# taz.de -- Aktivistin über Umweltverbundenheit: „Wir haben eine gemeinsame Verantwortung“
       
       > Joan Carling setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte indigener
       > Menschen in Südostasien ein. Sie fordert eine Abkehr vom Kapitalismus.
       
 (IMG) Bild: Die indigene Aktivistin Joan Carling bei einem Interview mit einer Nachrichtenagentur in Bangkok im Jahr 2016
       
       taz: Frau Carling, müssten wir im Westen wieder indigener werden? 
       
       Joan Carling: Es würde helfen. Rechtspopulismus, Ungleichheit, Überkonsum,
       Klimakrise – im Zentrum all dieser Probleme sehe ich ein fehlendes
       Verständnis für unsere Lebensgrundlagen als Menschen.
       
       taz: Was meinen Sie damit? 
       
       Carling: Ich bin gerade in Dänemark. Wenn ich ein kleines Kind hier frage:
       „Woher kommt dein Essen?“, dann sagt es …
       
       taz: … aus dem Supermarkt. 
       
       Carling: Genau. Das ist das Problem. Dieses Abgetrenntsein von der eigenen
       Umwelt, von dem Land und den Menschen um einen herum.
       
       taz: Was bedeutet Indigensein für Sie? 
       
       Carling: Eine indigene Person lebt in Verbundenheit. Verbundenheit mit der
       eigenen Kultur, dem eigenen Land, den Mitmenschen. Und diese Verbundenheit
       führt zu einer gegenseitigen Beziehung, einem respektvollen Geben und
       Nehmen. Wir nehmen von der Natur und gleichzeitig pflegen und schützen wir
       sie. Ich selbst bin vom Volk der Kankanaey im Norden der Philippinen. Wir
       haben zum Beispiel eine besondere Verbindung zur Süßkartoffel. Sie ist für
       uns ein Lebensmittel, dessen Frucht wir essen, dessen Blätter wir an die
       Schweine verfüttern, aus dem meine Großmutter Mehl machte. Als Kind habe
       ich Lieder gesungen, die die Lebenskraft, die uns die Süßkartoffel gibt,
       feiern und ihr danken.
       
       taz: Es geht also um ein besseres Verständnis dafür, wie wir in unsere
       Umwelt eingebettet sind? 
       
       Carling: Ja, und gleichzeitig geht es um viel mehr. Ein Grundpfeiler
       indigenen Denkens ist, dass wir nicht alleine existieren. Wir existieren
       als Teil einer Gemeinschaft, als Teil eines Clans. Unsere Tänze, unsere
       Musik, unser Ressourcenmanagement: Sie funktionieren nur im Kollektiv.
       
       taz: Wie war Ihre Kindheit? Sicherlich ganz anders bei jemandem, der in
       einer deutschen Großstadt aufwächst. 
       
       Carling: Na ja, erst einmal bin ich jeden Tag 3 Kilometer zur Schule
       gelaufen. Das mag hart klingen, aber wir waren immer mit mehreren Kindern
       unterwegs und meistens hat es Spaß gemacht. An den Wochenenden haben wir im
       Wald Kiefernzapfen gesammelt und sie an die Gärtnerei verkauft, um
       Taschengeld für Süßigkeiten zu haben. Und wenn es gedonnert hat, sind wir
       wieder in den Wald, um Pilze zu ernten. Im Sommer haben wir Guaven geerntet
       und am Fluss gespielt. Diese innere Freiheit, die ich als Kind mit meinen
       Freunden in der Natur erlebt habe, begleitet mich noch heute.
       
       taz: Wann wurde Ihnen bewusst, dass dieser Lebensstil unter Druck steht? 
       
       Carling: Politisiert hat mich der Kampf der indigenen Stämme gegen den
       Chico-Damm auf der Nordinsel der [1][Philippinen]. Damals wollte die
       Regierung sie vertreiben, um einen Staudamm zur Elektrizitätsgewinnung zu
       bauen. Der Damm hätte ihre Reisfelder und Dörfer geflutet. Indigene
       Menschen von ihrem Land zu vertreiben ist aber so, wie Fische aus dem
       Wasser zu nehmen. Ohne ihr Land verlieren sie ihre Identität, können nicht
       mehr als die Menschen überleben, die sie sind.
       
       taz: Wie hat die Bevölkerung auf die Pläne reagiert? 
       
