# taz.de -- Wenn der Oranienplatz aufersteht: Ein Camp erinnert an die Besetzung von 2012
       
       > Es geht nicht um Nostalgie, sondern um die Stärkung der
       > No-Border-Bewegung. Die braucht es angesichts der rechten
       > Migrationsdebatten mehr denn je.
       
 (IMG) Bild: Angepackt: Das Protestcamp am Oranienplatz in Kreuzberg wird aufgebaut
       
       Berlin taz | Ein Sitzkreis aus Bierbänken und Camping-Stühlen, in der Mitte
       eine mit Asche gefüllte Feuerschale. Es ist kurz vor 11 Uhr vormittags,
       gleich sollte das morgendliche Plenum beginnen, aber das Camp auf dem
       Oranienplatz wirkt noch verschlafen. Eine Teilnehmerin sucht nach Kaffee
       und drückt auf die verschiedenen Pump-Thermoskannen, die auf Biertischen im
       rot-weiß-gestreiften Hauptzelt stehen. Eine andere Aktivistin schält sich
       aus einem der acht Schlafzelte, die auf der Grünfläche neben einer großen
       Platane stehen, gelbe Schallschutzkopfhörer hängen ihr um den Hals. Mitten
       in Kreuzberg wird es nachts nicht leise.
       
       „Ich habe mich echt an den Lärm gewöhnt“, sagt Kali zur taz. Die junge
       Aktivistin, die nur ihren Vornamen nennen will, schläft seit Beginn des
       Camps am 1. März im Zelt. Sie hat das Camp mitorganisiert und angemeldet.
       Anders als die taz zuerst berichtete, bekam die Gruppe durch eine
       erfolgreiche Klage die Genehmigung zum Campen, nachdem die Berliner Polizei
       zuerst eine Absage erteilt hatte. Einen Monat lang sollen auf dem
       Oranienplatz Aktivist*innen mit und ohne Fluchterfahrung zusammenkommen
       und der No-Border-Bewegung zu neuer Energie verhelfen.
       
       Am Info-Zelt, wo den Passant*innen Flyer, Sticker und Kaffee angeboten
       werden, hängt ein Banner: „Merz im Kanzleramt – NO, März auf dem O-Platz,
       YES“. Spätestens seit dem migrationsfeindlichen Wahlkampf der Union ist
       klar: Es braucht eine starke Bewegung für die Rechte Geflüchteter. Doch
       schon die Ampel unter „Abschiebekanzler“ Scholz hat sich mit ihrer
       Zustimmung und Umsetzung des Gemeinsamen europäischen Asylsystem und dem
       Gesetz zur Verbesserung von Rückführungen der AfD-„Migrationskritik“
       angenähert. Wichtige Pläne aus dem Koalitionsvertrag wie Familien- und
       Geschwisternachzug sowie die Abschaffung von Arbeitsverboten blieben
       liegen.
       
       Kali zählt die schrittweisen Verschärfungen im Asyl- und Migrationsrecht
       auf. „Im September haben bei mir die Alarmglocken angefangen“, erzählt sie.
       Da beschließt die Ampel als populistische Antwort auf den Messerangriff in
       Solingen ein sogenanntes Sicherheitspaket und streicht Dublin-Fällen – also
       Asylbewerber*innen, die in anderen europäischen Staaten bereits registriert
       wurden – zwei Wochen nach Ankunft die Sozialleistungen. „Da gab es eine
       Kundgebung am Lausitzer Platz und es waren ungefähr 200 Leute da.“
       
       ## Von historischer Bedeutung
       
       Für Kali steht fest, dass etwas passieren muss. Nicht einfach eine weitere
       Kundgebung mit ein paar Dutzend Leuten, nicht nur ein Info-Stand. „Wir
       brauchen mehr, wir brauchen eine Basis, um zusammenzukommen und um mehr
       Menschen zu erreichen“, das habe Kali sich im Herbst gedacht. Zusammen mit
       der langjährigen [1][No-Border-Aktivistin Napuli Langa] entsteht die Idee
       für ein Protestcamp auf dem Oranienplatz.
       
