# taz.de -- Nach der Flutkatastrophe in Spanien: Auferstehen aus dem Schlamm
       
       > Die Stadt Paiporta gilt als „Ground Zero“ der Überschwemmungen im Oktober
       > 2024 im Spanien. Drei Monate später sind die Aufräumarbeiten in vollem
       > Gang.
       
 (IMG) Bild: Ratlosigkeit in Paiporta, Ecke Carrer Antonio Machado und Carrer Convent, eine Woche nach der Flut
       
       Paiporta taz | Alles hinschmeißen? Das kam mir nie in den Sinn“, sagt
       Carmen Rausell mit fester Stimme. [1][Am 29. Oktober verwandelte sich der
       Fluss Barranco del Poyo] mitten in Paiporta binnen Minuten in einen
       reißenden Strom, trat über das Ufer und überschwemmte den gesamten 28.000
       Einwohner zählenden Ort wenige Kilometer südlich der spanischen
       Mittelmeerstadt Valencia. Mittendrin die Apotheke Farmacia del Mercat von
       Carmen Rausell.
       
       Als die 60-jährige Frau zwei Tage nach der Katastrophe wieder ihr Geschäft
       aufsuchte, erwartete sie ein Bild der Zerstörung. Knapp ein halber Meter
       Schlamm bedeckte die Räume der erst vor vier Jahren eingeweihten „Apotheke
       am Markt“. Das Wasser war zeitweise auf deutlich über zwei Meter
       angestiegen, so zeigt es bis heute eine Linie an den Wänden. Regale,
       Medikamtenschränke, Waren – einfach alles wurde zerstört. Selbst Wände und
       Schaufenster hatten dem Druck der Fluten nicht standgehalten.
       
       ## Das Wasser stand einen halben Meter hoch
       
       Rausell hatte am Tag der verheerenden Dana, wie in Spanien isolierte
       Tiefdruckgebiete mit Starkregen genannt werden, sich freigenommen. „Mein
       Mann hatte Geburtstag. Ich war mitten in den Vorbereitungen für den Abend,
       als das Telefon klingelte“, berichtet sie mit gedrückter Stimme. Am Apparat
       war eine Angestellte, die sich zusammen mit zwei weiteren Personen in der
       Apotheke befand. Wasser dringe langsam ein, die Straße sei bereits
       überschwemmt. Rausell wies sie an, zu schließen. Es war gegen 18.15 Uhr.
       Wenig später ein erneuter Anruf. Das Wasser stand bereits einen halben
       Meter hoch.
       
       Live am Handy wurde Rausell Zeugin eines Dramas. Die drei retteten sich
       durch ein Fenster in den kleinen Lichthof im Inneren des Gebäude. Dort war
       kein Wasser. Bis plötzlich die Wand des Gebäudes nachgab und binnen weniger
       Sekunden die Fluten auch dort auf Brusthöhe anstiegen. Die drei klettern
       auf Fenstersimse, das Wasser stieg und stieg. „Eine ausweglose Situation,
       denn der Innenhof ist nach oben mit einem Gitter versehen, als
       Einbruchschutz“, sagt Rausell.
       
       Ihr ist selbst jetzt, Monate später, noch immer die Panik anzumerken, die
       sie hilflos am Handy durchlebte. Zum Glück hatten zwei Nachbarn in den
       oberen Stockwerken Metallsägen und lösten zwei Stäbe aus dem Gitter.
       Rausells Mitarbeiter konnten endlich nach oben entkommen.
       
       Während Rausell am Telefon hing, versuchten ihr Mann und Sohn derweil, mit
       dem Auto von ihrem Wohnort 15 Kilometer nördlich zur Apotheke zu kommen.
       Doch dann wurden auch sie von den Fluten überrascht und konnten sich nur
       knapp retten. Das Auto blieb in den Fluten zurück.
       
       Das Wasser hatte alle überrascht. Denn in Paiporta und den meisten anderen
       betroffenen Gemeinden hatte es an jenem Tag nicht einmal geregnet. Und
       Warnungen seitens der Regionalbehörden, die für Katastrophenschutz
       zuständig sind, dass eine riesige Flut auf sie zukam, gab es erst, als
       längst alles unter Wasser stand und viele um ihr Leben kämpften. 46
       Menschen starben alleine in Paiporta. 224 waren es im gesamten
       Überschwemmungsgebiet.
       