       Carling: Die betroffenen Stämme haben damals ihre jahrelangen Konflikte
       beiseitegelegt und gemeinsam gegen das Projekt demonstriert. Von einem
       anderen Dammprojekt in der Nähe wussten sie, dass hier ihre Zukunft auf dem
       Spiel stand. Denn bei dem vorherigen Projekt war die indigene Bevölkerung
       auf eine Insel umgesiedelt worden, auf der viele von ihnen an Malaria
       starben. Und von der Elektrizität kam auch nichts bei den umliegenden
       Stämmen an.
       
       taz: Wie ging der Konflikt am Ende aus? 
       
       Carling: Am Ende einer monatelangen Kampagne haben sie sich durchgesetzt:
       Die Weltbank zog ihre Finanzierung für den Damm zurück und die Menschen
       konnten weiter auf ihrem Land leben. Sie haben sich trotz Drohungen von
       Firmen und Regierung gewehrt und für ihre Kultur und ihr Überleben
       gekämpft. Das hat mich inspiriert.
       
       taz: Im Grunde klingt das nach einem Konflikt, der auch heute noch überall
       auf der Welt ausgetragen wird. Es geht um Solarfarmen, Minen … 
       
       Carling: … Windparks, Tourismus, Agribusiness.
       
       taz: Das Dilemma: Gerade seltene Erden und erneuerbare Energien werden für
       die Energiewende dringend benötigt. 
       
       Carling: Ich verstehe, dass Rohstoffe und Flächen gebraucht werden.
       Weltweit liegen mehr als 50 Prozent der für Techprodukte dringend
       benötigten kritischen Mineralien auf dem Territorium indigener Menschen. Es
       kann nicht sein, dass wir kein Mitspracherecht dabei haben, wie diese
       Rohstoffe abgebaut und wie sie verwendet werden. [2][Zum Beispiel in
       Norwegen]. Dort hat die Regierung auf dem traditionellen Rentierweideland
       der Samen 2010 Windparkkonzessionen erteilt. Die Samen haben sich gewehrt
       und gefragt: Warum baut ihr die Windparks nicht außerhalb von Oslo? Aber
       große Windparks in der Nähe der Hauptstadt: Das wollte man den Menschen
       dort nicht zumuten. Die Anlagen wurden gebaut. 2021 erklärte der Oberste
       Gerichtshof sie dann für illegal. Aber erst nachdem junge Samen ein Jahr
       lang vor dem Parlament protestiert hatten, konnten sie einen Kompromiss mit
       der Regierung erkämpfen. Die Geschichte zeigt: Die Interessen indigener
       Menschen opfern Regierungen oft als Erstes. Das ist für mich Ausdruck eines
       tief sitzenden Rassismus.
       
       taz: Was könnten westliche Gesellschaften von indigenen Denkweisen lernen? 
       
       Carling: Als erstes, nur die Ressourcen von der Natur zu nehmen, die man
       tatsächlich braucht. Wir fällen auch Holz in unseren Wäldern, um unsere
       Häuser und Möbel zu bauen. Aber wir nehmen nicht mehr, als wir tatsächlich
       brauchen. Und vor allem pflanzen wir für jeden Baum, den wir fällen, drei
       neue Bäume. Was auch immer du nimmst, du füllst es wieder auf. Allein
       dieses Prinzip würde bei Produktion und Konsum schon viel verändern. Im
       Kern geht es um die Frage, ob wir wirtschaften, um Profit zu machen oder um
       uns gut zu versorgen. Massentierhaltung, Kurzstreckenflüge, Kryptowährungen
       – worum geht es da wirklich? Ein indigener Weg wäre am Ende wohl auch
       einer, der mit einem einfacheren Leben einhergeht.
       
       taz: Aus unserer heutigen Konsumgesellschaft heraus scheint ein solcher Weg
       schwer vorstellbar. 
       
       Carling: Menschen in Deutschland verbrauchen dreimal so viele Ressourcen,
       wie die Erde Kapazitäten hätte, um zu regenerieren. Ganz ohne Verzicht
       kommen wir da nicht in Richtung Nachhaltigkeit. Insbesondere im globalen
       Norden, wo die Ober- und Mittelschicht mit Privilegien lebt, die auf der
       Ausbeutung des globalen Südens beruhen. Letztens habe ich bei einem Vortrag
       gefragt: „Wer von Ihnen trägt einen Goldring?“
       
       taz: Und dann? 
       
