein packendes Gerichtsdrama über den Pinochet-Prozess in den 1990ern
       > beleuchtet die Verbindung des Diktators zum NS-Verbrecher Walther Rauff.
       
 (IMG) Bild: Augen zu und durch: Altnazi Walther Rauff nach einer Anhörung in Santiago 1962
       
       Als die Polizei kurz vor Mitternacht ins Krankenhaus kommt, ist der alte
       Mann im Schlafanzug. Die Dolmetscherin teilt ihm auf Spanisch seine
       Verhaftung wegen Mordes mit. Er reagiert aufgebracht: Dahinter stecke
       sicher „dieses Arschloch“ Garcès, „der Kommunist“, habe er gebrüllt.
       
       Augusto Pinochet, ehemaliger Präsident und Diktator Chiles von 1973 bis
       1990, wird am Freitag, 16. Oktober 1998, auf Ersuchen des spanischen
       Richters Juan Garcès während eines Klinikaufenthalts in London verhaftet
       und unter Hausarrest gestellt. Bei den Anhörungen vor Gericht wird seine
       Auslieferung nach Spanien beantragt. Der damals junge Anwalt Philippe Sands
       war an der Anklage beteiligt, die von einer Vielzahl von Jurist*innen
       minutiös vorbereitet worden war und internationale Rechtsgeschichte
       schrieb: Noch nie zuvor war ein ehemaliger Staatschef von und in einem
       anderen Land verhaftet worden, weil er internationale Verbrechen begangen
       hatte.
       
       Gleichwohl gingen Jurist*innen wie Garcès oder der Untersuchungsrichter
       Baltasar Garcón das Wagnis ein. Der Moment war günstig, im internationalen
       Strafrecht herrschte Aufbruchstimmung, wie Sands schildert: „Nach 50 Jahren
       der Stille waren Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder
       ein wichtiges Thema.“
       
       ## Mammutprozess mit Vorgeschichte
       
       Auf dem Grundgedanken der Nürnberger Prozesse und der
       UN-Völkermordkonvention aufbauend, wurden in den 1990er Jahren
       internationale Gerichtshöfe eingerichtet, für Verbrechen wie im ehemaligen
       Jugoslawien und Ruanda. Der Grundsatz des Weltrechtsprinzips besagt, dass
       die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord
       überall auf der Welt zur Verantwortung gezogen werden können. Warum also
       nicht auch der [1][chilenische Ex-Diktator Pinochet], der in den 17 Jahren
       seiner Herrschaft für Morde, Folter und Verschleppung vieler Tausender
       verantwortlich war?
       
       Philippe Sands schildert Vorbereitung und Hergang des Mammutprozesses wie
       einen Gerichtskrimi und lässt die Schlüsselpersonen darin lebendig werden:
       Juan Garcès, der Berater des chilenischen Präsidenten Salvador Allende
       gewesen war und diesem vor seinem Suizid infolge des Putsches gelobt hatte,
       für Gerechtigkeit zu sorgen, wartete viele Jahre in Spanien auf den
       richtigen Moment. Dieser kam 1998, als sich Angehörige von Opfern der
       Militärdiktatur an ihn wandten. Sands hingegen wurde zunächst gebeten,
       Pinochet zu vertreten, woraufhin seine chilenische Frau mit Scheidung
       drohte. Er schloss sich dann als Rechtsvertreter der
       Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch der Anklage an. Bei seinen
       Recherchen stieß er auf eine interessante Querverbindung zwischen Pinochet
       und dem in Chile untergetauchten deutschen NS-Verbrecher Walther Rauff.
       Hatte der Nazi Pinochet bei der Vernichtung seiner Gegner geholfen?
       
       Wie in seinen vorherigen Büchern „Rückkehr nach Lemberg“ über seine
       jüdische Familie oder „Die Rattenlinie“ über Nazis, die via Vatikan nach
       Südamerika flohen, bereitet Philippe Sands auch in „Die Verschwundenen von
       Londres 38“ ein Stück Zeitgeschichte zu einem umfangreichen Rechercheroman
       auf. Im Zentrum seiner Nachforschungen stehen diesmal das Schicksal von
       Verschwundenen, die in der zum Foltergefängnis umfunktionierten ehemaligen
       Parteizentrale der Sozialistischen Partei Chiles in der Calle Londres
       Nummer 38 von Pinochets Folterknechten misshandelt und ermordet wurden und
       von deren sterblichen Überresten bis heute jede Spur fehlt. Und die Rolle
       von Walther Rauff.
       
       Rauff, SS-Sturmbannführer und rechte Hand von Reinhard Heydrich,
       konstruierte ab 1941 mobile Gaswagen, mit denen schätzungsweise 97.000
       Menschen unter anderem in Polen, der Ukraine und Serbien ermordet wurden.
       1949 floh er nach Südamerika, in Chile wurde er Geschäftsführer einer
       Fabrik, in der das Fleisch von Königskrabben in Dosen gepresst wurde. Er
       soll an der Folterung und Ermordung von Pinochets Regimegegnern im geheimen
       Militärgefängnis Londres 38 und anderen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen
       sein.
       