       ## Alle 450 Geschäfte wurden zerstört
       
       „Zone Cero“ – „Ground Zero“ – wird Paiporta seit jenem Tag genannt. Alle
       450 Geschäfte wurden wie die Apotheke zerstört. Den Schaden für die
       Renovierung ihres Ladens schätzt Rausell auf mindestens 200.000 Euro. Von
       der Regionalregierung Valencia sowie aus Madrid hat sie 15.000 Euro
       Soforthilfe erhalten. Wie viel ihr die Versicherung zahlen wird, weiß sie
       noch nicht.
       
       Mittlerweile bedient Rausell wieder ihre Kunden. Neben dem eigentlichen
       Ladenraum, der noch renoviert wird, hat sie ein kleines Lokal für den
       Kundenverkehr geöffnet – ihr früheres Büro. Rezeptfreie Schlaftabletten und
       Beruhigungsmittel, aber auch verschreibungspflichtige Psychopharmaka werden
       seit jenem Katastrophentag am meisten nachgefragt.
       
       Zwischen Kunde und Kundin klärt Rausell mit zwei Schlossern die Details für
       die neue Eingangstür. Wann sie es brauche? „Am besten gestern“, antwortet
       sie und bekommt die Zusage, als Opfer der Überschwemmung ganz oben auf der
       Liste der Kunden zu stehen. Doch sie weiß, dass sie nicht die Einzige ist,
       der dies versprochen wird. Denn kein einziges Gebäude in Paiporta blieb
       verschont. Überall wird gearbeitet. 110 der 450 Geschäfte sind wie die
       Apotheke wieder in Betrieb, wenn auch nur provisorisch.
       
       ## Ein Foto dieser Straßenecke ging um die Welt
       
       „Mindestens die Hälfte der Geschäfte wird wohl nicht wieder öffnen“,
       befürchtet Ignacio Herraiz. Der 78 Jahre alte pensionierte Schreiner geht
       Tag für Tag die gleiche Strecke durch Paiporta und beobachtet den
       Fortschritt der Arbeiten. Er wohnt unweit der Ecke Carrer Antonio Machado
       und Carrer Convent. Ein Foto dieser Straßenecke ging eine Woche nach der
       Überschwemmung durch die Welt: Schlamm, zerstörte Möbel und kaputte Autos
       sind darauf zu sehen. Drei Männer mit Gummistiefeln und Besen blicken
       ratlos umher.
       
       „Gleich hier ging eine Fußgängerbrücke über den Barranco. Sie wurde von den
       Fluten weggerissen“, sagt Herraiz und zeigt auf eine Absperrung, hinter der
       das Ufer weggerutscht ist. Der riesige Barranco – um die 10 Meter tief und
       über 50 Meter breit – ist mittlerweile wieder leer. Ein Bagger steht unten,
       um das Flussbett zu säubern. Die Straßenbrücken sind wieder offen, auch
       wenn die Randbefestigung durch mobile Elemente ersetzt werden musste.
       
       Herraiz wohnt im ersten Obergeschoss. Er schaute mit an, wie „das Wasser
       Autos mitnahm, als wäre die Straße eine Kegelbahn“. In seinem Haus stieg
       das Wasser auf über eineinhalb Meter. Er saß im Trockenen. Aber: „Wir waren
       tagelang eingeschlossen, der Aufzug ging nicht, die Straße war völlig
       blockiert. Die Eingangstür war versperrt“, erinnert er sich.
       
       Seither hat sich viel getan. Die Straßen sind sauber, die kaputten Autos
       und der Müll stapeln sich außerhalb der Kleinstadt auf riesigen
       Brachflächen. Der Geruch nach Schlamm ist in den Straßen von Paiporta noch
       immer allgegenwärtig.
       
       Ob es schnell genug vorangeht? Herraiz hat darauf keine Antwort. Nur bei
       einem ist er sich sicher: „Nichts wird mehr sein, wie es war.“ Starke
       Regenfälle habe es immer wieder gegeben, aber so stark, dass der Barranco
       so hoch über die Ufer tritt, das sei neu. „Das wird wohl jetzt immer öfter
       geschehen“, ist sich der alte Mann sicher. „Wir haben den Planeten
       zerstört“, fügt er hinzu. „Die kommenden Generationen werden es alles
       andere als leicht haben. Klimawandel, schlechte Arbeitsverhältnisse,
       Wohnungsnot …“
       
       ## Blabla und wenig Taten
       
       Dann beginnt er zu machen, was alle im Ort ständig tun: schimpfen auf die
       Politik. „Viel Blabla und wenig Taten“, wiederholt er einen Satz, der
       überall zu hören ist. „Ich hoffe, dass die Hilfsgelder dieses Mal wirklich
       ankommen“, sagt er und zitiert als Negativbeispiele das Erdbeben im
       südspanischen Lorca 2011 und die Überschwemmungen rund um Valencia 1957.
       Wer im Überschwemmungsgebiet leben muss, dem geht es eben nie schnell
       genug, auch wenn dieses Mal die Hilfen an viele, wie an Rausell, bereits
       ausgezahlt wurden.
       