       Der Oranienplatz hat für die Berliner Geflüchtetenbewegung eine historische
       Bedeutung. [2][Von 2012 bis 2014] besetzten über 100 Geflüchtete den Platz
       und protestierten gegen die Schikane durch das deutsche Asylsystem. Napuli
       Langa war dabei. [3][13 Jahre später] erinnert die Aktivistin an die
       damaligen Forderungen. „Das Ende von Abschiebungen, die Abschaffung der
       Residenzpflicht, die Abschaffung der Lager und die Möglichkeit zur
       Integration“, fasst sie bei einer Pressekonferenz auf dem O-Platz zusammen.
       Das jetzige Camp will an die Kämpfe damals anknüpfen.
       
       Bino Byansi Byakuleka ist Teil dieser Geschichte. Vor 13 Jahren lebt
       Byakuleka noch in einer Geflüchtetenunterkunft in Passau – und wartet.
       Wartet auf eine Antwort auf seinen Asylantrag, auf eine Bewilligung für den
       Integrationskurs, auf etwas zu tun. Um selbstständig Deutsch zu lernen und
       mit Leuten in Kontakt zu kommen, schließt er sich einer Tandem-Gruppe mit
       Studierenden in Passau an.
       
       Im Austausch mit anderen stellt Byakuleka fest, dass er seine
       Lebenssituation nicht länger hinnehmen will. „Ich hatte lange genug auf den
       Deutschen Gott, auf Angela Merkel, unsere Erlöserin gewartet, aber sie war
       nicht gekommen.“ Also nimmt er an Demonstrationen teil, geht auf die Straße
       und verbündet sich mit anderen selbstorganisierten Geflüchteten.
       
       ## „Es war ein Hustle“
       
       Ein Hungerstreik von Geflüchteten in Düsseldorf, Proteste in Würzburg, ein
       Protest-Camp in Passau – 2012 ploppen Widerstandsaktionen überall in
       Deutschland auf. „Dann hatten Freunde die Idee, von Würzburg nach Berlin zu
       laufen“, erinnert sich Byakuleka. Er nimmt an dem Protestmarsch teil, ab
       12. Oktober 2012 baut er auf dem Oranienplatz sein Zelt auf. „Seitdem habe
       ich Berlin nicht mehr verlassen“, sagt er und lacht.
       
       Die Besetzung zieht sich über zwei Jahre. „Es war ein Hustle“, sagt
       Byakuleka. Instandhaltung, Organisation, politische Aktionen, Verpflegung,
       dazu die individuellen Kämpfe mit der Ausländerbehörde. „Ich habe dann auch
       irgendwann einen Abschiebebescheid bekommen.“
       
       Die Behörden hätten die vulnerable Situation der Geflüchteten genutzt, um
       sie gegeneinander auszuspielen. „Sie haben gesagt, wenn ihr zurück in die
       Unterkunft geht und die Zelte abbaut, dann bekommt ihr eine Duldung. Manche
       haben den Deal akzeptiert und so haben sie es geschafft, uns zu teilen.“
       Und so stimmen im April 2014 einige der Besetzer*innen zu, [4][das Camp
       freiwillig zu räumen]. Es folgt eine Zwangsräumung der übrigen
       Besetzer*innen.
       
       Byakuleka sieht darin kein Scheitern. Die Besetzung habe ihn politisiert,
       „ich war so energetisiert von diesem gemeinsamen Kampf, das war der Effekt
       vom Oranienplatz“. Er bleibt in Berlin und gründet das „We Are Born
       Free“-Radio und später das „One Love“-Radio und schafft so Plattformen für
       die Stimmen, Gedanken und Kulturen von geflüchteten Menschen wie ihm. Mit
       der Bewegung fühlt er sich nach wie vor verbunden und schaut deshalb beim
       Protestcamp vorbei.
       
       Nicht nur auf der individuellen Ebene wirkt die Besetzung nach. Die
       [5][No-Border-Bewegung] stößt eine politische Entwicklung hin zu mehr
       Rechten für Geflüchtete an. 2014 wird die Residenzpflicht reformiert und
       gilt nun nur noch für die ersten drei Monate nach Ankunft in Deutschland.
       
       ## „13 Jahre später reden wir über dieselben Sachen“
       
       Zuvor mussten Asylbewerber*innen und geduldete Geflüchtete zum Teil
       jahrelang in den ihnen zugewiesenen kleinen Gebietsgrenzen bleiben,
       meistens im Landkreis ihrer Unterkunft. Schon die Reise in einen anderen
       Landkreis, geschweige denn Bundesland war verboten oder musste beantragt
       werden. Auch das Gutscheinsystem ändert sich. Erhielten
       Asylbewerber*innen und Geduldete ihre Sozialleistungen bis 2013
       meistens in Form von Sachleistungen und Gutscheinen, wechselten immer mehr
       Bundesländer zu Bargeld.
       