       Sands beginnt eine ausufernde Recherche, wühlt sich durch Gerichtsakten und
       Briefe, spricht mit Angehörigen von Folteropfern und reist nach Porvenir in
       Feuerland, wo er die Reste der Krabbenfabrik besichtigt und Rauffs
       ehemalige Sekretärin, einen seiner Söhne und andere Zeitzeug:innen
       befragt: „Ein stiller Mann sei er gewesen, kultiviert und freundlich,
       erinnert sich der Bürgermeister des Ortes. Er wohnte mit Schäferhund Bobby
       in einer Hütte auf einem Hügel mit Blick auf die Konservenfabrik. ‚Als
       Außenseiter war er willkommen‘, erinnert sich die ehemalige
       Supermarktkassiererin Emma, bei der er Lucky Strikes und Whiskey kaufte.
       Die Älteren hätten erzählt, er sei ein Nazi gewesen, der schlimme Dinge
       getan hatte. Sie habe den Geschichten nicht geglaubt.“
       
       Philippe Sands spürt selbst den wildesten Gerüchten nach, die sich um
       Walther Rauff ranken. Dieser war eine schillernde Figur: Nach seiner Flucht
       auf der Rattenlinie lässt er sich zunächst mit seiner Familie in Ecuador
       nieder, wo ihn der damalige Militärdiplomat Augusto Pinochet als
       Militärberater anwirbt. Nach seiner Übersiedlung nach Chile 1958 arbeitet
       Rauff ein paar Jahre lang als Agent für den BND, bis er im Zuge des
       [2][Eichmann-Prozesses] verhaftet wird. Chile lehnt jedoch seine
       Auslieferung nach Deutschland ab. Rauff unterhält gute Beziehungen zur
       Militärjunta um Pinochet, er soll die Geheimpolizei, Dirección de
       Inteligencia Nacional (Dina), beraten haben und in der deutschsprachigen
       Colonia Dignidad Verhörschulungen gegeben haben.
       
       Seine Nachforschungen bescheren Sands teils überraschende Ergebnisse. In
       einem Jerusalemer Archiv findet er einen Beleg dafür, dass nicht nur Simon
       Wiesenthal dem flüchtigen Altnazi auf der Spur war. Laut der Niederschrift
       eines ehemaligen Mossad-Agenten setzte der israelische Geheimdienst einen
       deutschen Reporter auf Rauff an – und beschloss dann, ihn 1980 in seinem
       Haus in Santiago zu ermorden. Die „Operation Stainless Steel“ scheitert
       aber am lautstarken Protest seiner letzten Lebensgefährtin und seines
       Hundes, unverrichteter Dinge ziehen die Beauftragten ab. Rauff stirbt 1984
       eines natürlichen Todes im Haus seines Sohnes.
       
       Aus der Lektüre von Geheimdienstprotokollen und vielen Interviews ergeben
       sich für Sands schließlich immer weitergehende Fragen: Hat Rauff auch
       selbst gefoltert? Hat er für Pinochet ein Haftlager auf der Isla Dawson
       geplant, das nach dem Modell von Auschwitz gestaltet war? Und was ist dran
       an den kursierenden Gerüchten, die getöteten Gefangenen seien zu Fischmehl
       verarbeitet worden – womöglich unter Rauffs Mithilfe oder gar Regie? Die
       Figur Walther Rauff steht exemplarisch dafür, wie offen und sorgsam
       verdeckt zugleich die vielen unaufgearbeiteten Verbrechen aus der
       Pinochet-Zeit in Chile noch immer sind.
       
       In „Londres 38“ verwebt Sands gekonnt zwei Handlungsstränge: Das jahrelange
       Tauziehen um Pinochets Auslieferung zwischen Chile, Deutschland, Spanien
       und anderen Ländern, das 2000 mit dessen krankheitsbedingter Freilassung
       und Rückkehr nach Chile endete. Und das Leben von Walther Rauff, der als
       Freund und Helfer Pinochets genauso straflos bleibt wie der Diktator.
       
       Sands versteht sich aufs Erzählen. Aus Aktenvermerken, Gerichtsszenen und
       persönlichen Beobachtungen konstruiert er lange Spannungsbögen und weiß
       diese zu halten. Er stützt sich dabei nicht nur auf Handfestes, sondern
       lässt sich auch von Literatur wie der Satire „Die Naziliteratur in Amerika“
       von [3][Roberto Bolaño] oder auch vom bloßen Zufall leiten, nach dem von
       Carlo Ginzburg in „Faden und Fährten“ formulierten Prinzip, wonach zwischen
       den narrativen und nicht narrativen Zeugnissen und der Realität, die sie
       bezeugen, eine stets von Neuem zu untersuchende Verbindung besteht.
       
       Der assoziative Flow, der daraus entsteht, führt dazu, dass man dem Autor
       gerne über lange Seiten hinweg bei seiner eher intuitiv denn systematisch
       angelegten Detektivarbeit folgt, seine Erfolge und Frustrationen teilt und
       mit ihm staunt, wenn wieder einmal durch Zufall eine heiße Spur auftaucht,
       die ihn noch weiter in den Kern der unappetitlichen Verwicklungen zwischen
       einer kleinen Fischfabrik im Besitz weißer Kühllaster und dem Töten von
       Regimegegner*innen führt.
       
       Nur durch den angelsächsischen Plauderton des Autors lassen sich die
       detaillierten Schilderungen von Folter und bestialischen Gewaltakten
       einigermaßen ertragen. Dabei wirkt Sands Vorliebe für private Anekdoten,
       die gelegentlich ins Schusselige gleitet, nie unpassend, sondern vielmehr
       erdend.
       
       Am Ende seiner Recherchen kehrt Philippe Sands noch einmal zurück in die
       Calle Londres. Er schreibt: „Es gibt frisch gepflanzte Bäume und […] die
       Büste eines Historikers aus dem 19. Jahrhundert, der über Chiles koloniale
       Geschichte schrieb. Es gibt ein Hotel, ein Parkhaus, die Zentrale einer
       politischen Partei. Es gibt ein Geschäft, das große Plastikplanen verkauft,
       groß genug, um eine Leiche darin einzuwickeln. Es ist eine höchst
       gewöhnliche Straße, aber eine mit einer Geschichte.“
       
       7 Jun 2025
       
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