       Carling: Fast alle verheirateten Menschen haben sich stolz gemeldet. Aber
       niemand von ihnen wusste, dass ein Goldring fast acht Tonnen toxischen Müll
       verursacht. Dass die meisten [3][Goldminen] von Kinderarbeit oder der
       Vertreibung indigener Völker profitieren. Aber wenn wir diese Zusammenhänge
       wirklich verstehen, können wir echte Solidarität miteinander aufbauen.
       
       taz: Geht es hier denn wirklich nur ums Verstehen? Fast Fashion, Handys,
       Laptops – die meisten Menschen wissen, dass solche Dinge unter
       ausbeuterischen Bedingungen hergestellt werden. Das eigene Verhalten zu
       ändern, fällt trotzdem schwer. 
       
       Carling: Es geht nicht nur um individuellen Verzicht, es geht auch darum,
       dass Menschen ihre Regierungen und Firmen hinterfragen: Haltet ihr euch an
       Menschenrechte? Arbeitet ihr innerhalb der Belastungsgrenzen unserer Erde?
       Und wenn wir uns die Geschichte anschauen, finde ich es noch absurder, dass
       die wohlhabenden Mittelschichten in Europa keine Bereitschaft haben, auch
       ein wenig zu verzichten. Ihr Reichtum beruht auf Jahrhunderten von
       kolonialer Ausbeutung.
       
       taz: Derzeit befinden wir uns auf einem langsamen Pfad hin zu einem grünen
       Kapitalismus, der Wirtschaftswachstum und Profitorientierung beibehält,
       dabei aber versucht, klimaneutral zu werden. Angesichts des Zeitdrucks der
       Klimakrise: Ist dieser Weg nicht realistischer, als das gesamte System
       umbauen zu wollen? 
       
       Carling: Für mich ist das kein nachhaltiger Weg. Mit ihm halten wir an
       Ausbeutung, Landraub und Ungleichheit fest. Wenn wir nur von fossilen auf
       erneuerbare Energien umsteigen, lassen wir die vielen Menschen im Stich,
       die unter diesen Ungerechtigkeiten leiden. Wir haben eine gemeinsame
       Verantwortung, dieses System zu ändern.
       
       taz: In den Naturschutzkonzepten von westlichen Ländern wie Deutschland
       ging man lange davon aus, dass die Natur sich ohne Menschen am besten
       entwickelt. Was halten Sie von dieser Idee? 
       
       Carling: Ich halte das für gefährlichen Blödsinn. Wohin er führt, sehen wir
       in Tansania, wo 82.000 indigene Maasai aus der Ngorongoro Crater
       Conservation Area vertrieben werden sollen. Angeblich, um die Natur dort zu
       schützen. Dabei zeigen Studien, dass ihre nomadische Viehzucht zu einer
       höheren Biodiversität führt, weil sie invasive Arten in Schach halten.
       Ähnliche Prozesse sehen wir in Kambodscha, Thailand und Indonesien, wo
       indigene Menschen kriminalisiert werden, weil sie in ihren angestammten
       Wäldern Holz schlagen oder jagen. Anstatt das eigene Wirtschaften zu
       hinterfragen, wird hier angeblicher Naturschutz auf Kosten marginalisierter
       Gruppen gemacht.
       
       taz: Auf Konferenzen der Vereinten Nationen werden indigene Personen
       manchmal „Federn“ genannt … 
       
       Carling: … oh, wie ich dieses Wort hasse.
       
       taz: Gemeint ist, dass man indigene Menschen gerne auf Panels sprechen
       lässt, sich mit ihnen schmückt. Aber dass die Entscheidungen doch woanders
       gefällt werden. 
       
       Carling: Es gibt diese Art von Tokenism, bei dem Einzelne von uns auf die
       Bühne geholt werden, um sich als inklusiv zu präsentieren, während unsere
       Interessen ignoriert werden. Aber über die vergangenen Jahre haben wir uns
       auf internationaler Ebene auch Räume erkämpfen können, in denen wir den Ton
       angeben. Letztlich misst sich der Erfolg unserer Bewegung daran, was wir
       vor Ort durchsetzen. Wir wollen ein gutes Leben im Einklang mit der Natur
       und unseren Mitmenschen. Erst wenn dieses Recht für uns alle realisiert
       ist, haben wir unser Ziel erreicht.
       
       26 Apr 2025
       
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