       Ergebnisse eines politischen Kampfes, die jetzt wieder zu Debatte stehen.
       „13 Jahre später reden wir über dieselben Sachen“, sagt Jennifer Camau von
       der Gruppe International Women’s Space, die sich während der
       O-Platz-Besetzung gründete und seitdem für die Rechte geflüchtete’ Frauen
       eintritt.
       
       „Das Gutscheinsystem ist als Bezahlkarte zurückgekommen, Migration wird
       wieder ausschließlich als Problem betrachtet“, sagt sie während der
       Pressekonferenz. „Wir beobachten einen ernstzunehmenden Backlash.“
       Dementsprechend ähneln die Forderungen von heute den Forderungen von
       damals: Das Camp protestiert für die Schließung aller Lager in Deutschland,
       einen sofortigen Abschiebestopp, die Abschaffung der Bezahlkarte, die
       Anerkennung der Klimakrise als Asylgrund und sogar weiterhin für die
       Abschaffung der Residenzpflicht.
       
       Langa, Camau, Byakuleka, sie alle sehen die Notwendigkeit, an die
       O-Platz-Bewegung von damals anzuknüpfen. Das Camp soll auch dazu dienen,
       eine jüngere Generation Geflüchteter zu mobilisieren und mit der Geschichte
       der Bewegung vertraut zu machen. „Wir brauchen neue Leute, meine Wut von
       damals ist nicht mehr dieselbe Wut, die ich heute habe“, sagt Camau.
       
       ## Von Aktionen wie dem Protestcamp abgeraten
       
       Doch in der ersten März-Woche ist von der neuen Generation noch nicht viel
       zu sehen. Kali vermutet, dass vielen Geflüchteten, die aktuell noch im
       Asylverfahren stecken oder einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben,
       schlicht die Zeit fehlt. „Leute sind so gestresst und erschöpft von den
       ganzen bürokratischen Aufgaben“, sagt sie. Ein Ziel des Camps sei es
       deshalb, neue Unterstützungsstrukturen zu etablieren, um Geflüchtete bei
       diesen behördlichen und juristischen Fragen zu entlasten.
       
       Dazu kommt die Angst, dass sich Aktivismus nachteilig auf die
       Aufenthaltschancen auswirken könnte. Kali erzählt von dem Gerücht, dass
       Asylbewerber*innen in den Unterkünften von Aktionen wie dem
       Protestcamp abgeraten würde. Für Kali hängt die Angst, wegen politischen
       Widerstandes abgelehnt oder abgeschoben zu werden, auch mit den
       Repressionen gegen Palästina-solidarische Demonstrationen und
       Meinungsäußerungen zusammen. „Wenn die CDU fordert, sogar die
       Staatsbürgerschaft bei Straffälligkeit zu entziehen und bei Demonstrationen
       super viele Menschen einfach so festgenommen werden, dann hat das eine ganz
       klare Botschaft: Wer nicht gehorcht, darf nicht deutsch sein.“
       
       Um trotzdem Menschen aus den Geflüchtetenunterkünften auf den Oranienplatz
       zu holen, fahren Teilnehmer*innen des Camps gezielt zu den Heimen,
       verteilen Flyer und laden nach Kreuzberg ein.
       
       Mittlerweile stehen einige Veranstaltungen auf dem Programm,
       Podiumsdiskussionen, Live-Musik, Lesekreise. Langa, Kali und ihre
       Mistreiter*innen haben Berliner Gruppen, die zur No-Border-Bewegung
       gehören, zu Vernetzungstreffen eingeladen. Und das Camp wird zur
       Anlaufstelle für alle möglichen Menschen, die in Kreuzberg unterwegs sind
       und Redebedarf haben. „Viele wollen einfach von ihren Problemen erzählt,
       man merkt direkt, wie Berlins Sparpolitik die Armut verschärft“, sagt Kali.
       Auch das ein Ziel das Campes: Es will ein Ort sein, um Kämpfe zu verbinden.
       Oder mit Langas Worten: „Hier fließen die Quellen zusammen, werden zu einem
       starken Strom und tragen diese Energie zurück zu ihrem Ursprung.“
       
       12 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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