       Direkt gegenüber, dort wo die Fußgängerbrücke hinführte, stehen Menschen
       Schlange. Sie wollen ins Rathaus, das wieder notdürftig für den
       Publikumsverkehr hergerichtet wurde. Dieser Tage gibt es Hilfen für
       verlorene Fahrzeuge. 2.000 Euro pro Pkw, 250 für ein Motorrad, 200 fürs
       Moped.
       
       Auch hier schimpfen sie auf die Politik. „Alle sind gleich“, urteilt ein
       Mann auf die Frage, wer es schlechter gemacht habe, die konservative
       Regionalregierung oder die linke Zentralregierung in Madrid. Dass Madrid
       über 16 Milliarden Euro Hilfe und die Regionalregierung nur rund 800
       Millionen zur Verfügung stellt, dass die einen die Armee schickten,
       während die anderen nicht einmal warnten, spielt für ihn keine Rolle. Auch
       die Zahl der Toten bezweifeln hier viele. „Die war viel höher als
       angegeben“, sind sie sich sicher, auch wenn auf Nachfrage keiner einen Fall
       eines Verschwunden kennt, der nicht auf der Opferliste steht.
       
       „Weder Mazón noch Sánchez können hierher kommen, ohne dass sie durch die
       Straßen gejagt werden“, sagt ein Mann. Tatsächlich waren
       [2][Regionalpräsident Carlos Mazón], Spaniens Ministerpräsident Pedro
       Sánchez und [3][König Felipe VI.] bei ihrem Besuch in der Stadt wenige Tage
       nach der Dana mit Schlamm beschmissen worden. Mehrere Menschen versuchten
       sogar, auf sie einzuschlagen. Sánchez wurde von seinen Leibwächtern
       weggeführt, der König hielt aus.
       
       Auch Bürgermeisterin Maribel Albalat verließ an jenem Tag fluchtartig den
       Ort. „Anders als der König habe ich keine Leibwächter“, sagt die 47-jährige
       Sozialdemokratin, die seit 2021 der Gemeinde vorsteht, der taz. „Wir in der
       Ersten Welt sind es gewohnt, dass alles funktioniert: Wasser, Strom, Handy.
       Plötzlich war das nicht mehr so. Das führte zu einem Gefühl, allein
       gelassen zu sein“, versucht sie die Stimmung in der Bevölkerung zu
       erklären.
       
       ## Der Plan von 2007 wurde nie umgesetzt
       
       „Mir gefällt es ganz und gar nicht, dass solche Notlagen benutzt werden, um
       Politik zu machen. Das ist nicht moralisch“, fügt sie hinzu. Deshalb wolle
       sie weder die Regierung in Valencia noch die in Madrid beschuldigen, für
       die Misere verantwortlich zu sein. „Da mache ich nicht mit. Ich will, dass
       sie ihre Arbeit tun und ihre Streitigkeiten beiseitelassen“, sagt sie und
       meint damit unter anderem einen Plan von 2007, der nie umgesetzt wurde.
       
       Dieser sah die Umleitung eines Teiles der Zuflüsse des Barranco del Poyo in
       den Fluss Turia vor, damit in Paiporta nicht so viel Wasser ankommt. „Ich
       weiß nicht, ob das die Lösung gewesen wäre. Aber wir müssen nach Maßnahmen
       flussaufwärts, und auch auf Gemeindeebene, suchen, damit dies nicht wieder
       passiert. Und wir brauchen ein besseres Warnsystem. Wären wir gewarnt
       worden, hätte es weniger Tote gegeben“, sagt Albalat.
       
       Sie als Bürgermeisterin bekam gegen Mittag einen Hinweis, dass der Fluss
       steigen würde. Dass er über das Ufer treten würde, davon war nicht die
       Rede. Um 18.15 Uhr drang dann das Wasser in ihr Haus 150 Meter vom Ufer
       entfernt ein. Da führte der Fluss zehnmal so viel Wasser wie mittags
       angekündigt. Die Tragödie nahm ihren Lauf.
       
       Paiporta befinde sich „nach wie vor in einer schwierigen Lage“. Zwar gibt
       es wieder Strom und Wasser, das Rathaus und das Gesundheitszentrum sind
       geöffnet. Aber von acht Schulen funktionieren nur sechs, die Kinder von
       zwei anderen sind in Nachbarorten untergebracht. Der Markt ist nur zu 80
       Prozent in Betrieb. Das Dorfmuseum hat all seine Exponate verloren, die
       Bibliothek einen Teil der Bestände.
       
       Das Abwassersystem funktioniert nur zu 80 Prozent. Die Straßenbeleuchtung
       ist nur provisorisch wiederhergestellt. Überall wurden in aller Eile Kabel
       gespannt, Generatoren oder Batterien angeschlossen. Die Schäden nur an
       öffentlicher Infrastruktur – ohne Brücken und Straßen – beträgt über 115
       Millionen Euro. „Es ist noch sehr viel zu tun“, sagt Albalat. „Bis alles
       wieder ist, wie es war, werden wohl Jahre vergehen.“
       
       ## 800 Soldaten in Paiporta
       
       Während [4][die Freiwilligen] wieder weg sind, arbeiten noch immer rund 800
       Soldaten in Paiporta. „Als ich hier ankam, erinnerte mich alles an meine
       internationalen Kriseneinsätze“, sagt Hauptfeldwebel Sergio Darias. „Es
       gibt noch immer Trümmer, die weggeräumt werden müssen, um die Gegend
       endgültig zu sanieren, die Infrastrukturen zu reparieren und so etwas wie
       Alltag möglich zu machen“, erklärt der 46-jährige Darias, der im normalen
       Militärleben Fluglotse auf einem Luftwaffenstützpunkt bei Madrid ist und
       sich wie die anderen freiwillig zum Einsatz im Katastrophengebiet gemeldet
       hat.
       
       Auf die angespannte Stimmung im Ort angesprochen, schüttelt er den Kopf.
       Das interessiere ihn nicht. „Uns empfangen sie mit offenen Armen. Ich
       erlebe hier vor allem die Fähigkeit der Menschen, nach vorn zu schauen und
       wieder aufzustehen“, sagt er.
       
       Doch viele wollen nicht nur nach vorn schauen, sondern aufarbeiten, was
       war, so etwa Christian Lesaëc. „Wir müssen untersuchen, wer und was am 29.
       Oktober versagte“, erklärt der 55-jährige Französischlehrer. Er steht der
       „Vereinigung der Opfer der Dana“ vor und wohnt mit Frau und zwei Kindern in
       einem Reihenhaus im Nachbarort Alfafar. Hier stieg das Wasser auf Kopfhöhe.
       
       „Kein Strom, kein Handy, kein Internet, das Auto kaputt, die Siedlung war
       zwei Tage lang völlig von der Außenwelt abgeschnitten, bis die ersten
       Freiwilligen kamen“, beschreibt Lesaëc die Verletzlichkeit modernen Lebens.
       „Wir wussten nicht einmal, ob wir die Einzigen waren oder ob es mehr Dörfer
       betraf“, fügt er hinzu. Nach einem Transistorradio mit Batterien gefragt,
       schüttelt er nur den Kopf. „Altmodisch, alle hören Radio übers Internet.“
       Jetzt will er sich einen kleinen Apparat zulegen – „für alle Fälle“.
       
       „Wir wurden vom Wasser überrascht, als wir vom Einkaufen zurückkamen.
       Niemand hatte uns gewarnt, und anschließend kam niemand, um uns zu helfen“,
       beschwert sich Lesaëc, der zusammen mit einem Anwaltsteam prüft, ob sie
       Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die Verwaltung der
       Regionalregierung und eventuell auch gegen die in Madrid stellen können.
       
       Apothekerin Rausell will von Protesten nichts wissen. „Wir müssen unsere
       Probleme lösen, die politischen Streite helfen dabei nicht“, meint sie.
       „Manchmal bin ich einfach nur noch müde“, sagt die Frau dann. Warum sie
       dennoch durchhält? „Mein Sohn ist auch Apotheker. Ich mache es für die
       nächste Generation“, antwortet sie. „Wir müssen mit den neuen Bedrohungen
       leben und uns anpassen“, sagt Rausell. „Deshalb werden wir unter anderem
       das Gitter im Innenhof durch eine Klappe ersetzen, damit eine Flucht nach
       oben jederzeit möglich ist.“
       
       Drei Monate nach der Dana will Rausell die einstigen Geschäftsräume wieder
       beziehen, auch wenn es nur einen Rollladen und keine Tür und Schaufenster
       gibt. „Ich brauche den großen Raum, egal wie kalt es ist“, sagt Rausell und
       wendet sich wieder ihren Kunden zu.
       
       29 Jan 2025
       
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